KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

Kathleen Walsh öffnete die Tür und trat zurück, um sie in die Vorderstube des Hauses einzulassen. Die widerstreitenden Gefühle, die sich in ihren Zügen spiegelten, waren bemerkenswert und, wie Brooke dachte, Beleg für eine außergewöhnliche Ehrlichkeit. Die Flammen eines Kaminfeuers erfüllten ihre dunkle Schönheit mit Leben und verliehen ihrem Haar einen Glanz, der mit dem des Kessels auf dem Herd wetteiferte.

Edison, nach der langen Fahrt halb erfroren, erlag der Verlockung des Feuers und baute sich vierschrötig vor dem flackernden Flammenschein auf.

»Ist Mister Walsh zu Hause?«, erkundigte sich Brooke, dem das metallische Ticken der Kaminuhr sonderbar bewusst war. Erst später, rückblickend, würde er sich der Sekunden entsinnen, deren Vergehen das Geräusch kennzeichnete.

»Er ist in der Kirche, Inspector. Zum Gebet – eine Gewohnheit. Er wird noch ein Weilchen fortbleiben. Er schließt hinter Pater Ward ab.«

»Er hat Schlüssel zu St. Alban’s?«

»Ja«, sagte sie so hastig und leichthin, dass Brooke beinahe sicher war, sie war arglos in all das hineingeraten, was sie in London herausgefunden hatten: bar jeder Kenntnis, dass ihr Gatte nicht ihr Gatte war und das Kind, das unterwegs war, einen Halbbruder gehabt hätte.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir warten?«, fragte Brooke.

»Gar nicht. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Auf der Armlehne eines der tiefen, ramponierten Sessel lag ein Nest aus Strickzeug; ein Babyschal in Weiß und beinahe fertig. Brooke setzte sich und legte einen Wollfaden zur Seite, als er in die Kissen sank. Ihm war allzu bewusst, dass er die Macht besaß, die ganze Welt dieser Frau mit einem einzigen Satz zu zerstören, all ihre grundlegenden Gewissheiten auszulöschen und gegen Ungewissheiten auszutauschen. Ein gefallenes Mädchen mit einem Kind, das sein Zuhause würde verlassen müssen. Alles, was es dazu brauchte, war, ihr die Wahrheit zu erzählen.

»Wie geht es Ihrem Mann?«, erkundigte sich Brooke.

Die Frage schien sie zu verdutzen. »Liam trägt die Last anderer Menschen ebenso tapfer wie seine eigene. Er sorgt sich um das Kind, das wir erwarten. Und dann ist da dieser arme Junge, der von uns genommen worden ist. Das empfindet er als persönliches Versagen, obwohl es doch eine böse Tat war. Aber so fühlt er sich: schuldig. Und diese Männer, die Bombenleger? Er sympathisiert mit ihren Idealen, aber nicht mit der Gewalt.« Sie lachte. »Er sympathisiert, glaube ich, mit allen Idealen – was recht selbstlos ist, nicht wahr? Er ist ein selbstloser Mann. Und schließlich muss er die Schule leiten und die ganzen Evakuierten unterbringen. Das ist eine Last, aber eine, die er selbst gewählt hat, wie er nicht müde wird, mich zu erinnern. Er war Oberlehrer; niemand hat ihn gezwungen, sich um die Stellung des Schulleiters zu bemühen, auch wenn alle wussten, er wäre wunderbar auf diesem Posten. Und das ist er auch – auf eine stille Art. Darum hilft ihm das Abendgebet. Und ich bekomme so auch einen Moment für mich allein.« Sie lächelte wieder und räumte das Strickzeug in einen Korb.

Brooke sah zur Uhr; zehn nach acht.

Edison griff den Faden auf und erkundigte sich, in welchem Ausmaß die Diözese und vor allem der Bischof sich in die Leitung der Schule einmischten.

Brooke musterte das Ziffernblatt der Uhr: silberweiß mit römischen Ziffern, versehen mit dem Namen des Herstellers und dem schnörkeligen Signet Riley & Sons, Galway City.

Wenn er als Kind die Stunden zwischen Schulschluss und dem Abendessen zu Hause hatte ausfüllen müssen, war er oft durch die Stadt gestreift und hatte sich die Uhren angesehen. Er hatte sie wie in Trance fixiert und gehofft, er würde einmal wirklich sehen können, wie der Minutenzeiger sich bewegte. Die silbernen Zifferblätter an dem achteckigen Turm der Foster’s Bank hatten es ihm besonders angetan. Sein Vater hatte ihn einmal draußen warten lassen, während er drinnen, unter den glasierten Fliesen der atemberaubenden Kuppel, Geschäftliches zu erledigen hatte. Brooke hatte sich die Zeit auf dem gegenüberliegenden Kirchhof vertrieben und versucht, das plötzliche Voranstottern der Zeiger zu erfassen. Daraus war eine lebenslange Gewohnheit entstanden. Foster’s Uhr, eine perfekt eingestellte Maschine, hatte gewonnen. Die Zeiger waren unbemerkt zum Viertelstundenschlag vorangekrochen.

Im Gegensatz dazu ruckelte die Galway-Uhr, so sehr, dass die Minuten regelrecht vorbeizuhüpfen schienen.

Brooke stellte die üblichen biographischen Fragen. Sie hatte sich vor zwei Jahren auf eine Annonce im Catholic Herald hin als Nachwuchslehrerin in St. Alban’s beworben und das Zuhause ihrer Familie in Connemara für eine dreitägige Reise verlassen. Die Fähre, mitten in der Irischen See von einem Sturm erwischt, musste zwölf Stunden im Windschatten der Isle of Man warten.

»Fegefeuer«, sagte sie und lächelte in Anbetracht der Erinnerung. »Wir werden diesen Sommer zu Besuch nach Hause reisen.« Brooke stellte sich stürmische Böen hoch oben auf einer Klippe vor, das sonderbar durchdringende Licht vom Atlantik und eine gewundene Straße.

Liam Walsh hatte bei ihrem Eintreffen bereits zum Personal gehört. Ein Jahr später übernahm er die Stelle des vorherigen Schulleiters, eines gealterten Priesters. Am selben Tag machte er ihr einen Heiratsantrag. Seine erste Frau war an einem Magentumor gestorben. Kinder gab es nicht. Er war ihr vorgekommen wie ein problembeladener Mann, aber freundlich und großherzig. An einem heißen Junitag hatten sie in St. Alban’s geheiratet, die Kinder hatten begeisterten Chorgesang beigetragen, und Pater Ward – selbst ein Neuankömmling – war der Zelebrant gewesen.

»Wir haben auf dem Spielplatz ein Hochzeitsfrühstück ausgerichtet«, erzählte sie und reichte Brooke ein Foto, das eine einzelne Reihe von Tischen auf Böcken zeigte, vor denen etliche Erwachsene standen. Aitken war gleich hinter dem Pater zu sehen, Liam Walsh hatte den Arm um die schmale Taille seiner Braut gelegt. Sogar bei Sonnenschein schien der Spielplatz von Schatten eingehegt, die tintenschwarz am Fuß der Kirche kauerten.

Die alte Uhr schritt voran und zeigte fünf vor halb neun an. Mrs Walsh hatte ihrerseits angefangen, Fragen zu stellen: über den verschwundenen Hausmeister und die Jagd nach dem Mörder des kleinen Sean. Edison lieferte ihr eintönige Antworten. Brooke hatte den Eindruck, dass sie sehr schnell aufhörte, ihm zuzuhören.

Schließlich erhob sie sich, um Koks ins Feuer zu schütten.

Die Uhr tickte. Brookes Geduld war am Ende. »Bleiben Sie am Feuer«, wies er die beiden an. »Ich bin in einer Minute zurück.«

Es war wie ein Schock, in die eisige Luft draußen zu treten. Seine Schritte hallten durch die Straße, als er wieder zum Spielplatz mit seinen drei düsteren Ziegelwächtern hinaufstieg: Kirche, Schule und Presbyterium.

Als er die Kirchentür öffnete, hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um und sah Mrs Walsh in einen Mantel gewickelt mit Edison im Schlepptau herbeieilen.

Brooke wartete in der Vorhalle, bis Edison außer Atem aufgeschlossen hatte. »Mrs Walsh sagt, sie sei besorgt wegen ihres Gatten, besorgter als sie uns gegenüber hat zugeben wollen.«

»Was ist los?«, fragte sie.

Brooke stieß die Tür auf und trat ein. Die Szenerie offenbarte sich augenblicklich. Eine Reihe Kerzen, die nun heftig in dem plötzlichen Luftzug flackerten, beleuchtete das Kirchenschiff. Ihr Licht fing sich in einer vergoldeten Statue auf dem Altar auf der anderen Seite. Aber gleich vor ihnen, nur eine Silhouette vor dem Kerzenschein, hing ein Mann, dem Anschein nach an einem um den Hals gewickelten Gürtel, der an einer Lampe an einem der gemauerten Pfeiler befestigt war. Ein Stuhl war zur Seite getreten worden und umgekippt.

»Mein Gott«, sagte Edison.

»Liam?«, hauchte Mrs Walsh mit einer Betonung, in der vage der Geist einer Frage anklang.

Kein Schrei.

Brooke lief zu dem Mann, und seine Metall-Blakeys schlugen hart auf dem Steinboden auf. Er stellte den Stuhl wieder hin und rief über die Schulter: »Bringen Sie mir ein Messer.«

In dem Moment rannte Mrs Walsh davon. Edison zerrte einen Tisch herbei, der zum Auslegen der Gesangsbücher diente, und stieg hinauf. Gemeinsam mühten sie sich redlich, den verknoteten Gürtel zu lösen und mit ihm einen schweren Schlüsselbund, der sich in der Schnalle verhakt hatte. Endlich befreit fiel ihnen der Mann in die Arme.

Mrs Walsh kehrte zu spät mit dem Messer zurück. Pater Ward folgte ihr, und in seinem Schatten kam Mrs Aitken in einem Nachthemd hinterher. Als sie die reglose Gestalt auf dem Steinboden sah, schrie sie auf und rief Gott an, klammerte sich an den Pater und barg ihr Gesicht an seiner Brust.