KAPITEL VIERZIG

Liam Walsh lebte noch, aber dieses ungewollte Leben hing am seidenen Faden. Brooke fuhr im Ambulanzwagen mit, zusammen mit einer jungen Krankenschwester, die Walshs Hand hielt und ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen und einfach schlafen, als fühlte sie, dass seine scheinbare Bewusstlosigkeit eine Maske war, ein Schutz vor Fragen. Auf der anderen Seite des Patienten saß seine Frau, die sich dann und wann vorbeugte, um schütteres rotes Haar von seiner Stirn zu streichen. Die Schwester hatte den Kragen seines Hemds aufgeschnitten, sodass der Hals bloßlag und man den lebhaften blau-roten Schatten der Schlinge sehen konnte.

Der alte Ambulanzwagen kroch die vereisten Straßen hinunter, alle vier Räder gerieten ins Rutschen, als sie um die Ecke zur Trinity Street bogen. Auf der King’s Parade wich eine Gruppe Studenten zur Seite, um den Wagen vorbeirumpeln zu lassen. Walshs Lider zuckten. Brooke glaubte zu sehen, dass Farbe in sein Gesicht zurückkehrte, und dann, im letzten Moment, als der Fahrer gerade auf den Vorhof des Addenbrooke’s fuhr, schlug der Schulleiter die Augen auf.

»Schlaf, Liam«, sagte seine Frau und beugte sich dicht zu ihm. Er sah sie an, doch er schien sie nicht zu erkennen.

Eine Stunde lang saßen sie am Bett, bis ein Constable aus dem Spinning House eintraf, den Edison, der als verantwortlicher Polizist in St. Alban’s geblieben war, geschickt hatte. Auf dem Korridor vor dem Zimmer ihres Gatten bat Brooke Kathleen Walsh, Platz zu nehmen. Dann erzählte er ihr, was sie in London erfahren hatten. Sie hatte ein Recht, das zu erfahren, war es doch die Wahrheit und eine mögliche Erklärung dafür, warum ihr Mann versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Die Tatsache, dass der Mann, den sie liebte, dem Tode so nahegekommen war, schien die Neuigkeiten in einen brutal kalten Blickwinkel zu rücken. Ihre Reaktion wirkte gleichmütig, doch sie dankte Brooke aufrichtig, ehe sie zurückging, um am Krankenbett ihres Mannes zu wachen. Hatte er gar einen Ausdruck der Erleichterung in ihren Augen gesehen? Was, überlegte Brooke, hatte sie sich wohl ausgemalt?

Im Sunshine Ward waren die Vorhänge um ein Bett zugezogen, gedämpfte Stimmen debattierten, und Brooke hörte Claires geduldigen, ruhigen Ton heraus. Also zog er sich zurück, stolperte die Stufen hinunter und rannte beinahe direkt in Joy hinein, deren Uniform mit Blut bespritzt war. Sie sah nervös aus und dann schuldbewusst. »Tut mir leid«, sagte sie. »Es ist die Verdunkelung. Wieder ein Unfall – den Fahrer hat es übel erwischt. Ich werde eine Doppelschicht machen und meinen Teil dazu beitragen, die ganze Arbeit zu schaffen. Wir bringen mehr Leute auf unseren Straßen um, als wir vor den Bomben retten. Du siehst furchtbar aus, Dad. Geh nach Hause.«

Er legte ihr eine Hand in den Nacken und drückte ihre Wange an seine. Und dann war sie auch schon wieder fort.

Wieder draußen im Schnee angelangt, der in chaotischen Böen umherwirbelte, war sein Zuhause der letzte Ort, an den Brooke sich gewünscht hätte. Das große Haus mit den zugigen Räumen wurde heimgesucht von den Leuten, die nicht dort waren. Er dachte, er könnte schlafen, wenn er ein warmes Plätzchen fände, also machte er sich auf zu Frank Edwardes Haus. Auf dem Weg in Richtung Norden hielt er vor dem Scott Polar Research Institute inne, um die Statue des großen Forschers zu betrachten. Selten hatte sie so überzeugend gewirkt: Schneewehen kletterten an der eleganten Fassade des Gebäudes empor, Eiszapfen hingen an der Harpune auf ihrem Sockel aus Beton. Haar und Mütze auf Scotts Kopf waren vereist, und er blickte mit einem Ausdruck aggressiver Zielstrebigkeit in die Ferne, die sein reales Gesicht nie hervorgebracht hatte. Brooke hatte den Eindruck, dass er einer dieser Menschen gewesen war, deren Persönlichkeit veränderlich, ja sogar instabil zu sein schien. Was ihn an Walsh erinnerte: Was war dessen wahre Natur?

Fenner’s, der Cricketplatz, sah aus wie ein Blatt Papier. Das Nachtlicht im oberen Fenster des Hauses am Ende der Straße brannte. Die Tür war unverschlossen, und Brooke trat ein und trottete die Treppe hinauf in die dritte Etage, wo er Edwardes wach antraf. Der Mann las ein Buch mit Hilfe einer Lupe, und seine Sammlung an Funkgeräten brummte leise vor sich hin.

Brooke nahm sich einen Stuhl und berichtete seinem ehemaligen Chief Inspector, was er Kathleen Walsh erzählt hatte; eine Geschichte, die ein überzeugendes Mordmotiv lieferte, auch wenn der sanftmütige Schulleiter sich wenig für die Rolle des Monsters zu eignen schien. Walshs Motiv, Selbstmord zu begehen, war noch klarer. Am Vorabend, während des Dreikönigsspiels, hatte Brooke Walsh erzählt, dass die Mutter des Jungen herkäme, um seinen Leichnam zu identifizieren und die Schule zu besuchen. Walsh musste die sichere Enttarnung gefürchtet haben.

»Und dann ist da noch der Geistliche, Pater Ward. Irgendetwas stimmt da nicht. Aitken, die Haushälterin, ist ihm emotional sehr nahe, sofern nicht mehr dahintersteckt. Sie ist immer greifbar. Ich urteile nicht, Frank, aber ich bin ziemlich sicher, die haben etwas zu verbergen.« Brooke sank tiefer in den Lehnsessel.

»Irgendeine Spur von dem Hausmeister?«, fragte Edwardes.

»Nein. Und das ist nicht das Einzige, was fehlt. Hendries Laster ist immer noch verschwunden. Es muss irgendwo ganz in der Nähe eine Garage geben, und möglicherweise ist Smith dort untergetaucht. Sie könnte nebenbei außerdem als Bombenwerkstatt dienen. Keine sehr verlockende Aussicht: Sprengstoff, Transportmöglichkeiten, Motiv, Gelegenheit. Alles, was Smith braucht, ist ein geeignetes Ziel. Immer vorausgesetzt, er ist noch im Lande.«

Eines der Funkgeräte brachte ein Stakkato an Morsecode hervor, den Edwardes fachmännisch in das Notizbuch in seinem Schoß übertrug. Als er fertig war, las er die Botschaft noch einmal, schüttelte den Kopf und warf den Zettel weg. Es gab stets viel Funkverkehr, wie Edwardes das nannte – Signale, die zwischen den Amateurfunkern herumflogen sowie Fragmente militärischer Signale aus Frankreich und den Benelux-Ländern, aber bisher hatte er nicht den kleinsten Hinweis auf eine verräterische ausgehende Nachricht von einem der vielfach angekündigten Nazispione der gefürchteten fünften Kolonne auffangen können.

Edwardes nippte an einem Glas Milch. »An Erpressung haben Sie natürlich gedacht. Ein aalglattes Verbrechen.«

Brooke richtete sich auf. Unten konnte er Kat mit einem Kessel klappern hören.

»Sie haben Walsh und Ward – beide haben Geheimnisse, einer ist ein Bigamist, der andere ein Gemeindepfarrer, der unter dem Dach der Kirche ein Verhältnis zu einer Witwe unterhält. Beide sind angreifbar, beide in Reichweite, während Hendrie der Gemeinde angehört und Smith in seiner Hausmeisterunterkunft im Keller haust. Erpressung, Eden. Die Kennzeichen dafür sind alle da.« Er fummelte an der Schublade in seinem Nachttisch herum. »Öffnen Sie das Fenster, ja?«

Der alte Mann zündete sich eine Zigarette an. »Der Doc sagt, ich muss aufhören. Kat auch. Ich bezweifle, dass ich irgendjemandem etwas vormachen kann.« Er tippte die Asche auf dem Silberteller ab, den man ihm zu seiner Beförderung im Jahr 1931 im Spinning House übergeben hatte. »Ihr dringlichstes Problem ist Smith. Der Rest kann warten. Sie sagen, das Muster beinhaltet zwei Bomben, und bisher haben sie nur eine gelegt, ist das richtig?«

»Das ist zweifellos die übliche Vorgehensweise: zwei Explosionen, dann löst sich die Zelle auf. Also, ja, eine Bombe muss noch gelegt werden, und wir wissen, dass er die Ausrüstung hat, den Sprengstoff, denn wir können die Bombenwerkstatt nicht finden. Und er hat Mastix, den hat er möglicherweise von Hendrie bekommen. Das ist ein gebräuchliches Material auf Baustellen. Vielleicht wollte er ihn nicht herausrücken. Das nächste Ziel könnte womöglich ambitionierter sein. Wenn Smith Zugriff auf Hendries Laster hat, dann könnte er ihn einfach mit einem zeitgesteuerten Auslöser im Stadtzentrum stehen lassen.«

Edwardes umriss, was er tun würde: Jeglichen Urlaub streichen, Uniformierte bei Tag auf die Straßen bringen, sämtliche Garagen und Werkstätten in der Upper Town durchsuchen, sich durch die Lagerhäuser in der Nähe des Flusses am Fuß des Castle Hill arbeiten.

»Finden Sie diesen Laster, dann finden Sie auch die Bombe«, sagte er.

Brooke seufzte und schloss die Augen, doch Schlaf schien weit entfernt. »Das Problem ist, dass wir im Grunde nicht wissen, wonach wir suchen sollen, Frank. Hendrie hat jedem in St. Alban’s erzählt, dass er ein Fahrzeug besitzt, aber niemand hat es je gesehen. Eine Beschreibung würde uns diese Aufgabe erheblich erleichtern.«

»Einen Vorzug haben Sie dennoch«, wandte Edwardes ein. »Konfrontieren Sie Walsh, so schnell es geht – und den Pater auch, da wir schon dabei sind. Wenn Sie deren Geheimnisse kennen, sind es keine Geheimnisse mehr. Sollte es um Erpressung gehen, so ist das Ihre große Chance, denn dann hätten die nichts mehr zu verlieren.«