KAPITEL EINUNDVIERZIG

Wieder daheim befolgte Brooke Aldiss’ Schlafreglement: Er aß, was von einem Shepherd’s Pie im Ofen übrig und immer noch warm war, nahm ein Bad auf dem Dachboden und legte sich bei offenem Fenster in das dunkle Schlafzimmer. Der Fluss war noch immer unter Eis erstarrt, sodass weder vom Wehr noch von der Schleuse stromabwärts Geräusche herüberwehten. Das Letzte, was er hörte, war der Ruf einer Eule auf den Auen, und er stellte sich vor, wie sie zwischen den alten Gaslampen herabschoss, die den Weg für Schlittschuhläufer ausleuchteten. Aber jetzt waren dort draußen keine Schlittschuhläufer. Er hatte Joy wegen des vereinbarten Eislauf-Ausflugs enttäuscht, was er wieder gutmachen musste, sofern sie die Chance dazu bekamen. Er hörte die Uhr drei schlagen und schlief ein.

Beim Erwachen empfing ihn ein ganz besonderes Geräusch, das Klirren von Glas, hervorgebracht von den Kugeln und Tropfen in dem Reif aus Drahtgeflecht im Wohnzimmer, dem einzig noch erhaltenen Kronleuchter des Hauses. Draußen hatte ein Hund die Eule ersetzt, und zwei andere Hunde antworteten ihm irgendwo in der Stadt. Er schaltete das Licht an. Als er nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch griff, fielen ihm die konzentrischen Kreise auf, die die Wasseroberfläche kräuselten. Während er auf dem Bett saß, lag seine Hand auf dem weißen, verschlissenen Leinenlaken, wo sie groben Staub ertastete, der von der alten Zimmerdecke gefallen sein musste.

Als er aufstand und gerade ans offene Fenster treten wollte, hörte er etwas, das wie eine Explosion klang. Ein deutliches Karump kündete von sich faltendem Metall, direkt gefolgt von dem dumpfen Schlag der Schallwelle, der das alte Gebäude bis in die Grundmauern erschütterte. Außer ihm war niemand im Haus, also schlüpfte er einfach wieder in seine Kleidung und hastete die Treppe hinunter. In dem Milchglasfenster über der Tür hatte sich ein Riss gebildet, der über die ganze Höhe reichte.

Er verriegelte die Tür und fing an zu rennen. Es hatte geschneit, und es schneite noch, sodass er auf sicheren Halt achten musste. In der näheren Umgebung war keine Spur von Flammen oder Rauch zu sehen. Die Explosion musste sich ziemlich weit entfernt ereignet haben und enorm gewesen sein, wenn ihre Auswirkungen selbst noch an diesem entlegenen Abschnitt des Flusses so spürbar waren.

Als er Coe Fen überquerte, sah er ein Polizeifahrzeug in der Ferne, das auf der Straße nach Süden in Richtung Bahnhof fuhr. Was hatte Jo Ashmore gesagt, als er sie in ihrem Beobachtungsposten auf dem Dach besucht hatte? Wenn ich an deren Stelle wäre und es auf internationalen Budenzauber angelegt hätte, dann würde ich mir einen Munitionszug vornehmen.

Am Speaker’s Corner stand eine Gruppe von Leuten mitten auf der Kreuzung: drei Luftschutzhelfer, ein Constable und zwei Posten in Militäruniform aus dem Lager auf Parker’s Piece. Der Konsens lautete, dass es in dem Gebiet nördlich des Bahnhofs zu zwei Explosionen gekommen war. Dort befand sich ein Verschiebebahnhof. Brooke begleitete den Constable zu einer Polizeizelle und wies ihn an, das Revier anzurufen. Der diensthabende Sergeant im Spinning House konnte mit genaueren Informationen dienen: Der Offizier vom Dienst in Madingley Hall hatte durchgeklingelt und um Unterstützung beim Abbey Depot gebeten, einem Komplex aus Eisenbahnschuppen und Abstellgleisen in dem Marschland am nördlichen Stadtrand. Brooke kannte die Gegend gut; in den Jahren nach dem Großen Krieg hatten Diebe die Bahnanlagen beinahe jede Nacht heimgesucht und nach allem gestöbert, das sie verkaufen oder essen konnten. Am Ende hatten sie einen Constable abgestellt, der regelmäßig eine Runde über das Gelände drehte.

Zwar schneite es nach wie vor, aber der Wind hatte sich gelegt, also blieb Brooke stumm bei dem Constable in der Polizeizelle stehen und rauchte eine Zigarette, eine Gewohnheit, die er sich in der Wüste zugelegt hatte, wo er stets zur Zigarette gegriffen hatte, sobald eine wichtige Entscheidung zu treffen war. Manchmal war es um Leben und Tod gegangen: ob sie vorrücken oder sich zurückziehen sollten, lagern oder die Nacht durchmarschieren. Seine Männer hatten dann still gewartet, während er versucht hatte, sich für einen Moment von ihnen abzusondern, um seine Möglichkeiten unter Anwendung aller Logik, die er aufzubringen imstande war, durchzugehen. Er fand, dass er ihnen zumindest das schuldig war und sich nicht mit den üblichen halbgaren Befehlen begnügen durfte, die oftmals nicht auf militärischen Informationen beruhten, sondern auf dem überwältigenden Bedürfnis, Befehlsgewalt auszuüben und Peinlichkeiten aus dem Weg zu gehen.

»Wer weiß, was da wirklich passiert ist«, sagte er schließlich, und sein Atem kondensierte in Form einer weißen Wolke. »Ich gehe zum Schauplatz. Wenn ich eine ausreichend gute Vorstellung davon habe, was vorgefallen ist, rufe ich von einem Stellwerk aus im Spinning House an. Inzwischen gehen Sie zurück zum Revier und weisen den Diensthabenden an, das Krankenhaus zu alarmieren – die müssen sich bereithalten. Funkstreifenwagen sollen an den wichtigsten Straßen, die aus der Stadt hinausführen, Position beziehen. Alle Fahrzeuge müssen angehalten und durchsucht werden. Außerdem sollen sie beim Observer Corps anfragen – es gibt einen Posten bei Kew’s Mill am Bahnhof. Die könnten mehr wissen.« Er warf einen Blick zur Uhr. Beinahe fünf. »Alles verstanden?«

Der Constable nickte.

»Dann los«, sagte Brooke. »Aber nicht rennen!« Regel Nummer eins für Constables: Niemals rennen, wenn es nicht eindeutig darum ging, Leben zu retten. Der Anblick eines rennenden Polizisten lud schlicht zu Panik in der Bevölkerung ein.

Brooke unterlag in seiner Zivilkleidung keinen derartigen Beschränkungen. Er rannte hinüber zu der Eisenbahnbrücke nach Romsey Town und im Zickzack immer weiter nach Norden, bis sich vor ihm eine öde Allmende ausdehnte, hinter der in einiger Entfernung der Fluss lag. Die Zufahrtsstraße zum Verschiebebahnhof war mit einem eisernen Tor ausgestattet, doch das stand offen und ein gepanzerter Wagen parkte auf der anderen Straßenseite. Brooke zeigte seinen Dienstausweis vor. Der Fahrer des Militärfahrzeugs hatte die Explosionen gehört und seinen CO hergefahren. Brooke rannte weiter, vorbei an Eisenbahnschuppen und Kränen und zu einem Stellwerk, an dem er Licht sehen konnte.

Während er die Stufen hinaufstieg, schaute er sich auf dem Verschiebebahnhof um. Die Schienen funkelten, aber er sah keine Flammen, nur eine kleine, verwehte Rauchwolke. Das Schneefeld schien unberührt. In der Ferne konnte er die Hecklichter eines Güterwagens sehen und dahinter einen ganzen Zug, der sich in die Finsternis erstreckte.

In dem Stellwerk telefonierte ein Captain der Army, während der Stellwart einen Plan des Verschiebebahnhofs auf einem Kartentisch ausbreitete. Über sich hörten sie ein Flugzeug im Tiefflug vorbeisausen. Der Captain knallte den Hörer auf die Gabel, nickte kurz, als Brooke ihm seinen Dienstausweis vorlegte, und forderte alle auf, sich bereitzuhalten, ehe er die Innenbeleuchtung ausschaltete und sie in tiefe Finsternis stürzte.

»Geduld, Gentlemen, ich habe uns ein wenig himmlisches Licht bestellt«, sagte er, und sie sahen ein Streichholz aufflammen, als er sich eine Zigarette anzündete. »Vielleicht besser draußen«, fügte er hinzu und stieß eine Tür auf der anderen Seite auf, die hinaus zu einer Beobachtungsplattform oberhalb des Hauptgleises führte.

Eine Minute zog dahin, in deren Verlauf sie viele Geräusche vernahmen, die auf Aktivitäten im Licht von Taschenlampen hindeuteten, während sich Männer in Gruppen einen Weg über den unter ihnen liegenden Bahnhof suchten.

Der erste Suchscheinwerfer flammte mit einem tiefen Brummen auf.

Bald beleuchteten drei Scheinwerfer die Szenerie, jeder montiert auf der Ladefläche eines Armeelasters. Das Erste, was Brookes Blick anzog, war eine ramponierte Dampflok, zweihundert Tonnen Messing und Stahl, die keine fünfzig Yard vom Stellwerk entfernt auf der Seite lag; nicht auf dem Hauptgleis, sondern daneben. Dampf entwich aus geborstenen Rohren. Die Lok lag in einer runden Vertiefung, einer Drehscheibe, die dazu diente, die Lokomotiven zu wenden oder sie von einem Nord-Süd-Gleis auf ein Ost-West-Gleis umzuleiten. Die zentrale Drehbrücke, von der die Lokomotive gestürzt war, hing in Form eines verdrehten Stücks Stahl auf ihrem Ankerpunkt. Im Führerhaus der Lok winkte ein Mann mit einer Mütze. Zum ersten Mal sahen sie Flammen aufflackern, vermutlich aus ihrem eigenen Feuerkasten.

Ein Mann in einem gutgeschnittenen Mantel mit Pelzkragen gesellte sich zu ihnen und stellte sich dem Captain als Bezirksingenieur von GER, der Great Eastern Railway, vor.

»Jesus«, sagte er, während er den Schauplatz beäugte. »Die wussten, was sie wollten. Eine Bombe?«

»Ja«, entgegnete der Captain. »Direkt am Fuß der Drehachse angebracht. Musste gar nicht so groß sein, aber das Timing war perfekt. Die Lok stand auf der Brücke. Der zweite Knall kam von ihrem Aufschlag. Die Frage ist – müssen wir das in Ordnung bringen? Die zweite Frage lautet: Wenn wir müssen, wie lange wird das dauern?«

»Irgendwelche Opfer?«, fragte Brooke.

Der Captain schüttelte den Kopf.

Wieder zurück im Stellwerk benötigte der Ingenieur zehn Minuten, um die Fragen des Captains zu beantworten. Die Drehscheibe musste repariert werden. Cambridge hatte keine andere Möglichkeit, die Munitionszüge abzufertigen, um die Waffen zu den Häfen an der Ostküste zu transportierten. Es gab keine Verzweigung, die eine Richtungsumkehr in drei Zügen ermöglicht hätte, und auch keine Wendeschleife, die ein Zug majestätisch hätte umrunden können. Allerdings gab es zwanzig Meilen weiter nördlich in Ely eine. Die zu nutzen würde den Fahrplan jedoch um Stunden verzögern. Eine andere kurzfristige Lösung gab es nicht. Die Drehscheibe musste wiederhergestellt werden, und das könnte in drei Monaten zu schaffen sein.

Brooke hatte genug gehört.

»Sie sagen, der Zeitpunkt der Explosion war perfekt geplant. War dazu Sichtkontakt notwendig?«

Der Captain nickte und sah Brooke zum ersten Mal an. »Ja – ohne Sichtverbindung geht es nicht. Sie haben natürlich recht. Es sei denn, die hatten einfach nur Glück. Aber das sieht nicht nach Glück aus, nicht wahr? Es sieht aus, als hätte sich das ein kluger Kopf ausgedacht.«

Brooke hörte Hunde bellen. »Der Verschiebebahnhof wird durchsucht?«, erkundigte er sich.

»Ja. Sie haben Hunde dabei, um die Züge zu kontrollieren. Wer weiß, vielleicht nehmen die ja Witterung auf.«

Brooke folgte dem Gebell. Ein Pfad führte unterhalb des Hauptgleises durch einen feuchten Tunnel und hinaus in die dahinterliegenden Felder. Die Hunde waren vor ihm, eine Meute von einem halben Dutzend, deren Fell vor dem Hintergrund aus Schnee schimmerte, als sie ihre Hundeführer mit sich zerrten. Die Art, wie sie im Chor anschlugen, deutete an, dass sie tatsächlich einen Geruch aufgefangen hatten.

Der Boden stieg nach Norden hin zu einer Baumreihe an, in deren Windschatten eine kleine Kirche stand, die sein Vater immer als Leprakapelle bezeichnet hatte; ein normannisches Juwel, umgeben von einer Düne aus Schnee, die so hoch war, dass die Fassade beinahe bis zum Dach hinter ihr verschwand. Einst war sie eine Zuflucht für die Ausgestoßenen gewesen, und nun waren die Hunde einem anderen Außenseiter auf der Spur.

Brooke versuchte, im Schnee zu laufen, aber seine Stiefel rutschten nach links und rechts, weshalb er den holprigen Pfad, den die Männer hinterlassen hatten, genau im Auge behalten musste. Als er dann wieder aufblickte, stellte er erstaunt fest, dass sie schon wieder zurückkamen, angeführt von einem großen Mann in Eisenbahneruniform. Mit dem offenen Hemdkragen sah er aus, als würde er an einem Sommerabend einen Spaziergang mit seinen Hunden machen.

Brooke zeigte seinen Dienstausweis vor.

»Nichts zu sehen«, informierte ihn der Eisenbahner. »Die Schritte verlieren sich an der Straße. Dort gibt es Reifenspuren. Es hat wohl ein Fahrzeug gebraucht, um die Bombe nahe genug heranzuschaffen. Das war eine höllische Explosion. Selbst mit einem Wagen – ein Schwächling kann der Bombenleger nicht sein.«

Brooke dankte den Männern und ging weiter. Der Pfad führte zur Straße, die, von den Reifenspuren abgesehen, unter einer perfekten Schneedecke begraben lag. Aber dem Eisenbahner war ein wesentliches Detail entgangen. Die Geometrie der Spuren war zu komplex, um sie zu entschlüsseln, aber zwanzig Yard weiter oben an der Straße war das Muster klar. Es gab sechs Spuren, drei führten her, drei wieder weg, und es gab keine Überschneidungen, verursacht von Hinterrädern, die über die Spur der Vorderräder rollten. Die kurze Achse bestätigte Brookes Diagnose: ein dreirädriger Lastwagen. Nicht unverwechselbar, aber schwer zu verstecken.