KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

Brooke steuerte die Nil-Liege in seinem Büro an. Die Couch war als Ruhebett ausersehen, doch wenngleich er regelmäßig auf ihr zusammenbrach, wenn sein Körper ihn mit Schlaflosigkeit plagte, wurde er selten mit einem Schlummer belohnt. Wollte er sein Bewusstsein wirklich abschalten, so begab er sich in eine der Zellen im Untergeschoss, aber an diesem Abend ging es im ganzen Gebäude zu wie in einem Bienenkorb. Officers kamen und gingen. Der Chief Constable war unerhörterweise auch schon wieder in Erscheinung getreten und hatte einen Fotografen der Cambridge News im Schlepptau.

Brooke hatte etliche Militärfahrzeuge im Hof des Reviers stehen sehen. Folglich hatte er sich in den dritten Stock zurückgezogen, sich hinter den Fensterläden versteckt und die Füße hochgelegt. Derweil fanden in Carnegie-Browns Büro Diskussionen auf höchster Ebene statt. Aber bevor Brooke sich ins Getümmel werfen konnte, brauchte er etwas Ruhe, zehn Minuten, eine halbe Stunde; er würde nehmen, was immer er kriegen konnte. Und zur Abwechslung wurde ihm tatsächlich das Geschenk des Schlafs zuteil. Nach dem Lauf über schneebedeckte Felder zur Leprakapelle war er bis auf die Knochen durchgefroren, weshalb die plötzliche Wärme im Spinning House ihn fällte wie einen Baum.

Edison weckte ihn mit einer Tasse Tee. Durch die Schlitze im Rollo war die Morgendämmerung erkennbar.

Der Sergeant ließ theatralisch einen schweren Schlüsselbund auf Brookes Schreibtisch fallen, während er an seiner eigenen Tasse nippte.

»Walshs Schlüssel. Die, die wir von seinem Gürtel haben. Ich habe vergangene Nacht, als Sie zum Krankenhaus aufgebrochen sind, beschlossen, sie in Obhut zu nehmen. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber ich konnte sie Stück um Stück zuordnen: Schlüssel für die Kirche, die Schule, sein Haus. Womit dieser übrig ist.« Edison öffnete seine Hand, in der ein alter Eisenschlüssel mit einem derben Bart zum Vorschein kam. »Die Frau hat das Haus offengelassen, also habe ich mich ein bisschen umgesehen.«

Edison hüstelte, die denkbar deutlichste Form, in der er einen Verstoß gegen die Regeln je einräumen würde, von einem Verstoß gegen das Gesetz ganz zu schweigen. »Tatsächlich gibt es da eine Tür unter der Treppe, die zu einem kleinen Keller führt. Der Schlüssel hat sich mühelos drehen lassen, das Schloss war gut geölt. Unten gab es nicht viel zu sehen bis auf einen sauber gefegten Betonboden und ein paar fast leere Säcke, die ein trockenes, ätzendes Pulver enthalten haben. Die Grafschaft hat einen Mann in der Universität, den sie öfter beauftragen. Der wird uns genaue Einzelheiten liefern, aber ich habe schon mal eine Handvoll zu einem mir bekannten Chemiker gebracht, der einen Laden in Chettisham hat. Er war ein bisschen verschlafen, hatte aber keinen Zweifel: Kaliumchlorid. Wenn es um Paxo geht, ist das Zeug sozusagen der Salbei zu Zwiebel und Salz. Eine tödliche Mischung.«

Mit einem befriedigten Seufzer nahm Edison Platz.

»Und es ist alles weg?«, hakte Brooke nach.

»Bis auf ein paar Krümel. Ich schätze, der Rest ist dafür draufgegangen, diese Lokomotive aus den Schienen zu blasen. Das dürfte Smiths Werk gewesen sein.«

»Walsh war ein Komplize«, sagte Brooke kopfschüttelnd. »Doch der ist kaum der Typ des verzweifelten Fenier-Helden, was?«

»Gibt solche und solche.«

Brooke sagte Edison, er möge sich ausruhen, während er frischen Tee aus der Kantine holte. Als eloquente Geste der Belobigung fügte er noch einige Kekse hinzu.

Die Auswirkungen dieser Entdeckung waren beiden klar, aber Brooke, der am Fenster stand, sprach sie dennoch aus.

»Also gehört Walsh zu dieser Zelle – entweder aus freien Stücken oder, was wahrscheinlicher ist, gezwungenermaßen. Die Bombenwerkstatt in seinem Keller führt uns zu der Frage: Wie viel hat seine Frau gewusst? Oder geahnt. Durch die Ankunft des kleinen Sean drohte Walsh die Enttarnung, was die ganze Zelle in einem entscheidenden Moment in Gefahr gebracht hätte, nicht zuletzt, weil sie dadurch eventuell ihre Macht über ihn verlieren konnten. Das Kind stirbt also. Wie? Das wissen wir immer noch nicht. Walsh wird reden, wenn er kann, denn er hat nichts mehr zu verbergen. Aber vielleicht weiß er nicht alles.«

Edison enteilte in das Büro der Sergeants, um sich nach dem Stand der Suche nach Joe Smith zu erkundigen. Brooke ließ sich telefonisch vom Addenbrooke’s über den Zustand des Schulleiters informieren.

Liam Walsh war sediert worden und würde mindestens noch sechs Stunden ohne Bewusstsein bleiben, möglicherweise länger. Man war besorgt, ob sein Herz stark genug war. Als Brooke das Gespräch beendete, informierte ihn das Mädchen in der Vermittlungsstelle, dass der Detective Chief Inspector ihn in ihrem Büro sehen wolle. Der exakte Wortlaut enthielt eines der frostigsten Worte aus Carnegie-Browns Repertoire: Umgehend.

Sie begrüßte ihn mit einem Nicken in Richtung des freien Stuhls vor ihrem beeindruckenden Schreibtisch. Sie hatte eine Stunde mit dem Chief Constable, einem ehemaligen Militäroffizier und frisch geadelten Peer, zugebracht, und in ihrer Haltung drückte sich ein Hauch unterdrückten Ärgers aus.

»Rauchen Sie, wenn Sie wollen«, sagte sie und holte ein silbernes Etui, säuberlich gefüllt mit ihrer Lieblingssorte, und ein Feuerzeug mit Tartanmuster hervor.

»Bis zu einem gewissen Grad dürfen wir uns entspannen«, fügte sie nach einer Lungenfüllung Nikotin hinzu. »Nach dem Ermessen des Militärs in Madingley, aber vor allem dem von Scotland Yard, ist unser Attentäter weitergezogen. Bisher hat jede Zelle maximal zwei Bombenanschläge ausgeführt. Die schlechte Nachricht lautet, dass diese Bombe erheblich ausgeklügelter war als ihre Vorgänger. Das Home-Office hat eine Geheimhaltungsverfügung erlassen, also wird das nicht in die Presse kommen, jedenfalls nicht mehr in diesem Jahr. Man wird eine Razzia bei bekannten IRA-Sympathisanten in Liverpool, Birmingham, West London und Glasgow durchführen. Es herrscht …«

Sie setzte eine Brille auf und las die Notiz auf ihrer Schreibunterlage.

»Es herrscht ›absolute Entschlossenheit‹, die Effektivität des S-Plans zu bremsen. Aber wie ich zu sagen pflege, die Karawane ist weitergezogen, überwiegend verfolgt sie jetzt Smith. Für uns bleibt übrig, die hiesige Zelle auszuräumen – und uns zu vergewissern, dass Smith nicht doch noch in der Stadt ist. Was ich offen gesagt für sehr unwahrscheinlich halte. Besonders, wenn ihm, wie Sie berichtet haben, ein Fahrzeug zur Verfügung steht. Dieser Walsh ist offenbar hier angeworben worden, also wird er nichts wirklich Wichtiges wissen.«

»Er könnte wissen, wer das Kind getötet hat.«

»In der Tat. Aber Smith genießt Priorität, Brooke. Er könnte unter den Aktivisten des S-Plans eine hohe Position bekleiden, trotz seines Alters. Oder gerade deswegen. Wenn wir ihn also finden können, dann müssen wir ihn finden. Das Fahrzeug?«

Brooke informierte sie über das Dreirad.

»So etwas ist zu auffällig, um es einfach auf der Straße zu parken«, sagte Brooke. »Es muss also irgendwo eine Garage geben. Da sind wir jetzt dran, Ma’am.«

»Ich verstehe. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Machen wir weiter.«

Sie schlug die Akte zu und eine andere auf.

»Womit wir zur königlichen Visite kommen. Downing Street hat das Programm festgelegt, und ich nehme an, man ist bestrebt, sich unerschrocken zu zeigen. Wenn die Eisenbahnbombe nicht in den Zeitungen oder im Radio in Erscheinung tritt, warum sollte man dann den VIP-Besuch in unserer schönen Stadt absagen? Sie erkennen die Logik. Also nehmen Sie Verbindung zur Grafschaft auf, Brooke. Unsere Sicherheitsvorkehrungen müssen unüberwindbar sein. Man sagte mir, dass wir auch mit Tauwetter rechnen können, also wird das Fußballspiel wohl der Höhepunkt des Tages werden. Der Prinz freut sich dem Vernehmen nach schon sehr darauf. Für seine Sicherheit zu sorgen ist unsere vordringlichste Aufgabe. Ich bin überzeugt, ich kann mich auf Sie verlassen.«