Brooke verbrachte einen Tag an seinem Schreibtisch; wie angewiesen vorwiegend mit der Zusammenstellung der letzten Einzelheiten zu dem Besuch Seiner Königlichen Hoheit, Prinz Henry. Außerdem kontaktierte er das Home Office wegen Grenzkontrollen für die Fahndung nach dem flüchtigen Hausmeister. Ein Paket mit Smiths Fahndungsfoto sollte den Beamten auf der Isle of Man geschickt werden, um die Fotos zu ergänzen, die an den Häfen in Umlauf waren. Alle wichtigen Eisenbahnunternehmen wurden gebeten, an sämtlichen größeren Bahnhöfen, vor allem an den Endpunkten in London und Glasgow, die Augen offenzuhalten.
Regelmäßig rief Brooke im Addenbrooke’s an, aber Walsh war immer noch zu krank oder zu vollgepumpt mit Medikamenten, um mit ihm zu sprechen. Seine Frau war nicht von seiner Seite gewichen. Wenn sie sich Walsh und die pflichtbewusste Kathleen nicht bald vornehmen konnten, würden sie sich ihre Antworten anderenorts verschaffen müssen. Was wussten beispielsweise der Gemeindepfarrer und seine Haushälterin über die Geheimnisse von Walsh und Smith? Waren sie selbst widerstrebende Komplizen gewesen? Brooke stationierte einen Funkwagen vor der Kirche, um sie rund um die Uhr zu überwachen. Er wollte nicht erleben, dass noch ein Vögelchen davonflog.
Am Tresen des British Restaurant, einer von der Regierung betriebenen Kantine, in der herzhafte Speisen serviert wurden, tauschte er mit Edison Informationen aus. Über ihren Köpfen, weitgehend unbemerkt von den Arbeitern, die darunter aßen, befand sich eine edle Stuckdecke, an der Bilder von Zirkeln und Winkeln in Trompe-l’Œil-Malerei prangten, Beleg für die frühere Nutzung des Gebäudes als Freimaurerloge. Die Kulisse wertete den Speiseplan ein wenig auf. Bei Fleisch (nicht spezifizierbarer Art) und zwei Stücken Gemüse (von Edison mit all der Würde eines Kleingartenveteranen begutachtet) diskutierten sie die Chancen, Smiths Dreirad-Laster aufzuspüren.
Edison war nicht faul gewesen. Die Wartung von Dreirädern war in mancher Hinsicht eine Aufgabe für Spezialisten. Der Motor, der eine Treibstoffmischung aus Benzin und Öl benötigte, gehörte im Grunde zu einem Motorrad. Es gab sechs Werkstätten in der Stadt, die über den nötigen Sachverstand verfügten, allerdings konnte im Grunde jede Benzinpumpe zum Betanken verwendet werden, solange man das notwendige Zweitaktöl beimischte. Dafür legten sich manche Fahrer einen eigenen Vorrat an.
Sie teilten die Liste, die insgesamt ein Dutzend Anlaufstellen umfasste, untereinander auf und gingen getrennter Wege.
Draußen war es kalt, aber nicht eisig. Carnegie-Brown hatte recht, kühles Tauwetter lag in der Luft, eine Wohltat nach den vielen Stunden in seinem stickigen Büro. Der erste Werkstatteigner erinnerte sich gar nicht an ein Dreirad. Der beliebte Handwerkerwagen benötige, wie man Brooke erklärte, nur wenig Wartung, was auch der Grund war, dass er von etlichen kleineren Geschäften in der Stadt genutzt wurde. Die meisten Eigentümer waren Motorrad-Enthusiasten, die diese Wartungsarbeiten kostengünstig daheim durchführen konnten. Tatsächlich war die Begeisterung für die Zwei-Takt-Maschinen so groß, dass die meisten es sogar vorzogen, sie selbst zu warten.
»Ehrlich, es ist schwieriger, so einen Scheißmotor anzuhalten, als ihn zu starten. Das sind verdammte Wunderwerke«, sagte der erste Werkstatteigner. »Von denen bekommen wir nichts zu sehen, außer zum Tanken.«
Brooke marschierte weiter. Ein früher Sonnenuntergang überzog die Schneeverwehungen am Straßenrand mit orangefarbenen und goldenen Lichtpfützen. Der zweite Werkstatteigentümer hatte zwei oder drei regelmäßige Kunden, aber keiner von ihnen hatte einen Akzent, der ihn nach Irland oder ins East End verortete. Dasselbe galt für die Werkstätten drei, vier und fünf.
Die Crossways Garage stand an der alten Küstenstraße, ungefähr eine Meile nördlich der Upper Town. Ein kahler Abschnitt einer Straße mit nur einer Fahrbahn zog sich in die Ferne in Richtung der Fens. Der Eigentümer bot Brooke Tee an, denn der sehe, wie er meinte, müde und hoffnungslos aus. Sein eigener Sohn sei ein Constable in London, auch wenn er wohl sehr bald einberufen werden würde. Er hatte vier Dreiradbesitzer unter seinen Stammkunden, aber keiner passte auch nur ansatzweise zu der Beschreibung, die Brooke ihm lieferte.
»Natürlich gibt es manchmal auch Kunden, die nur einmal reinkommen«, fügte er hinzu. »Ich hatte einen vor einem Monat, höchstens. Dachte, er wäre ein Yankee, aber als ich ihm das gesagt habe, hat er nur gelacht. Die sieht man heutzutage ganz schön oft – ist Ihnen das auch aufgefallen? Piloten, schätze ich, die unsere Flugplätze ausprobieren. Wenn es richtig losgeht, kommen die uns vielleicht retten, was?
Er war einmal hier, wie gesagt. Die Bremsseile waren hin, und das ist eine furchtbare Arbeit, weil die Dinger innerhalb der Plastikummantelung rosten. Man muss sie rauszerren. Hab ich getan. Er hat sogar geholfen, darum hatten wir Zeit, uns ein bisschen zu unterhalten. Netter Kerl. Aber ich erinnere mich nicht mehr an den Laster, tut mir leid.« Er zuckte mit den Schultern. »Danach ist er nie wiedergekommen.«
Brooke starrte in den kleinen Ofen. Draußen war es beinahe vollständig dunkel.
Der Werkstattbesitzer zündete sich eine Pfeife an. »Aber gesehen habe ich ihn noch mal. Jedenfalls glaube ich das. Ist schließlich eine kleine Stadt. Ich war unten beim Old Ferry, kennen Sie das?«
Brooke nickte. Das war das Gasthaus am Fuß des Pound Hill, hundert Yards entfernt von Honey Hill.
»Gegenüber habe ich ihn gesehen, zu Fuß. Ist aus einer Gasse gekommen, die runter zum Fluss führt, auf der Rückseite der Colleges. Daran erinnere ich mich, weil wir uns auf der Straße begegnet sind und er mich wie Luft behandelt hat. Dabei war er so nett, wie man es sich nur wünschen kann, als er noch was von mir gewollt hat.«
Brooke brauchte zwanzig Minuten, um die beschriebene Stelle zu erreichen.
Das Gasthaus war geöffnet, zwei große Feuer brannten im Inneren. Arbeiter drängelten sich zum Tagesende um beide herum.
Brooke setzte sich mit einem halben Pint an ein Erkerfenster und sah zu, wie die Welt vorüberzog. Die Straße war zur Feierabendzeit recht belebt, das Pflaster im Dämmerlicht schlüpfrig, matschig und feucht. Gleich gegenüber lag eine schmale Gasse, nicht breiter als ein durchschnittlicher Wagen, die sich zwischen Läden entlangschlängelte. Der frisch gefallene Schnee war weich. Schmelzwasser gurgelte in den Abflussrohren. Am Ende der Gasse stand ein großes, mittelalterliches Gebäude mit gemeißelten Stürzen aus Stein und einem einst prächtigen Torbogen über dem Eingang, das Ähnlichkeit mit einer Scheune hatte. Dahinter, auf der anderen Seite einer Wiese, befand sich das St. John’s College. Auf einem kleinen Schieferschild stand in geätzter Schrift zu lesen:
School of Pythagoras
Aus der Nähe konnte Brooke erkennen, dass das Gebäude ziemlich verfallen, das Dach jedoch noch in Ordnung war. Die Doppeltür zum »Scheunen«-Teil war mit einer schweren Kette und einem Vorhängeschloss gesichert. Über dieser Tür befand sich ein kleines Schutzdach aus Blech, das an dem alten Mauerwerk befestigt worden war, um den Eingang ein wenig abzuschirmen. In dem Schnee darunter zeichnete sich ein Gespinst dreier paralleler Reifenspuren ab.