Brooke und Edison standen im Bahnhof von Cambridge am Gleis und warteten auf den Zug von der Liverpool Street. Mrs Mary Flynn sah sonderbar substanzlos aus, als wäre sie eigentlich nur halb da. Sie sagte nichts, als Brooke ihr die Hand schüttelte, sondern umklammerte nur krampfhaft den Arm ihres Mannes. Mr Gerald Flynn war eine ganze Dekade älter als sie, hatte einen säuberlich gestutzten Schnurrbart und trug Filzhut zu einem eleganten Anzug. Seine Haltung hatte etwas Wichtigtuerisches an sich, etwas das aufgeblasen und verärgert zugleich erschien, als wäre diese Reise nach Norden eine milde Unannehmlichkeit, die schnellstmöglich fortgewischt werden sollte.
Draußen, jenseits der anmutigen Bögen der Bahnhofsfassade, lief der frisch geputzte Wasp am Taxistand im Leerlauf, und Edison öffnete die hintere Tür für die Flynns.
Brooke sprach durch das offene Fenster mit ihnen, als sie es sich bequem gemacht hatten. »Mein Sergeant wird sie zum Bull Hotel fahren. Wir haben ein Zimmer für Sie gebucht. Alles ist bereits bezahlt. Ich werde später, vielleicht auch erst morgen, mit Ihnen beiden sprechen müssen. Ihr Termin bei Doktor Comfort, dem Pathologen, ist um zwei Uhr heute Nachmittag. Mir ist bewusst, was für eine schreckliche Bürde das ist, aber wir benötigen eine eindeutige Identifizierung durch einen nahen Verwandten. Wenn Sie Fragen haben, kann Sergeant Edison sie Ihnen beantworten. Ein Besuch der Schule oder der Kirche ist derzeit nicht möglich. Ich nehme an, Sie wurden bereits von der Polizei in Shepherd’s Bush über die Lage in Kenntnis gesetzt?«
Beide nickten.
»Mister Walsh ist immer noch im Krankenhaus«, sagte Brooke.
»Wird er überleben?«, fragte die Frau, die ihn einst geheiratet hatte und immer noch mit ihm verheiratet war.
»Ja, aber es gibt Probleme mit seinem Herz.«
»Hat er unseren Jungen getötet?«, fragte sie. Wieder sahen ihre grauen Augen so leblos aus wie Strandkieselsteine.
Brooke berührte seinen Hut. »Die Ermittlungen laufen. Wie ich bereits sagte, wir werden uns später unterhalten müssen. Die Untersuchung schreitet rasch voran, und ich bin überzeugt, wir werden Ihnen Antworten auf all Ihre Fragen geben können.«
Mr Flynn wirkte vage beschwichtigt, während die Miene seiner Frau gänzlich ausdruckslos war. Zweifellos wappnete sie sich innerlich für die vor ihr liegende Prüfung.
Brooke tippte mit seinem Siegelring auf das Dach des Wagens, und Edison fuhr langsam davon, die Station Road hinunter in Richtung der munteren Statue »The Homecoming«.
Der Streifenwagen brachte Brooke nach Hause, damit er sich zur Vorbereitung auf seine zeremoniellen Pflichten umziehen konnte. Claire, die frei hatte, fegte Schneematsch vom Fußweg, eine Arbeit, die sie sich auferlegt hatte, um sich von der Tatsache abzulenken, dass sie nichts Neues über Ben gehört hatten. Sie ließ großzügig davon ab, um ihrem Mann bei der Auswahl eines Hemds und einer Krawatte zu helfen, die zu seinem besten Anzug passten. Schwarze Budapester wurden auf Hochglanz poliert. Endlich stand er vor dem mannshohen Spiegel auf dem Dachboden, gleich neben der Badewanne.
»Du siehst aus wie dein Vater auf dem Bild im Flur«, sagte Claire, bemüht, den Augenblick zu genießen.
Beinahe absurd erfreut drehte Brooke den Kopf, um die Haltung seines Vaters auf dem Foto nachzuahmen. Es war ein formelles Porträt, das ihn an dem Tag, an dem er seinen Nobelpreis erhalten hatte, in Oslo neben dem König von Norwegen zeigte. Er hatte immer gedacht, wenn man nicht wusste, wer von beiden wer war, könnte man denken, Professor Brooke wäre die Königliche Hoheit. Ein Gefühl der Leichtigkeit und sogar ein mildes Amüsement drückten sich in dem sonst so ernsten Gesicht aus.
»Joy?«, fragte Brooke und zog den Knoten an seiner Kehle fest. Dies war die Krawatte vom Feldzug seines Bataillons in Palästina, und er hatte sie nur selten getragen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass sie gerade passend schien, um den Unbekannten Soldaten zu ehren.
»Sie ist zu Fuß auf dem Weg nach Coton, um Grace zu treffen. Und noch ein paar andere Freundinnen. Alle scharen sich jetzt um sie. Je länger wir nichts hören, desto schlimmer wird es.«
Brooke begegnete ihrem Blick im Spiegel. »Solange wir nichts hören, wissen wir auch nichts. Aber noch vierundzwanzig Stunden, und ich würde sagen, wir sollten das Schlimmste in Betracht ziehen, auch wenn wir nicht darüber sprechen.«
An der Tür legte sie ihm den Mantel über die Schultern. »Was ist mit Bens Eltern? Und einen Bruder hat er doch auch?«, fragte er.
»Sie haben gestern Abend angerufen. Joy hat mit seinem Vater gesprochen. Sie dachten, es würde sich nach einem Maschinenschaden anhören und die Silverfish würde sicher bald in irgendeinen Hafen einlaufen. Er war sehr optimistisch. Ich glaube, Joy mag ihn nicht. Sie fand, er hätte sie behandelt wie ein Kind. Sie ist eine Krankenschwester, ihr Realitätssinn ist genauso gut wie der eines Marineoffiziers im Ruhestand. Besser sogar.«
Claire setzte ihm den Hut auf und bugsierte ihn sanft von der Stufe, um ihn auf den Weg zu bringen.
Der Funkwagen setzte Brooke am großen Tor des Trinity Colleges ab, vor dem sich schon eine kleinere Menschenmenge versammelt hatte, in Schach gehalten von einer Handvoll uniformierter Constables. Brooke nahm seinen Platz in der Aufstellung ein, bereit, den Prinzen willkommen zu heißen; eine Situation, die an eine Hochzeitszeremonie erinnerte, an eine Formation, die Claire gern als »Wand des Todes« bezeichnete. Brooke war zwischen dem Lord Lieutenant und dem Master des Colleges eingeklemmt. Einige Studenten waren gezwungen worden, gegenüber in akademischen Talaren Aufstellung zu nehmen, um gemeinsam mit ihnen eine Ehrengarde zu bilden.
Eine Kolonne schwarzer Fahrzeuge rumpelte das Straßenpflaster herunter. Brooke hatte die königliche Wagenkolonne umgeleitet, um die Great Bridge zu umfahren. Das hatte den Zeitplan um einige Minuten verzögert, weshalb sie spät dran waren, was wiederum ausgereicht hatte, dass sich eine recht beachtliche Menge hatte ansammeln können.
Als der Prinz ausstieg, erhob sich höflicher Applaus, sogar ein vereinzelter Jubelruf erklang.
Brooke hörte die gestelzten Gespräche, als Prinz Henry sich seinen Weg an der Reihe der Würdenträger vorbei bahnte. Die königliche Stimme war dünn und piepsig und passte so gar nicht zu dem großen, gemütlichen Mann, der die Worte hervorbrachte. Während Brooke wartete, ließ er seinen Blick über die Menge gleiten, sah einen Soldaten mit Gewehr und einen weiteren an einem Fenster im ersten Stock über einem Buchladen. Er fragte sich, ob Jo Ashmore auf ihrem unsichtbaren Beobachtungsposten wohl Gesellschaft hatte.
Das College – oder zumindest alle wichtigen Räumlichkeiten – war am Morgen durchsucht worden. Der Bluthund des Borough hatte eine Runde über das Gelände gemacht. Einem Bombenanschlag zu entgehen war keine so große Sache, solange sie sicherstellen konnten, dass der Prinz niemals zur vorbestimmten Zeit an einem Ort in Erscheinung trat, der auf dem veröffentlichten Ablaufplan aufgeführt war. Sollte es sich um einen Sprengsatz handeln, den Smith bei Sichtkontakt zur Explosion zu bringen gedachte, erhöhte das die Gefahr, aber nicht in einem Ausmaß, das seinen Auftritt als übertrieben verwegen erscheinen ließ. Sie mussten den Prinzen einfach in Bewegung halten und wachsam bleiben.
Dann, aus heiterem Himmel, schüttelte Prinz Henry ihm die Hand. Der Mann hatte einen Mund voller schlechter Zähne, aber ein freundliches Gesicht und ein pragmatisches, unkompliziertes Auftreten. Seine Uniform war frei von Orden oder Schärpen, davon abgesehen aber mustergültig. Die Knöpfe fingen das schwache, winterliche Tageslicht ein. Er hätte ebenso gut ein Bauer oder ein geselliger Metzger sein können. Brooke mochte ihn auf Anhieb.
»Ah, Professor Brookes Sohn? Ich bin ihm ein paarmal begegnet, wissen Sie – auf King’s Parade. War damals berühmt. Auf mich hat da niemand geachtet – oder auf meinen nichtsnutzigen Bruder. Ich habe nur ein Jahr durchgehalten. Das Akademikerleben ist nichts für mich.«
Brooke war nicht sicher, ob der Prinz ihm eine Frage gestellt hatte, aber er hatte das Gefühl, frei sprechen zu können. »Wie war Frankreich? Mein Sohn ist bei der BEF, irgendwo südlich der Grenze zu Luxemburg. Seine Briefe verraten nicht viel, aber es scheint recht ruhig zu sein, Eure Hoheit.«
»So wird es auch bleiben.« Der Prinz trat näher, und Brooke sah, dass seine Augen leicht verhangen waren, die Haut gezeichnet von winzigen geplatzten Blutgefäßen. In seinem ruhigen Blick lag ein Ausdruck, der echte Anteilnahme signalisierte. »Vor zwei Tagen ist nahe der Grenze ein Flugzeug runtergekommen. An Bord war ein Bote mit militärischen Plänen. Wie es aussieht, schlagen sie wieder die gleiche Route ein wie beim letzten Mal, über die belgische Grenze, also dürfte Ihr Junge erst einmal sicher sein. Sagen Sie das seiner Mutter. Das hilft bestimmt für eine Weile.«
Prinz Henry ordnete die polierten Schuhe auf dem Pflaster neu an. »Man sagte mir, ich könne mir ein Fußballspiel ansehen, Inspector, trotz des besonderen Augenmerks der Fenier. Vielen Dank.«
Brooke nickte ihm zu. »Es stand auf dem Plan, aber wir haben den zeitlichen Ablauf geändert, also dürfte das kein Problem sein. Und ich habe über Nacht eine Wache auf dem Spielfeld postiert. Wir müssen einfach dafür sorgen, dass Sie nie genau da sind, wo man Sie gerade erwartet.«
»Das klingt ziemlich normal«, sagte der Prinz lächelnd. »Eine übliche militärische Vorgehensweise.«
»Bedauerlicherweise kann ich nicht für die Güte des Spiels bürgen.«
Der Prinz kniff verschmitzt die Augen zusammen und studierte Brookes Krawatte. »Allenby’s Haufen, was? Haben Sie den großen Mann kennengelernt?«
»Lawrence oder Allenby?«
Der Prinz lachte.
»Lawrence habe ich ein- oder zweimal aus der Ferne gesehen. Eines Nachts an einem Beduinenfeuer. Aber die Legende ist ihm vorausgeeilt. In diesem Sinne war er einfach überall. Aber das ist das Wesen der Legenden, sie sind von Natur aus substanzlos.«
Prinz Henry nickte bedächtig. »Und ein bisschen zu grell, wenn Sie mich fragen. Mich nennt man den Unbekannten Soldaten, Brooke. Ich weiß nicht, was dann wohl er sein mag.« Wieder schüttelte er Brooke die Hand. »Ich vertraue voll und ganz darauf, dass mein Leben in guten Händen liegt, Inspector.«