Eine Stunde später stand Brooke an der Seitenlinie und beobachtete das Fußballspiel auf Parker’s Piece auf einem Spielfeld, das vom Schnee geräumt worden war und nun mit einem Untergrund aus Stroh und Schlamm aufwartete. Dem Pförtner des Trinity zufolge war ein »leichtes Mittagessen« gereicht worden, zu dem mehrere Runden Brandy Alexander gehörten, ein Machwerk der Offiziersmesse aus Brandy, Sekt und Zuckerwürfeln; der Lieblingscocktail des Prinzen. Anschließend hatte er einen übermütigen und lauthals bejubelten Spaziergang durch die Stadt genossen, und nun stand er da und rauchte eine große Zigarre, während das Spiel mit einer Reihe von knallharten Angriffen und kaum beherrschter Gewalt im Stile mittelalterlichen Fußballs seinen Verlauf nahm. Die exakte Position des Balls schien für die Spieltaktik nur geringe Relevanz zu haben.
Brooke, der von seinem Schutzbefohlenen aus gesehen auf der gegenüberliegenden Seite des Fußballfelds stand, hatte inzwischen erfahren, dass die Mannschaften auf der einen Seite die Universität und auf der anderen das London Regiment repräsentierten und dass der königliche Besucher angedeutet hatte, beide Teams seien nach dem Abpfiff zum Tee im Trinity eingeladen. Er nahm an, dass das nur ein anderer Euphemismus für einige Runden hochgeistiger Getränke war. Feiertagsstimmung lag über dem Feld, weil der Großteil des tausend Mann starken Publikums Uniform trug und die Erlaubnis erhalten hatte, vor dem Anstoß die örtlichen Pubs heimzusuchen. Hundert Kinder – ausschließlich Jungs – verfolgten das Spiel hinter einem der Tore, wild jubelnd und Fahnen schwenkend.
Brooke beobachtete den Prinzen. Der Schluss schien kaum vermeidbar, dass er umgeben von Soldaten glücklicher war als in einem Kreis von Akademikern oder in Gegenwart seiner eigenen Entourage, einer mürrischen Gruppe von Männern in langen Mänteln, die im Schneematsch mit den Füßen aufstampften, silberne Zigarettenetuis untereinander weiterreichten und rauchten. Der größte Constable des Borough war zum nominellen Leibwächter des Prinzen befohlen worden und stand gleich hinter ihm.
Das Spiel hatte sich in ein Schlammbad verwandelt, und die Mannschaften waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden; ein entzückter Prinz, der seine strikte Neutralität aufgegeben hatte, feuerte die Soldaten an. Der Schlusspfiff rief gewaltigen Jubel hervor, und beide Mannschaften nahmen in einer Reihe Aufstellung, um den Ehrengast zu begrüßen. Der wurde im Anschluss zu seinem Wagen geleitet, nachdem er die Spieler wie angekündigt zu einer Erfrischung eingeladen hatte. Brooke machte sich quer über den Rasen auf den Weg, gefolgt von beiden Teams, die eine lange, ungeordnete Reihe dampfender Athleten bildeten. Die Spieler, offenkundig im Vorgriff auf Wärme, Speisen und Getränke, sangen in den schmalen Straßen. Ihre Feierstimmung war ansteckend. Eine Menge, die sich an der Collegepforte versammelt hatte, jubelte ihnen ungesehen hinter dem Tor zu.
Auf dem Rückweg zum Trinity hatten sie den königlichen Wagen um fünf Minuten geschlagen, weil der aus Sicherheitsgründen eine Rundfahrt absolvieren musste, auf der er den einschlägigen Brücken erneut auswich. Endlich kroch der offene Militärwagen die Kopfsteinpflasterstraße hinab, und der Prinz verschwand außer Sicht und ließ einen dünnen Hauch kräftigen Zigarrenrauchs in der Luft zurück. Brooke warf einen Blick auf seine Uhr: exakt vier. Erste Anzeichen der Dämmerung zogen über den Himmel, und die Lichter der Pförtnerloge strahlten hell und einladend. Prinz Henry sollte das Queens’ nach dem Dinner um sechs Uhr wieder verlassen.
Als die Menge sich auflöste, zündete sich Brooke eine Zigarette an und setzte sich an die Wand. Auf einer Seite des großen Tors ragte in einem höheren Stockwerk ein Erkerfenster aus der Mauer hervor. Dies war den Legenden zufolge der Raum von Isaac Newton gewesen. Darunter auf dem Rasen stand ein Apfelbaum, entstanden aus einem Kern, der von dem Apfelbaum in seinem Garten auf dem Land stammte, von dem die Frucht gefallen war, welche das Gravitationsgesetz und vieles andere mehr hervorgebracht hatte. Brookes Vater hatte nichts von der Geschichte gehalten und stets darauf verwiesen, dass es noch weitere Bäume gab – insbesondere im Botanischen Garten der Stadt – die auf Wurzeln des Originals gepfropft worden waren. Diese Bäume waren exakte Nachbildungen des Originals, botanische Zwillinge anstelle von Hybriden. Brooke kam in den Sinn, dass es in der Natur der Wissenschaft lag, dass eines Tages irgendwo irgendwer versuchen würde, das Gleiche mit einem Tier zu versuchen – vielleicht mit einem Schaf oder einem Meerschweinchen. Eine verstörende Vorstellung.
Eine Vorstellung, die ihn wieder an Augustine Bodart und ihre Platterbsen erinnerte. Er hatte weiterführende Anweisungen im Spinning House hinterlassen, um die Suche nach der Flüchtigen auszudehnen. Vor allem hatte er Befehl erteilt, alle Züge in südlicher Richtung zu durchsuchen, ehe sie nach London abfahren durften. Das Davison College hatte ein Foto von Bodart aus seinen Akten bereitgestellt. Brooke war fest entschlossen zu verhindern, dass die Österreicherin mit irgendjemandem zusammentraf, der möglicherweise imstande war, die RADAR-Einheit außer Landes zu schaffen. Ob sie wusste, wie sie in der Hauptstadt Kontakt zu anderen Agenten aufnehmen konnte?
Es fiel ihm schwer, Mitgefühl für ihre Notlage aufzubringen. Zweifellos ging ihre Hingabe an die Eugenik auf ihre Studienzeit in Heidelberg zurück. Die Raffinesse ihrer verdeckten Tätigkeit in Cambridge deutete auf eine umfassende Vorbereitung hin. Sie war beinahe drei Jahre am Davison gewesen. Zweifellos war sie Agentin der Abwehr, des deutschen Geheimdiensts. Aber hätte es das Flussgeschwätz nicht gegeben, hätte man sie schon an der Denver Schleuse erwischt.
Die Uhren läuteten die Stunde, und er sah Edison beinahe im Laufschritt die Trinity Street herunterkommen.
Außer Atem beugte er sich kurz vor und richtete sich dann wieder auf. »Sir, das Kind in der Leichenhalle … das ist nicht Sean Flynn.«
»Aber er muss es sein«, sagte Brooke und stand auf. Eine Krähenschar erhob sich aus den Bäumen am Torhaus und kreiste über ihnen am Abendhimmel.
»Die Mutter ist sicher. Beim ersten Mal ist sie in Ohnmacht gefallen, darum mussten wir eine Weile warten. Danach hat sie ihn noch ein zweites Mal angesehen und ihr Mann auch. Es gibt keinen Zweifel.«
Brooke überlegte, welche Auswirkungen diese Neuigkeit haben mochte. Wenn das nicht der Leichnam Sean Flynns war, um wen handelte es sich dann? Er sah die Gesichter von Kindern vor sich, ihre Koffer und Etiketten. Und Pater Ward, bestürzt wegen des einen, das fehlte.
»Sie sind beide ziemlich schockiert«, fuhr Edison fort. »Sie haben sich in ihr Zimmer im Bull zurückgezogen. Ich habe gesagt, wir würden ihren Jungen finden, aber wo sollen wir anfangen?«
Brooke überlegte und kam zu dem Schluss, dass er einen Teil der Antwort auf diese Frage kannte: Er wusste, wo er Sean Flynn finden konnte. Und er wusste, dass er am Leben war. Was noch immer nicht greifbar war, das war das Motiv hinter der Täuschung.
»Wir müssen in St. Alban’s alle zusammenrufen«, sagte er. »Alle Evakuierten, die Mitarbeiter, wirklich alle. Den Priester auch und die Haushälterin. Morgen, wenn möglich. Schicken Sie der Schule eine Nachricht, Edison, der Kirche ebenfalls.«
Hektisch zündete er sich eine neue Zigarette an. »Jetzt müssen wir jedoch erst einmal Prinz Henry sicher über die Stadtgrenze und von unserem Grund und Boden schaffen. Danach können wir uns auf das Kind konzentrieren.«
»Da war auch noch ein Anruf von Brandon, Sir. Der Schilfschneider aus Hornsea hat sich auf dem Revier gemeldet, um uns zu sagen, dass sein Boot weg ist. Es war unten am Treidelpfad vertäut. Ein Ruderboot. Es scheint, als wäre dieser Smith wirklich sehr vorausschauend. Die Ruder wurden in der Scheune aufbewahrt, und die sind auch weg. Sieht also ganz so aus, als hätte er das alles im Vorfeld geplant. Nun hat er die Bombe und ein Boot.«