KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG

Brooke und Edison standen gemeinsam in den dunkler werdenden Schatten des großen Tors. Sie waren immer noch in ihr Gespräch über Smiths potenzielle Ziele vertieft, als einer von Prinz Henrys persönlichen Dienern von der Pförtnerloge halb auf sie zurannte, auf den Pflastersteinen strauchelte und einen Koffer voller Kleidung über die Steinplatten verteilte. Alles fiel heraus, die ganze Montur für das formelle College-Dinner: schwarze Krawatte, Smoking, polierte Schuhe, ein Kummerbund und ein paar gewagte Hosenträger in Gold und Blau, den Farben des königlichen Regiments.

Brooke half ihm, die Sachen wieder einzupacken, und zeigte ihm seinen Dienstausweis. »Planänderung?«

»Seine königliche Hoheit bevorzugt die Worte ›Element der Überraschung‹«, entgegnete der Mann unverkennbar erbittert. »Sie hatten alle ein paar Drinks. Die Soldaten sind natürlich in ihre Baracken zurückgekehrt, aber die Studenten sind sternhagelvoll. Habe ich ›ein paar Drinks‹ gesagt? Nun ja, es waren wohl eher ein paar mehr. Jemand hat einen Hindernislauf am Flussufer vorgeschlagen, über die Wiesen und Zauntritte rüber zum Queens’. Prinz Henry hat sich eine passende Montur geborgt, und dann waren sie auf und davon, eine Parforcejagd im wahrsten Sinne des Wortes. Sie wollen das Tageslicht nutzen, ehe es weg ist. Einer der Studenten hat ein Horn. Ein anderer hat sich freiwillig bereiterklärt, den Fuchs zu spielen. Ich muss den Pförtner des Queens’ informieren, dass sie von der Rückseite über die Holzbrücke kommen werden. Ich mache mich besser auf den Weg.«

Damit zog er ab, und wie aufs Stichwort trug der Wind den Klang eines Jagdhorns heran. Selbst wenn sie den langen Umweg über die Auen nahmen, würde die Jagdgesellschaft in zwanzig Minuten, möglicherweise weniger, die Brücke überqueren, und einzuholen war sie nicht mehr.

Brooke dachte an das Kind im Sack, das flussabwärts in seinen Tod getrieben und unter der Mathematiker-Brücke hindurchgerauscht war. Das Gefühl, das Schicksal könnte eine Geschichte ausgeklügelt haben, die sich im Kreis drehte, die endete, wie sie begonnen hatte, gefiel ihm gar nicht.

»Gehen Sie mit, Edison«, sagte Brooke und zeigte auf den entschwindenden Kammerdiener. »Versuchen Sie, eine Nachricht zur Brücke zu übermitteln. Und wenn es möglich ist, diese Jagd auf die Silver Street umzuleiten, dann tun Sie es. Eigentlich besteht kein ernsthaftes Risiko. Das kommt aus heiterem Himmel, also kann Smith davon nichts gewusst haben, aber wir sollten dennoch auf Nummer sicher gehen.«

Edison rannte los und holte mit bewunderungswürdigem Tempo zu dem Kammerdiener auf.

Brooke hörte das Horn ein zweites Mal, ein Laut, der von den Auen hinter dem College über sein Dach herbeitrieb. Dann die Rufe der Läufer, das nachgeahmte wilde Gebell eines Beagles, eine Imitation, die mit lautem Gelächter beantwortet wurde, Jubelrufe und Geschrei, das bald die Worte »Zur Brücke!« aufgriff. Dann aber verhallten die Jagdgeräusche rasch, verloren sich hinter den Collegegebäuden und den Weiden am Flussufer.

Ein Plan, der voll ausgereift in Brookes Kopf zum Vorschein kam, trieb ihn die Straße entlang und dann die Garret Hostel Lane hinunter zum Fluss. Er hatte immer noch den Schlüssel für den Stechkahn des Michaelhouse, eine großzügige Spende Dorics. Der Anlegeplatz lag ganz am Ende hinter der verschlossenen Tür, zu der er ebenfalls einen Schlüssel hatte, weil dies der geheime Ort war, von dem aus er in Sommernächten zu seinen Schwimmausflügen aufzubrechen pflegte. Dieses Schloss ließ sich widerstandslos öffnen, aber das Vorhängeschloss am Stechkahn war so stur wie eh und je, und als er es mit Gewalt versuchte, hörte er bereits erneut das Horn, ganz nah, und in der Dämmerung sah er sie erstmals am Westufer; weiße Hemden, die in den Schatten leuchteten und in einer unebenmäßigen Schlange gen Süden zogen, auftauchten, verschwanden und wieder auftauchten, während sie eine Pappelreihe passierten. Die Meute hatte das falsche Gebell des Witzbolds aufgegriffen, ein perfektes Gegengewicht zu dem Jagdhorn.

Als er das eiserne Schloss endlich geöffnet hatte, stieß sich Brooke mit dem Fuß an dem gemauerten Anleger ab, um den Stechkahn in den Fluss zu befördern. Während sein Körper das zerbrechliche Gefährt steuerte, suchte sein Geist Bestärkung. Smith konnte unmöglich von der Routenänderung wissen. Aber die Besorgnis wollte sich nicht legen: Etwas, irgendein winziges Detail, war Brooke in seinen Überlegungen entgangen.

Eis stieß gegen das Boot, aber die Strömung flussabwärts war schwach, also kam er gut voran, als er im Bug stand und den Staken in den Kies des Flussbetts rammte, um das Boot stromaufwärts zu drücken. Langsam umrundete er die weite Biegung, und die Mathematiker-Brücke kam in Sicht. Eine Menge, zweifellos von Freunden im Trinity alarmiert, hatte sich dort versammelt. Die Leute scharten sich zu beiden Seiten des eleganten Brückenbogens, säumten aber auch das Geländer, sodass die Läufer sich würden hindurchquetschen müssen, um das Wasser zu überqueren. An dieser Stelle war das Ufer auf der Westseite gerade einen Fuß hoch, und Brooke hatte freie Sicht auf die Jagdgesellschaft: zwanzig Männer in kurzen Hosen, die einen Studenten mit einer roten Schärpe verfolgten und sich in hohem Tempo der Brücke näherten.

Vor ihm, in der Flussmitte, saß ein Mann in einem Ruderboot, gerade fünfzig Yards von der Brücke entfernt, und kehrte Brooke den Rücken zu. Dieses eine Bild veränderte die ganze Szenerie. Die Zeit lief langsamer, als würde die ganze Welt ruhen. In der linken Hand hielt der Mann ein Kabel, dessen anderes Ende im Wasser verschwand. Seine Rechte arbeitete rabiat an einem im Boot verborgenen Mechanismus. Sein Körperbau, der adrette, fast kugelrunde Kopf, aber vor allem die lässige Kraft seiner Bewegungen, verrieten Brooke, dass dies Joe Smith war. Brooke hatte nicht gewusst, dass der Prinz diesen Weg nehmen würde; wie hatte Smith es wissen können?

Er hörte Jagdrufe im Wind. Der herannahende Mann an der Spitze – der Fuchs – war fünfzig Yards von der Brücke entfernt.

In seinem Boot kniend hatte Smith den Draht weggelegt und arbeitete nun mit Fingerfertigkeit anstelle von Kraft an etwas anderem. Die Haltung seiner Schultern, der gebeugte Kopf, wirkten spannungsgeladen.

Der Student mit der roten Schärpe trappelte unter dem Jubel der Menge auf die Brücke. Die Gruppe seiner Verfolger erging sich in einer Salve lauten Geschreis und wurde langsamer, verwickelt in ein Handgemenge gegenseitigen Schulterklopfens, bis sie schließlich wieder vorandrängten, um die Brücke zu überqueren. Brooke glaubte, den Prinzen in dem Grüppchen am Ende zu erkennen.

Smith stand in seinem Boot und balancierte geschickt dessen Schwanken aus. Das Kabel hing aus seiner linken Hand herab. Und in der halben Sekunde, die ihm für eine Entscheidung blieb, entdeckte Brooke ein zweites dünnes Kabel, das von der Brücke hinunter in die Untiefe nahe dem Ufer hing.

Damit war das Bild vollständig. Der flüchtige Zweifel – Wie kann er das wissen? – fortgewischt.

Die Hindernisläufer fingen an, die Brücke zu überqueren.

Wenn er nun schrie, könnte Smith die Bombe zur Explosion bringen.

Brooke hob die Pistole, stützte die rechte Hand mit der linken, zielte und schoss ihm in den Rücken.

Da war es, das fleischig-tödliche Geräusch einer Kugel, die ihr Ziel getroffen hatte.