Kaltblütig einen Mann getötet zu haben versetzte Brooke einen unterschwelligen Schock insofern, als dass er zwar imstande war, während der nächsten zwei Stunden ohne Leistungseinbußen seine Pflicht zu erfüllen, aber zugleich nicht mehr als der Beobachter seines eigenen Handelns war: eine außerkörperliche Erfahrung, ausgelöst durch den Tod, doch nicht durch seinen eigenen. Ein hartnäckiger Gedanke störte ihn sogar in dieser befremdlichen, leidenschaftslosen Verfassung: dass er eines Tages Joe Smiths Geschichte kennen würde, seinen wahren Namen, seinen Geburtsort, die Ereignisse, die ihn zu einem gewalttätigen Rebellen hatten werden lassen. Für einen Moment ging Brooke durch den Kopf, dass es irgendwo eine Liebste geben könnte, womöglich sogar eine Ehefrau. Dem Gedanken an Kindern versagte er jegliche Einflussnahme.
Smith’s Leichnam war an Ort und Stelle zusammengesunken und lag nun in dem Boot und starrte zum Himmel empor, als Brooke seinen Stechkahn längsseits brachte. Dieser Augenblick hätte sich als Wendepunkt in seinem Leben erweisen können: Hatte er den richtigen Mann erschossen? Furcht vernebelte seinen Blick, und für eine Sekunde erkannte er das Gesicht des Mannes nicht, schließlich hatte der Tod das Leben aus seinen Augen gewischt, die Straffheit aus der Haut, die Spannung aus dem Kiefer. Doch es war Smith, nur sein Geist war entfleucht. Auf dem Rücken liegend offenbarte er die Austrittswunde der Pistolenkugel in seiner Brust, knapp links der Körpermitte.
Auf der Mathematiker-Brücke verfolgte eine Menschenansammlung das Geschehen in totaler Stille, während von ferne das Schrillen einer Polizeipfeife herüberhallte und dann die Glocke eines Funkwagens. Edison traf mit dem Collegepförtner am linken Ufer ein. Brooke, dessen Ohren von diesem einen Schuss klingelten, tastete nach dem Puls des Mannes und fand vielleicht ein vages Echo fließenden, pulsierenden Bluts, das jedoch gleich wieder verschwunden war.
Auf der Plattform des Stocherkahns stehend legte er die Hände an den Mund und wandte sich an die schaulustigen Studenten. »Räumen Sie die Brücke. Machen Sie das langsam. An der Brücke wurde eine Bombe gelegt, und die ist immer noch scharf.« Die Gestalten verschwanden nach Osten und Westen. Bald stand die Brücke allein da in all ihrer geometrischen Pracht, ein eleganter Bogen, geschaffen aus brutal geraden Linien. Jetzt, aus der Nähe, konnte Brooke das Päckchen sehen, angebracht an den hölzernen Balken, befestigt mit den Tränen von Chios. Das Kabel eines elektrischen Zünders hatte der Tote in dem Moment losgelassen, in dem die Kugel ihn getroffen hatte. Das andere Ende war immer noch angeschlossen und hing von dem Sprengstoffpaket hinab in das braune, torfige Wasser.
Edison stand da und wartete auf Anweisungen.
»Wir treffen uns am Anleger des Michaelhouse«, rief Brooke ihm zu. »Flussabwärts am Ostufer. Die Tür ist offen.«
In der Stille und der linden Luft der Dämmerung vernahm er mit Erstaunen den ruhigen Klang seiner eigenen Stimme.
Brooke band das Ruderboot an seinem Stocherkahn fest und überließ es der Strömung, beide Fahrzeuge den Fluss hinunterzutragen. Mit elegischem Tempo treibend kam er sich vor wie in einem schwimmenden Trauerzug. Das vom Wasser getragene Leichenfahrzeug schlüpfte zwischen den Ufern hinab und umrundete die weite Biegung vor dem Anleger. Wenige Minuten später traf Edison in Begleitung zweier Constables ein, und gemeinsam gelang es ihnen, die Leiche an Land zu bringen.
Smith blickte in den Abendhimmel hinauf; die Augen geöffnet, darin ein Ausdruck erschrockener Verwirrung; die Stiefel an seinen Füßen, die er dem Schilfschneider gestohlen hatte, waren trotz der festen Verschnürung locker, und um den Hals trug er einen alten Wollschal mit blauen und weißen Streifen, dazu ein besticktes Abzeichen, auf dem ein springender Löwe zu sehen war, die Tatzen weit gespreizt wie ein spielendes Kätzchen. Dieser Anblick brachte eine Saite zum Klingen, aber Brooke schob den Gedanken beiseite.
Ein Ambulanzwagen traf ein, und die Sanitäter folgten gemächlich einem gut einstudierten Ritual und hoben den Leichnam sanft auf eine Trage. Das Anatomiegebäude der Universität und Dr. Comforts kalte Leichenhalle waren keine halbe Meile entfernt. Rasch, ehe er weggebracht werden konnte, durchsuchte Brooke die Taschen des toten Mannes, entnahm ihnen eine Pistole, eine Geldbörse mit beinahe 50 Pfund in Ein- und Fünf-Pfund-Noten und einen Zündschlüssel – vermutlich für das Dreirad, das er in der School of Pythagoras geparkt hatte.
Edison begleitete den Toten, während Brooke zur Pförtnerloge des Queens’ ging, sich das Telefon im Büro aneignete und im Spinning House anrief. Es kostete ihn fünf Telefonate, bis er einen Waffenexperten auf der RAF-Basis in Witchford, nördlich von Cambridge, aufgespürt hatte. Der Mann konnte binnen einer Stunde vor Ort sein. Inzwischen klingelte Brooke bei den Konservatoren an, um sämtliche Fahrzeuge auf dem Cam stoppen zu lassen, und wies die Uniformierten an, den Fluss am Mill Pond und der Great Bridge mit Booten zu blockieren. Die Gebäude, die beidseits der Mathematiker-Brücke an den Cam grenzten, wurden evakuiert. Das Willkommensdinner für Prinz Henry würde eine Stunde später als geplant in der Great Hall vonstattengehen, die zwei Höfe weiter östlich lag.
Als Brooke den Hörer auflegte, hörte er eine Stimme im Vorraum seinen Namen rufen. Dort traf er auf Prinz Henry, immer noch in seiner schlammbespritzten Montur, der neben einem kleinen Kohlenfeuer saß und ein großes Glas mit einer Flüssigkeit umfasste, die ganz nach Whisky aussah. Ein zweites Glas hatte er auf den Herd gestellt, um es anzuwärmen, und das bot er nun Brooke an und deutete auf einen freien Stuhl.
Der Pförtner drückte sich in der Nähe herum.
»Ich glaube, ich erwähnte schon, dass ich der Ansicht war, mein Leben sei in guten Händen«, sagte Prinz Henry. Seine helltönende Stimme bildete einen auffallenden Kontrast zu dem fassförmigen Thorax. »Ich schulde Ihnen Abbitte. Diese Planänderung, das Pferde-und-Hunde-Spiel, es war kindisch. Offen gestanden, ich habe den Feind unterschätzt. Das ist eine tief verwurzelte systemimmanente Voreingenommenheit, Brooke. Wir respektieren Uniformen und Geschichte, Ritterlichkeit und Absprachen unter Ehrenleuten – denn so lauten die Spielregeln. Warum sollte ich, ein Angehöriger der königlichen Familie, mir Sorgen über einen Proleten machen, der im Schatten herumschleicht?«
Er hob sein Glas, und sie tranken beide.
»Wir sind versorgt«, sagte der Prinz, um den Pförtner aus seiner eigenen Loge zu entlassen. »Was ich nicht verstehe, ist, wie dieser Teufel wissen konnte, dass ich über diese Brücke laufen würde. Ich habe das erst eine halbe Stunde, bevor ich mit den anderen losgezogen bin, erfahren.«
Brooke ließ den Whisky durch seine Kehle rinnen. Ein Malt, ganz sicher, und von guter Qualität.
»Die Antwort auf diese Frage habe ich selbst gerade erst gefunden. Im hinteren Büro hängt ein großer Lageplan der Collegegebäude. Das Fisher Building, das Sie heute Abend hätten eröffnen sollen, liegt auf der anderen Seite des Flusses. Folglich hätten Sie die Brücke auf jeden Fall überqueren müssen. Er war lediglich frühzeitig vor Ort, und dann hat er die Studenten gesehen, die sich dort versammelt hatten, um eine Ehrengarde zu bilden, und dabei zweifellos lauthals die Änderung des Plans hinausschrien. Also hat er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.«
»Hat er früher schon getötet?«, fragte der Prinz.
»Ich denke schon; möglicherweise, um seine Identität geheim zu halten, bis er seine Mission beendet hätte. Ein Kind, fürchte ich. Es ist ein komplizierter Fall, der noch nicht ganz aufgeklärt ist und soeben eine unerwartete Wendung genommen hat.«
Prinz Henry starrte in die Glut. »Das ist ein unangenehmer Gedanke, Brooke, aber dem Tod so nahegekommen zu sein ist eine belebende Erfahrung, wenn man es übersteht. Ich wollte immer ein Soldat sein, aber man hat mich nie auch nur in die Nähe der Front kommen lassen, obwohl ich alles versucht habe, um sie auszutricksen. So aber ist das alles seltsam erhebend. Doch ich fürchte, die Geschichte wird diesen Moment nicht festhalten. Meine Leute haben auch telefoniert. Downing Street ist der Ansicht, dieser Anschlag demonstriere, dass die IRA ihre Fähigkeiten optimiert und ihre Ambitionen erweitert hat. Die Republikaner würden die Schlagzeilen lieben, und es ist klar, dass die Deutschen sie mit Interesse zur Kenntnis nehmen würden. Folglich wurde bereits eine Geheimhaltungsverfügung für die ganze Affäre erlassen. Es ist nie geschehen.«
Brooke zuckte mit den Schultern. Dann plötzlich brachte die Erinnerung an den Schuss seine Hand zum Beben.
Prinz Henry wandte den Blick ab. »Das bedeutet jedoch nicht, dass dem, dem Ehre gebührt, die Ehre verwehrt bliebe. Sie haben mir das Leben gerettet. Das werde ich meinem Bruder gegenüber zur Sprache bringen, wenn ich ihn sehe. Es ist eine gute Geschichte, die bei der Erzählung ganz ohne Zweifel hinzugewinnen wird. Da könnte ein Orden drin sein, Brooke. Andererseits, Sie haben ja schon einen.«
Er kippte den Whisky hinunter und schüttelte Brooke die Hand.
An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Und danke, dass Sie das Fußballspiel seinen Lauf haben nehmen lassen. Das war ein gewaltiges Vergnügen. Die Soldaten haben gewonnen, wissen Sie, und das hat mir enorme Freude bereitet. Auf Wiedersehen, Brooke.«
Das Bild der schlammbeschmutzten Spieler auf Parker’s Piece schien mit dem von Smith zu verschmelzen, der tot in seinem Ruderboot lag, den blau-weißen Schal um den Hals gebunden. Und während Brooke in das knisternde Kohlefeuer starrte, fühlte er eine Offenbarung nahen. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Die fahle Hand des toten Kindes suchte ihn heim, aber nun erinnerte er sich, den Kartoffelsack aufgeschnitten zu haben, erinnerte sich, wie sich das Licht in der billigen Anstecknadel aus Zinn spiegelte, auf der die goldene Kanone vor rotem Hintergrund abgebildet war. Und dann war da der neue Freund des Opfers, John McQuillan, ein schmuddeliges Kind, die Hände mit Tintenflecken verunstaltet, aber gleich oberhalb des ausgefransten Ärmelsaums geschmückt mit einem geschickt aufgetragenen Leitmotiv in filigranen Buchstaben: QPR.
Ein Wonneschauer der Erkenntnis entlockte Brooke ein breites Lächeln.
Er leerte den Maltwhisky und ging zurück in das Büro, um noch einmal zum Telefon zu greifen. Er erwischte Edison, als der gerade an der Wache des Spinning House vorbeigehen wollte. Brooke sagte ihm, die Suche nach Sean Flynn schreite ebenfalls fort. Er würde Mr und Mrs Flynn am nächsten Morgen um neun Uhr an der Vordertür der Kirche St. Alban’s, Upper Town, treffen.
Aber zuerst erforderte eine andere Angelegenheit Aufmerksamkeit. Sein Detective Sergeant wurde in der Leichenhalle gebraucht.