Eine Stunde lang warteten sie draußen in dem Funkwagen, der hinter der Kurve in der Gasse parkte, und beobachteten im Zwielicht das alte Gebäude. Mit Einbruch der Nacht begann der Frost, Muster auf die schmalen Fenster der School of Pythagoras zu zeichnen. Eine Schneewehe, gefangen im Schatten zwischen den kalten Strebepfeilern des Gebäudes, war zu einer spiegelglatten Flanke gefroren. Die Frau, wer immer sie auch war, musste im Dunkeln hocken und warten. War da ein Treffen geplant? Mit Komplizen oder Sympathisanten? Kerzenschein flackerte hinter einem der an Schießscharten erinnernden Fenster, was das alte Gemäuer nur noch trostloser und kälter wirken ließ.
Punkt acht verlor Brooke die Geduld, ließ den Wachposten auf der Straße zurück und näherte sich mit Edison dem Haus. Die Verkehrsgeräusche aus der Ferne mussten ihre Schritte überlagert haben, denn als sie die Tür aufstießen, blickte die Frau, die in einen Schal gehüllt auf einer Bank Platz genommen hatte, erschrocken auf. Eine brennende Kerze in einem Marmeladenglas auf einem hohen Regalbrett zeichnete sie in scharfen Kontrasten, das Gesicht halb im Dunkel verloren.
Es war Marie Aitken. Ihr Blick huschte zwischen ihnen hindurch, als würde sie nach jemand anderem suchen. Dann sackten ihre Schultern herab, und sie zog sich den Schal fester um die Schultern. Die Lebhaftigkeit ihrer Mimik und Haltung, die sie jünger hatten erscheinen lassen, als sie tatsächlich war, schwand mit einem Mal dahin, und sie sah müde und bezwungen aus. Ein Kopftuch hielt ihr rotes Haar gefangen. Einer ihrer Mundwinkel hing herab, als hätte eine Lähmung ihr Gesicht befallen, und ihre sonst so strahlenden grünen Augen waren blutunterlaufen und sonderbar ausdruckslos.
»Ich dachte, wenn ich warte, wird er schon irgendwann kommen«, sagte sie. »Er wollte Geld und Kleidung, und ich habe Nein gesagt. Aber dann dachte ich: An wen kann er sich sonst wenden? Also bin ich zurückgekommen.«
»Mrs Aitken …«, hub Brooke an.
»Er ist geflohen, nicht wahr? Ich werde ihn nie wiedersehen. Das hat er mir angedroht, als ich ihm sagte, ich würde ihm nicht helfen. Dass er nach Norden gehen würde, dass sie ihn mit einem Schiff über das Meer schaffen. Und dann wäre er fort, ein neuer Mann mit einem Namen, den ich nie erfahren werde.«
Brooke setzte sich zu ihr. »Warum hat er Sie um Hilfe gebeten? Erpressung?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat um Hilfe gebeten. Hat Hilfe verlangt, weil ich seine Mutter bin«, sagte sie.
Wie es schien, barg St. Alban’s eine Menge Geheimnisse. Brooke fragte sich, ob dort noch mehr auf ihre Entdeckung warteten. Später würde er sich sagen, ihr nicht zu erzählen, dass ihr Sohn nackt und tot in der Leichenhalle lag, sei ein Akt der Güte gewesen. Ihr nicht zu sagen, dass er selbst ihm eine Kugel in den Rücken gejagt hatte.
Edison suchte einige Kerzen zusammen, alle in Marmeladengläsern, und fing methodisch an, eine nach der anderen anzuzünden. Brooke zog seinen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern, ehe er seinen Sergeant losschickte, den Wasp herzuholen, den sie an der Schule zurückgelassen hatten.
Sie brauchte Wärme und etwas zu essen.
»Joe Smith war Ihr Sohn?«, fragte er schließlich.
»Ja. Mein einziger Sohn.« Sie zog sich Brookes Mantel fest um die Schultern. »Und dazu hat es kommen müssen …«
Sie weinte, dicke Tränen rannen über ihr Gesicht.
Nach ungefähr einer Minute schien sie sich wieder etwas erholt zu haben. »Er war zwei, als sein Vater starb. Das ist keine Entschuldigung, nur eine Tatsache. Wir haben in Belfast gelebt. Der Mob war auf den Straßen. Er war immer dort, weil das die Lebensart dieser Leute war. Der Süden hat um die Unabhängigkeit gekämpft, und der Norden musste auch kämpfen. Mein Declan war ein Patriot, aber kein Kämpfer. Ich weiß nicht, warum er an jenem Tag rausgegangen ist. Die Gewalt, der Hass und natürlich der Alkohol – das hatte alles keinen Reiz für ihn. Er war ein sanfter Mann, der Bücher liebte. Und die gälische Sprache.«
Sie holte tief Luft. »In den Rücken geschossen«, sagte sie, spie die Worte förmlich aus. »Vielleicht von einem Soldaten. Von welcher Seite? Wir haben es nie erfahren. Er ist in der Gosse verblutet und hat mich mit dem Jungen zurückgelassen.«
Brooke bekam einen trockenen Mund angesichts der entsetzlichen Symmetrie der Ereignisse: in den Rücken geschossen.
Sie legte die Hand an die Lippen, und das Licht fing sich in ihren bunten Armreifen.
»Darum sind wir nach London gegangen. Meine Schwester ist auch mitgekommen. Dort ist Joe aufgewachsen. Ich wollte weg von all dem. Einen neuen Anfang machen für den Jungen.«
Nach einer Minute, in der sie sich in ihren Gedanken verloren zu haben schien, brach Brooke das Schweigen: »Aber Joe ist nicht in London geblieben?«
»Nein. Wir wären heute noch dort, wenn Declans Bruder nicht wäre. Rory ist mit uns gekommen, wissen Sie. Und er hatte so viele Geschichten und erzählte gern. Rory war ein großer Schwätzer. Hat einen Helden aus Declan gemacht, der für die gute Sache kämpfte und von den verhassten Briten niedergestreckt wurde.
Ich habe Joe die Wahrheit vorenthalten, also ist das mein Fehler. Und eine Lüge hat ihren Platz eingenommen. Aber so ist das, er hatte ein Recht auf seine eigene Geschichte. Er hat Declan vermisst, obwohl er ihn nie gekannt hat. Ein Junge braucht einen Vater. Ich hätte ihm einen neuen geben sollen. Das war mein zweiter Fehler.
Und sehen Sie, wohin das geführt hat. Rory war von Anfang an bei der IRA. Er hat Joe rekrutiert, und der war eine Gottesgabe, ein Ire ohne Akzent. Und sie haben ihm eine Geschichte geliefert, an die er glauben konnte, eine, in der er eine Heldenrolle spielte, ganz wie sein Vater. Rory hat ihn vor allem gelehrt, zu hassen und den Hass zu mögen. Das ist eine Sünde.
Sie haben ihn nach Dublin gebracht und dann weiter in den Westen, um ihn an der Waffe auszubilden. Der Plan war, dass er nach London zurückkehren und bei mir bleiben sollte, wenn die Bombenanschläge losgingen. Aber ich wollte nichts davon hören. Ich hatte schon in Poplar und Mile End als Haushälterin für die Kirche gearbeitet. Also habe ich die Stelle hier angenommen.
Er hat mich gefunden und hat mein Geheimnis entdeckt. Ich hatte einen Mann verloren. Ich hatte das Recht, mir einen neuen zu suchen. Es ist nicht meine Schuld, dass er Priester ist.
Joe aber fand das perfekt. Er brauchte eine Zuflucht, eine Nische, eine Basis. Irland hatte gerufen. Irland hatte Erwartungen. So hat er geredet. Gehirngewaschen, würde ich sagen. Ich hatte den Mund zu halten und zu helfen, wo ich konnte. Joe sagte, er stecke tief drin, und wenn ich ihm nicht helfen würde, dann würde er mit einer Schlinge um den Hals enden. Und er wollte kein Märtyrer sein. Noch nicht.«
Sie schüttelte den Kopf.
Brooke legte Schärfe in seine Stimme, auch wenn es ihm nicht leichtfiel. »Hat er das Kind getötet?«
»Wir beide …« Ihre Stimme brach, und sie presste die Hände an die Lippen. »Wir alle haben dieses Kind getötet. Sie wollten ihn auf dem Weg zur Station schnappen, ihn für einen Tag – vielleicht auch zwei – wegschaffen und im Keller verstecken. Und wenn sie getan hätten, was sie mit den Bomben machen wollten, würden sie ihn einfach vor der Tür abstellen, ohne einen Kratzer. Aber Colm ist nicht an den Jungen drangekommen, weil so viele Leute da waren. Also habe ich ihm an dem Abend etwas Laudanum in seinen Becher getan, damit er tief schläft. Als ich ihn durch das Gitter zu Joe runtergelassen habe, war er völlig weg.
Joe sagte, er hätte ihn im Keller schlafen lassen, während er losgegangen ist und Colm aufforderte, den Transporter zu holen. Sie wollten ihn hier einsperren. Aber als er wieder im Keller war, war da keine Spur mehr von dem Jungen. Der Keller war abgesperrt. Also wusste er, dass er sich versteckt hatte. Da ist ein Flaschenlager, und da haben sie ihn gefunden. Aber er hat versucht davonzulaufen, und Joe hat ihm mit einem Schraubenschlüssel gedroht, um ihm Angst einzujagen. Ein Schlag, und er war weg. Joe meinte, er hätte genug Tote gesehen und auf den ersten Blick Bescheid gewusst. Es war kein kaltblütiger Mord, hat er mir gesagt.«
Zornig blickte sie Brooke an. »Er hat gelogen, das weiß ich. Er hat ihn umgebracht. Habe ich ihm das von Geburt an mitgegeben? Kaltblütigkeit? Joe sagte, er sei im Kampf gestorben. Er sei ein kleiner Märtyrer.« Sie barg den Kopf in Händen und weinte. »Colm hat gesagt, sie müssten ihn schnell in den Fluss schaffen, also haben sie den Transporter benutzt. Joe ist mitgefahren.«
Sie hörten den Wasp über Eis und Schnee die Gasse heraufkriechen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann ihm nicht vergeben. Der Gedanke, dass das Kind noch gelebt hat … Er ist mein Fleisch und Blut, aber ich kann ihm das nicht vergeben. Er ist nicht seines Vaters Sohn. Für mich ist er jetzt gestorben.«
Brooke sah den bleichen, nackten Leib von Joe Smith auf dem Tisch in der Leichenhalle vor sich.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es gibt da etwas, das Sie wissen müssen.«