Die Tür von Chief Inspector Carnegie-Brown stand stets offen.
Brooke wartete und erging sich in einem wohlbedachten Hüsteln, als er sah, dass seine Vorgesetzte eine Akte studierte, eine Brille auf dem Rücken der markanten Nase. Sie saß hinter einem großen Schreibtisch mit einer geschnitzten Highland-Jagdszenerie, den sie von ihrem letzten Posten in Glasgow mitgebracht hatte. Alleinstehend, burschikos, reserviert war es ihr gelungen, einen – wenngleich widerstrebenden – Respekt für ihre Korrektheit zu erwerben. Brooke hatte sie gelegentlich bei seinen sommerlichen Schwimmausflügen gesehen, wenn sie an einem freien Tag zum Fliegenfischen am Ufer bei Fen Ditton kampierte. Stets haftete ihr ein Hauch der großartigen Natur Schottlands an.
»Brooke. Gut. Setzen Sie sich. Das Kind – irgendwas Neues?«
Brooke informierte sie, doch er sah ihr an, dass sie nicht zuhörte, sondern sich bereits zurechtlegte, was sie ihm zu sagen gedachte. Sie tauschten ein paar flüchtige Bemerkungen darüber aus, die Grafschaftspolizei zur Verstärkung bei der Suche hinzuzuziehen. Dann schob sie eine Akte über die makellose Schreibtischplatte zu Brooke.
»Die können Sie lesen, wenn Sie Zeit haben, aber lassen Sie mich Ihnen einen kurzen Überblick geben. Prinz Henry, Herzog von Gloucester, der Bruder des Königs, der eine kurze und unbeachtliche Laufbahn am Trinity College hatte, beabsichtigt, unsere schöne Stadt zu besuchen.«
Brooke war nicht gerade ein begeisterter Anhänger der königlichen Familie. Er war vollends zufrieden damit, für König und Vaterland zu kämpfen, aber die Angehörigen der weiteren Verwandtschaft, die ihm im Zuge seiner Pflichterfüllung begegnet waren, fand er durchweg beachtenswert unbeachtlich. Im Kopf versuchte er, den aktuellen Familienstammbaum zu rekonstruieren. Der alte König hatte fünf Söhne hinterlassen. Der Älteste – der in Ungnade gefallene Edward VIII – hatte abgedankt, um fortan der Herzog von Windsor zu sein. Damit fiel der Thron an George VI. Henry war der Nächstjüngere. Aber das waren nicht alle, da gab es noch einen jüngeren Prinz Richard und einen, der nach dem Großen Krieg gestorben war, ein kranker Junge, dessen Namen Brooke entfallen war.
»Ich weiß, wir erwähnen Windsor nicht mehr«, sagte Carnegie-Brown. »Und mit gutem Grund. Wir erwähnen auch Henry nicht, aus eher harmlosem Grunde. Ein Mann, so bedeutungslos, dass man ihn offenbar mit dem Spitznamen ›der Unbekannte Soldat‹ belegt hat.«
Brooke nickte. Er erinnerte sich dunkel, nach seiner Rückkehr aus dem Krieg einen königlichen Prinzen in einem Hindernisrennen reiten gesehen zu haben, bejubelt von einer loyalen Menge. Die Stadt war übellaunig, grau und erschöpft gewesen, so wie das ganze Land. Folglich wurde jede Gelegenheit zum Feiern mit geradezu manischer Begeisterung aufgenommen. Die Zuschauer veranstalteten ein großes Hurra und wedelten mit Fahnen; Kinder thronten auf Schultern, um einen Blick auf den Prinzen zu erhaschen. Er erinnerte sich an einen großen, beleibten jungen Mann, hoch aufgeschossen, aber füllig mit einem runden Kopf, der zur Antwort schüchtern die Hand erhoben hatte.
»Prinz Henry ist plötzlich viel wichtiger, als wir dachten«, fügte Carnegie-Brown frostig hinzu. »Der König hat zwei Töchter, die beide noch nicht alt genug sind, um ihrem Vater uneingeschränkt auf den Thron zu folgen, sollte er einer Krankheit oder einem Unfall zum Opfer fallen. Oder einem feindlichen Angriff, Gott behüte. Die Familie bleibt weiterhin in London, und der König wünscht, von Zeit zu Zeit die Front zu besuchen. Sollte irgendetwas passieren, werden wir einen Regenten benötigen. Henry wurde ausgewählt, diese Rolle zu erfüllen. Sollte also tatsächlich etwas passieren, wird er faktisch unser König sein, bis Prinzessin Elizabeth mündig wird. Anschließend wäre er dann ein nicht mehr ganz so unbekannter Soldat. Aber das ist offensichtlich ein hypothetisches Szenario, kein theoretisches. Maßnahmen wurden ergriffen. Seine persönliche Sicherheit ist von höchster Wichtigkeit. Wenn der König das Land verlässt – wie er es nächste Woche tun wird, um Frankreich zu besuchen –, ist es Henry verboten, das Gleiche zu tun, ungeachtet seiner derzeitigen militärischen Rolle als Verbindungsoffizier zwischen unserer Armee an der belgischen Grenze und Paris. Entweder König George oder Prinz Henry müssen stets sicher daheim im Reich bleiben.«
Etwas in Carnegie-Browns Stimme verriet eine nicht eben ungezügelte Zuneigung zu der Institution, die zu verteidigen ihre Pflicht war. Brooke vermutete da einen schwärenden schottischen Groll.
»Das alles summiert sich zu einem einfachen Problem: Wir müssen sicherstellen, dass sein Aufenthalt in dieser Stadt für weiter nichts als seine schlichte Vorhersagbarkeit in Erinnerung bleiben wird. Theoretisch koordiniert die Grafschaftspolizei die Sicherheitsmaßnahmen, praktisch müssen wir die Last der Verantwortung schultern. Er befindet sich auf unserem Terrain.«
Außerhalb des alten Stadtzentrums war die Polizei von Cambridgeshire zuständig. Ihr Hauptquartier lag keine halbe Meile entfernt auf Castle Hill. Die Beziehungen zwischen den beiden Dienststellen waren feindselig, obwohl niemand, den Brooke je danach gefragt hatte, in der Lage zu sein schien, diesen glühenden Antagonismus zu einem bestimmten grundlegenden Ereignis zurückzuverfolgen. Die Aussicht auf eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit war jedenfalls nicht gerade charmant.
Sie warf ihm über ihren Schreibtisch eine Notiz zu. »Wir können bei der Grafschaft um Arbeitskräfte und Unterstützung bei der Logistik ersuchen. Hier ist die Telefonnummer. Rufen Sie an, Brooke. Schaffen Sie all die Hilfe heran, die Sie kriegen können. Lassen Sie uns das hinter uns bringen und weiterziehen. Der Besuch ist für Samstag, den elften Januar, geplant. Jeglicher Urlaub ist gestrichen, hier und bei der Grafschaftspolizei.«
Wieder entlassen zog Brooke sich in sein Büro zurück und las die Akte. Der Zeitplan für den königlichen Besuch war angenehm banal. Prinz Henry gedachte mit dem Wagen anzureisen und eine Suite mit mehreren Zimmern im Trinity zu beziehen, um anschließend zu einem Fußballspiel auf Parker’s Piece zwischen einer Army-Mannschaft und einer, die die Universität aufgestellt hatte, zu fahren. Danach würde er zum Tee zu Fuß ins Trinity zurückkehren. Am Abend wurde er als Gast im Queens’ College erwartet. Man würde ihn einladen, das neue Fisher Building zu eröffnen, einen Erweiterungsbau am Westufer. Dort sollte ein formelles Festessen im Großen Saal stattfinden. Anschließend würde er ins Trinity gehen, um dort zu nächtigen, ehe er am Morgen nach dem Frühstück aufbräche, um mit dem Wagen zum St. James Palace zu fahren.
Brooke zapfte seine Geduldsreserve an und streckte eine Hand aus, um den Hörer abzunehmen und sich eine Verbindung zur Grafschaftstruppe herstellen zu lassen, doch kaum berührte er das Bakelit, klingelte das Telefon. Es war der diensthabende Sergeant der Wache. Ein Pater John Ward der St. Alban’s Church, Upper Town, hatte angerufen, um sie darüber zu informieren, dass man ihnen am Tag zuvor zweiunddreißig Evakuierte aus London geschickt habe. Sie alle hatten Essen erhalten und die Nacht in der Kirche verbracht. Ein Namensaufruf an diesem Morgen hatte ergeben, dass einer fehlte.
»Ein Fünfjähriger«, sagte der Diensthabende, aber Brooke war bereits aufgesprungen und griff nach seinem Hut, angetrieben von der Erinnerung an die fahle Hand, die die Oberfläche des silbrig-schwarzen Flusses durchbrach.