Die Upper Town und die katholische Kirche St. Alban’s lagen auf der anderen Seite der Great Bridge, dort, wo die Römer ihren Außenposten auf erhöhtem Gelände erbaut hatten, dessen höchsten Punkt die künstliche Kuppe des Castle Hill darstellte. Wenn er als Kind von dort aus nach Osten geblickt hatte, war es Brooke nicht schwergefallen, den durchdachten Ausführungen seines Vaters Glauben zu schenken, die besagten, das nächste so hoch gelegene Land wäre der Ural jenseits von Moskau, was die bitteren Winde zu erklären half. Die ganze Gegend hatte etwas Verlorenes an sich und moderte seit dem Schwarzen Tod still in Armut und Elend vor sich hin, vergessen über fünf Jahrhunderte, wären da nicht die Kais am Fluss. Kleine, schäbige Reihenhäuser kauerten sich in ein Labyrinth aus Straßen in dem steilen Ufergelände über dem Cam.
Immigranten waren gekommen und gegangen – Niederländer, Hugenotten, Letten – bis schließlich die Iren eintrafen und halfen, die Entwässerungsgräben für die Fens auszuheben, um anschließend schnurgerade Eisenbahnschienen zu legen. Die Lower Town, die sich mit mittelalterlich-honigfarbenen Steinen schmückte, hatte ihre mildtätigen Spenden entrichtet, um die himmelschreiende Not ihrer mittellosen Cousine auf dem Berg zu lindern: Eine weiterführende Schule, eine Methodistenmission und eine Reihe von Armenhäusern waren so entstanden. Die Arbeitslosigkeit in den Dreißigern hatte die Gegend schäbig und armselig zurückgelassen; noch heute, besonders im Zuge der Verdunkelung, war die Upper Town ein Ort, den man nach Sonnenuntergang tunlichst meiden sollte. In der Stadt stand sie in dem düsteren Ruf, eine radikale Politik zu betreiben, was ihr den Spitznamen Red Hill eingetragen hatte.
Während Brooke westwärts durch die verschneiten Straßen ging, konnte er die graue Silhouette der Upper Town mit dem sanften Berghang, den Burgruinen, dem Bezirksgefängnis und dem hohen Satteldach von St. Alban’s sehen, die sich scharf von dem eisblauen Himmel absetzte. Er schritt durch ein Gebiet, das in einer seiner geliebten alten Karten als Bridgetown ausgewiesen war, überquerte das Gewässer und gelangte in das Cambridge jenseits der Brücke. Zu einer Seite der Straße verdeckten die hohen Mauern des Magdalene College – der einzigen mittelalterlichen Einrichtung westlich des Flusses – die tiefstehende Sonne; auf der anderen Seite ragte eine ganze Reihe alter Häuser und Läden mit vorstehenden Obergeschossen mittelalterlicher Bauart über das Pflaster und die schmale Straße hinaus.
Als Kind hatte Brooke, wenn er zwischen Schule und seinem Zuhause kreuz und quer durch die Stadt gewandert war, heimlich diese Häuser inspiziert. Jedes Stockwerk wartete mit dem auf, was einer seiner Lehrer einst als »unzüchtige Bilder« bezeichnet hatte, schmiedeeiserne Konsolen, die allerlei Ausschweifungen darstellten: ein nacktes, eng umschlungenes Paar, ein Phallus zwischen Traubengebinden, die vorspringenden Brüste einer Frau – alles in mittelalterlicher Doppelzüngigkeit geschaffen, um den Teufel abzuwehren. Bedachte man den abwesenden Vater, den Tod der Mutter, als er gerade sechs gewesen war, und das Fehlen von Geschwistern, dann hatten ihm diese Bilder eine raue Version der Geschichte von den Bienen und den Blumen beschert.
Am Fuß des Castle Hill begann das Elendsviertel. Eine gewundene Straße lockte seinen Blick an. Leere Wäscheleinen spannten sich kreuz und quer über sie, und ein kleines Kind spielte mit einem Wägelchen in der Gosse. Zwei Hunde, die so gar nichts gemeinsam zu haben schienen, stritten sich um zusammengeknülltes Zeitungspapier, das einst Pommes frites enthalten hatte. Außer Sichtweite, ein paar Straßen entfernt, befanden sich die Mietskasernen – eine baufällige Ansammlung an Wohnhäusern auf einem Hügel mit dem einschmeichelnd süßen Namen Honey Hill; Adressen, die täglich auf der Liste der Beklagten im Amtsgericht auftauchten. Rechts auf dem ansteigenden Gelände stand St. Alban’s, ein abweisend viktorianisches Bauwerk aus grauem Gestein, die Linien streng und maschinell geformt, bar jeglicher heimeligen Spuren eines Maurermeißels. Ein verwilderter Friedhof führte zu einem breiten Vorbau, in dem Sandsäcke und Holz aufgestapelt waren. Als uniformierter Constable in den Jahren gleich nach dem Krieg hatte er hier oft Obdachlose angetroffen, doch die Kirche duldete sie, also hatte er sie stets in Ruhe gelassen.
Im Inneren, unter einer Doppelreihe runder Hängelampen, frühstückten Kinder an Tischen auf Stützböcken, die im Mittelgang des Kirchenschiffs aufgestellt worden waren. Die Kirchenbänke waren mit Bettwaren übersät, darunter waren Koffer verstaut, an denen noch immer die Evakuierten-Etiketten hingen. Es ging laut und fröhlich zu; eine Kakophonie des Geplappers, in der sich die berauschende Temperatur widerspiegeln mochte. Warme Luft stieg aus in den Steinboden eingelassenen Eisengittern auf. Ein Geistlicher in einer schlichten, schwarzen Soutane, der dabei war, Milch auf Becher zu verteilen, war auf Brooke aufmerksam geworden und winkte ihn herbei.
Er lächelte, noch bevor Brooke ihm die Hand schüttelte.
»Pater Ward?«
»Inspector Brooke? Frühstück? Ich kann Ihnen Toast und Tee anbieten. Sie müssten sich aber beeilen, die Kinder sind gefräßig wie die Tölpel.« Und genauso klang es auch: nach einer ganzen Kolonie Tölpel, die eine hoch aufragende Klippe belagerten. Ward war vielleicht Ende dreißig. Er hatte feine Züge, doch sein dichtes Haar war so weiß wie der Schnee vor der Tür. Keine Spur eines regionalen Akzents kennzeichnete seine Sprache, da waren nur die knappen, präzisen Laute eines englischen Universitätsabsolventen zu vernehmen.
Im Profil betrachtet erinnerte er Brooke frappierend an eine Hollywoodversion eines glamourösen Priesters. Claire hatte ihn ins Regent geschleppt, um sich Teufelskerle anzusehen, in dem Spencer Tracy sich bemühte, die Seele des Möchtegern-Gangsters Mickey Rooney zu retten. Ward hatte etwas von der muskulösen Attraktivität des Stars an sich, in dessen Schatten sich eine größere Sensibilität verbarg.
»Können wir uns irgendwo unterhalten?«, fragte Brooke.
Ward reichte die Kiste mit Milchflaschen weiter an eine Frau mittleren Alters, die eine Schürze trug und energisch Toast mit Butter bestrich. Sie nahm sie wortlos entgegen und stemmte sie hoch auf den Tisch. Ihr leuchtend rotes, auf dem Kopf aufgetürmtes Haar erinnerte Brooke an einen georgianischen Druck einer Dame der Gesellschaft, in deren Locken ein Vogelkäfig steckte. Die Ärmel ihrer Bluse waren hochgekrempelt, und einer ihrer Unterarme war vom Handgelenk bis zum Ellbogen mit bunten Metallarmreifen geschmückt. Sie bot einen mondänen Anblick, obwohl ihr Gesicht vor Schweiß glänzte.
Ward führte Brooke zum Altar, auf dem eine Monstranz ohne Hostie im inneren Rund das Licht einfing. Hier, nahe dem goldenen Tabernakel, traf ihn der Geruch des Weihrauchs beinahe wie ein physischer Schlag. Eine Nebentür führte zu einem bescheidenen Büro, das mit einem kleinen Fenster in Form eines Kreuzes gesegnet war, in das man grellrotes und blaues Glas eingesetzt hatte.
Der Geistliche setzte sich nicht. »Es tut mir leid, dass ich Alarm schlagen musste. Es ist nur so, dass die Verantwortung drückend ist: Dies sind Gottes Kinder, und eine Nacht lang war ich ihr Vater. Also habe ich angerufen.«
Wieder fiel Brooke die bemerkenswert klare englische Aussprache auf, und er stellte sich vor, diese Stimme würde die Nachrichten auf BBC vorlesen.
»Das Kind wird immer noch vermisst?«, erkundigte sich Brooke.
Ward schien ein wenig zusammenzusacken, ehe er den Kopf senkte und antwortete. »Ja. Sean Flynn, fünf Jahre alt. Er ist gestern zusammen mit den anderen mit dem Zug eingetroffen. Insgesamt waren es zweiunddreißig Kinder, zwanzig Mädchen, zwölf Jungen. Sie sind zu Fuß vom Bahnhof hergelaufen, und wir haben ihnen eine heiße Mahlzeit gegeben. Nur Suppe und Brot – aber es war genug da für eine zweite und dritte Portion. Mister Lloyd, der Krämer vom Gipfel des Hügels, hat uns zudem Äpfel zukommen lassen. Sie waren müde und enorm aufgeregt, also habe ich einen Gesang organisiert. Wir haben ein Piano, und Mrs Aitken – Sie haben sie draußen helfen gesehen – kann spielen. Es war wundervoll im Kerzenschein. Natürlich hat es auch Tränen gegeben, besonders zur Schlafenszeit. Da haben Gebete geholfen. Um neun habe ich abgesperrt, und wir haben die Namen aufgerufen. Wir haben sie gebeten, ihre Etiketten zu behalten, anderenfalls hätte hier ein heilloses Chaos Einzug gehalten, wie Sie sich sicher vorstellen können. Ich habe die Türen nicht wieder aufgeschlossen, sie waren die ganze Nacht verriegelt. Aber Flynn war fort, also habe ich angerufen.« Er berührte kurz den schwarzen Bakelithörer. »Natürlich haben viele von ihnen Heimweh, darum ist das nicht allzu überraschend. Wir haben festgestellt, dass das kleine Fenster in der Toilette nur angelehnt war. Das ist die einzige Möglichkeit, wie er hinausgelangen konnte.«
»Sind wir denn sicher, dass er rausgelangt ist? Haben Sie die Kirche durchsucht?«
»Ja. Zweimal. Das ist nicht so schwierig, Inspector. Dies ist eine arme Gemeinde mit einer armen Kirche. Marie – Mrs Aitken – hat die Kinder beaufsichtigt, während ich überall nachgesehen habe, im Beichtstuhl, der Sakristei – obwohl die auch abgeschlossen war –, in den Schränken, der Gewandtruhe, überall.«
»Dachboden? Krypta?«
»Wir haben weder noch.«
»Wo wohnen Sie?«
»Im Presbyterium nebenan, auf der Nordseite. St. Alban’s – die Schule, um genau zu sein – ist auf der anderen Seite der Kirche, im Süden. Insgesamt sind es drei Gebäude, alle um einen Hof geschart und alle im gleichen deprimierenden Stil erbaut, fürchte ich. Es gibt keine Verbindungstüren. Ein jedes steht für sich allein, wenngleich unser aller Leben vom selben Strang ist – wenn ich so poetisch sein darf.«
»Könnten Sie mich herumführen?«, bat Brooke.
Es gab eine Seitentür zum Hof, der unverkennbar als Spielplatz genutzt wurde. Kreidevierecke eines Hüpfspiels waren auf den Boden gezeichnet worden, und ein einzelner Satz Torpfosten zierte einen Abschnitt der kahlen Wand. Die Kirche nahm eine Seite ein, die Schule eine andere, das Haus die dritte, und alle trugen die gleiche institutionelle Uniform: grün lackierte Fensterrahmen und Türen, rote Ziegel mit viktorianischer Ausschmückung.
»Das ist Ihr Haus?«, fragte Brooke.
Ward sah so erschrocken aus, als hätte er es gerade zum ersten Mal gesehen.
»Ja. Erbaut wurde es für drei Priester, aber im Lauf der Zeit … ich bin allein.«
»Wo haben Sie letzte Nacht geschlafen?« Es gelang Brooke nicht, das kritische Wort unbetont zu lassen. Zwar war damit keine Beschuldigung verbunden, doch er sah einen Schatten über Wards offenes Gesicht huschen, ein flüchtiger Ausdruck der Enttäuschung.
»Ich habe in meinem Büro geschlafen, da, wo wir uns gerade unterhalten haben. Aber ich habe die Tür offen stehen lassen. Mrs Aitken hat draußen bei den Kindern übernachtet, gleich in der vordersten Bank. Sie ist eine Heilige.«
»Ich verstehe. Und wo schläft sie normalerweise?«
»Es gibt eine Haushälterinnenwohnung im Presbyterium, das ist unerlässlich. Katholische Priester sind nicht gerade für ihre häuslichen Fähigkeiten bekannt, Inspector. Oder für gefügige, dienliche Gattinnen.«
Also nicht ganz allein, dachte Brooke, während er gegen das Gefühl ankämpfte, abgefertigt zu werden. Der Ton des Geistlichen klang inzwischen auffallend heiter.
Sie kehrten ins Büro zurück. Ward legte einen Finger auf eine Akte auf seinem Schreibtisch.
»Ich dachte, das würden Sie sehen wollen: Einzelheiten zu dem jungen Flynn. Setzen Sie sich. Ich hole Ihnen die versprochene Tasse Tee.«
Brooke nickte. Das Angebot einer Tasse Tee war so etwas wie die übliche Währung unter denen, die nicht in den Krieg gezogen waren. Manchmal schien es geradezu unpatriotisch, auch nur daran zu denken, sie abzulehnen.
Er las die Formulare in dem rot-blauen Licht, das durchs Fenster strömte. Als Eltern waren Gerald und Mary Flynn aufgeführt, die Adresse lautete Askew Road, Shepherd’s Bush, London. Flynn war Schüler an der Sacred Heart gewesen, einer Diözesanschule, geleitet von der katholischen Kirche. Als Beruf des Vaters war Eisenbahnkaufmann vermerkt. Flynns schulische Beurteilung war auf zwei Worte komprimiert worden: »Leicht führbar«. Lesen bereitete ihm Mühe, seine mathematischen Fähigkeiten waren dürftig, aber er war gut im Sport, besonders im Fußball. Seine Größe war mit drei Fuß plus drei Zoll angegeben. Eine knappe medizinische Bescheinigung enthielt nichts Besorgniserregendes. Der Junge war am Tag zuvor im Bahnhof King’s Cross den Diözesanvertretern übergeben, sein Formular datiert und abgezeichnet worden.
Geräusche eines gutartigen Krawalls hallten durch die Kirche, als Ward mit der Tasse Tee zurückkehrte.
»Ich habe den Kindern gerade erzählt, dass Sean vermisst wird und sich vermutlich in der Kirche versteckt. Sie sollen ihn suchen. Das ist ein sehr aufregendes Spiel, und ich habe eine Orange als Preis ausgelobt.«
»Niemandem ist ein vermisster Freund aufgefallen?«
»Nein – aber das ist nicht verwunderlich. Die meisten Kinder, die nach Kriegsausbruch evakuiert wurden, wurden in großen Gruppen weggebracht. Ganze Schulen, auf jeden Fall ganze Klassen. Manche Eltern wollten ihre Kinder bei sich behalten; vielleicht, weil sie zu klein oder schüchtern waren. Die Regierung sagt uns ständig, dass die Angriffe kommen werden, und die Leute denken nun anders. Darum hat die Diözese beschlossen, die Daheimgebliebenen einzusammeln und alle zusammen zu verschicken – wenn man das so ausdrücken kann. Ein paar sind befreundet, Klassenkameraden, aber die meisten sind ganz allein. Sean gehört dazu, nehme ich an.«
Ward warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Die Kinder sind spät dran«, sagte er. »Ich werde sie nach nebenan zur Schule bringen müssen. Da findet eine Willkommensveranstaltung statt, und danach lernen sie die Leute kennen, die sich einverstanden erklärt haben, sie aufzunehmen. Oder die angewiesen wurden, sie aufzunehmen. Oder bezahlt. Die Kinder sind aufgeregt, aber auch ängstlich, das ist nur natürlich. Was soll ich tun, Inspector?«
»Lassen Sie die Kinder ihre Suche abschließen«, sagte Brooke. »Danach müssen Sie weitermachen. Bringen Sie sie zur Schule, und ich werde sehen, ob wir Sean finden können. Aber es gibt da etwas, das Sie wissen sollten, Pater …«
Eine Unterwassersuche im Fluss war keine Angelegenheit, die man der Öffentlichkeit vorenthalten konnte. Dafür waren Boote nötig und Netze und eine Menge Constables an den Ufern. Die Neuigkeit würde auch St. Alban’s bald erreichen. Brooke blieb keine andere Wahl, als ehrlich zu sein.
»Pater, Sie sollten auf das Schlimmste vorbereitet sein. Letzte Nacht ist ein Kind im Fluss ertrunken. Wir suchen gerade nach ihm. Es war ein kleiner Junge. Es tut mir sehr leid …«
»Oh Gott, nein.« Er schüttelte den Kopf, tastete mit einer Hand nach dem Schreibtisch, um sich abzustützen, und bedeckte mit der anderen die Augen. Ermattet, vorübergehend zusammengestutzt auf die Größe eines ganz gewöhnlichen Menschen, sank er zurück auf seinen Stuhl, und zum ersten Mal sah Brooke eine grausame Ironie in dem von der Kirche verliehenen Ehrentitel »Pater«, dem lateinischen Wort für »Vater.«