KAPITEL ACHT

Brooke schloss die Haustür auf und rief: »Zu Hause!«

Claire durchquerte den Flur, eine Auflaufform in Händen. Hitze stieg zwischen ihnen auf, als sie innehielt, um ihn zu küssen. Da ihre Tochter nun wieder unter demselben Dach lebte, fiel die abendliche Begrüßung etwas zurückhaltender aus. Zuvor waren sie einander in die Arme gefallen, um das tägliche Wiedersehen zu begehen.

Das alte Haus war zugig, aber aus dem Esszimmer drang das flackernde Licht eines Kaminfeuers, und die paar Schneeflocken, die in Brookes Windschatten hereingeflogen waren, schmolzen auf dem alten Vorleger rasch dahin, als er mit Stiefeln aufstampfte, an denen noch Schlamm und Schneematsch vom Flussufer hafteten.

»Du bist pünktlich. Sehr gut! Das ist mal etwas Neues.«

»Wir können den Jungen nicht finden, und es ist dunkel. Es gibt nichts weiter zu tun, und ich bin mit meinem Latein am Ende. Wenigstens wissen wir jetzt, wer er war. Ein Vaccie – aus St. Alban’s in der Upper Town.«

Claire eilte voran zum Tisch, der sorgfältig gedeckt war mit dem Besteck seiner Mutter und dem, was vom Kristallglas übrig war. Sogar ein Kerzenständer hatte sich gefunden.

»Was feiern wir?«, fragte er, schüttelte seinen Mantel ab und warf seinen Hut auf den Ständer.

Joy, immer noch in der Schwesterntracht aus der Tagesschicht im Krankenhaus, tauchte auf der Treppe auf und ging vorsichtig die Stufen hinab. Seine Tochter war im dritten Monat schwanger und strahlte vor Gesundheit. Sie sah aus wie ihre Mutter, adrett wie ein Kätzchen, doch ihre Farben hatte sie von ihm: dunkles, beinahe schwarzes Haar und blaue Augen. Claires angeborene, muntere Tatkraft fand ihren Widerhall in ihrer Tochter. Wenn die beiden zusammen waren, schienen sie einen kleinen Wirbelsturm an Aktivitäten zu entfesseln. Joy hatte den gesunden Menschenverstand ihrer Mutter, aber nicht die Spur ihres Kontrollbedürfnisses, des obsessiven Drangs, sich stets vergewissern zu müssen, dass auch alles in Ordnung war.

»Luke hat geschrieben«, sagte Joy zur Antwort auf eine entsprechende Frage ihres Vaters. »Es geht ihm gut, also dachten wir, wir sollten unsere Dankbarkeit für die gute Nachricht zum Ausdruck bringen.«

Auf dem Herd entdeckte Brooke eine Flasche Wein, einen der Clairets seines Vaters aus dem staubigen Keller. Er schenkte ein und inhalierte das erdige Bouquet.

»Wie geht es Doric?«, fragte Joy. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er sie zu heimlichen nächtlichen Besuchen in der Pförtnerloge mitgenommen, wo sie gelernt hatte, Brot über einem Kohlenfeuer zu rösten.

»Blüht und gedeiht. Man hat ihn zum Luftschutzhelfer gemacht. Jetzt hat er etwas, womit er dem Oberpförtner gegenüber prahlen kann, und triumphiert insgeheim.«

Sie nickte. »Mum sagte, du hättest angefangen, nachts zu schlafen. Stimmt das?«

»Nein, das tut es nicht. Ich komme nach Hause. Ich esse. Ich gehe ins Bett. Ich habe einen festen Ablauf – was, wie man mir gesagt hat, das ist, was ich brauche. Der Schlaf selbst stellt sich immer noch nicht ein, besonders dann nicht, wenn deine Mutter arbeitet.«

»Gib nicht mir die Schuld«, sagte Claire, zog die Tür zu und schloss die Wärme ein. »Schneit es immer noch?«

»Ein paar Flocken, mehr nicht.«

Brookes Insomnie, die nach Kriegsende im Sanatorium begonnen hatte, war im Lauf der Jahre schlimmer und zu einem Teil seines Lebens geworden. Aber Claire war aufgefallen, dass seine natürliche Energie schrittweise abnahm und seine Stimmung schlechter wurde, als ob die endlosen Tage, die in endlose Nächte übergingen, ihn auslaugten.

Angewiesen, einen Versuch zu unternehmen, das Geheimnis des Schlafs zu ergründen, hatte Brooke sich an einen alten Freund gewandt, einen Wissenschaftler namens Peter Aldiss. Der Mann war wie er selbst eine Nachteule und widmete sich vierundzwanzig Stunden am Tag einer scheinbar endlosen Reihe von Experimenten zur Untersuchung des Biorhythmus, der eingebauten natürlichen Uhr des Menschen. Vor dem Großen Krieg war Aldiss sein Zimmergenosse gewesen, und er hatte ein brüderliches Interesse an Brookes schlaflosem Albtraum entwickelt.

Aldiss’ Regelwerk basierte auf der Vorstellung, dass eine feste Routine installiert und strikt befolgt werden musste. Wenn Brooke die Augen aufschlug, musste er hinausgehen ins Tageslicht. Soweit es nicht zu sehr schmerzte, sollte er lediglich die ockerfarbene Brille aufsetzen, um so viel Licht wie möglich aufzunehmen. Während des Tages hatte Aldiss ihm mehrere Spaziergänge verordnet, besonders wann immer die Sonne herauskam. Die Mahlzeiten hatten beinahe religiös begangen zu werden: drei an der Zahl, um sie auf die verschiedenen Tagesphasen zu verteilen, vom Frühstück über das Mittagessen zum Abendessen. Während der Phase, die zum Schlafen vorgesehen war, durfte er nichts zu sich nehmen. Nach dem Abendessen gab es eine Zeit der Entspannung, ein langes, warmes Bad in dem torfig-braunen Wasser. (Heiß, in Brookes Fall, denn er verabscheute alles Lauwarme.) Dann ins Bett, in einem dunklen Raum, selbst wenn die Verdunkelungsregeln ausgesetzt wurden, das Fenster offen, sodass die Geräusche des Flusses über die Aue hereinsickerten. Bisher hatten die festen Abläufe keinen Schlaf erzeugt. Der Nachtschwärmer entfloh seinem Bett. Immerhin versuchte er es jede Nacht aufs Neue.

Nach dem Abendessen war es an Brooke, Lukes Brief vorzulesen, denn Claire und Joy erklärten beide, er habe die passende Stimme dazu. Zwar war ihr Sohn mit den primären Expeditionsstreitkräften über den Kanal geschickt worden, um sich für den Krieg bereitzuhalten, doch seine Einheit war nach Süden verlegt worden, um Truppen der französischen Armee zu unterstützen, die im lange umkämpften Grenzgebiet an der Saar lagerten.

Lukes Brief war familiär und drehte sich vorwiegend um Ernährung. Einen Abschnitt mochte Brooke besonders:

Roper, der beim letzten Mal dabei war, sagt, sie werden uns Gräben ausheben lassen, sobald der letzte Frost vorbei ist. Dann sind wir wieder da, wo es 1914 angefangen hat. Ich habe keine Lust, mir mein Quartier mit Ratten zu teilen. Die Schlauen tippen auf einen Angriff im Norden, genau wie beim letzten Mal. Dann wären wir weitab vom Schuss, was mir nur recht sein kann. Das Essen hier ist ausgezeichnet. Wir haben Eier gestohlen und alles geschossen, was sich bewegt. Und die Saar ist voller fetter Fische, auch wenn deren genaue Gattung ein Mysterium bleibt.

Am Ende faltete Brooke rasch den Brief zusammen und stellte die Frage, die das Haus zu überschatten schien wie die Bäume am Ufer.

»Und Ben? Irgendwas Neues?«

Joys Mann Ben war auf einem U-Boot. Als sie das letzte Mal von ihm gehört hatten, lag er vor Rosyth in Schottland und wartete auf Befehle. Zu Weihnachten, als sie ihn zum ersten Mal kennengelernt hatten, hatte er still und ruhig am Feuer gesessen und ihnen beschrieben, wie es war, in dem »Fisch« – wie er das U-Boot nannte – auf dem Meeresgrund zu liegen und reglos zu warten und zu lauschen. Sollte ihr Kind ein Junge sein, dachte Brooke, war ihm der Name Jonah vorherbestimmt. Ben, so schien es, schlief gern, wenn das U-Boot in der Tiefe lag, und offenbarte ein beinahe übermenschliches Maß an Nervenstärke und Gemütsruhe.

Joy schüttelte den Kopf. »Nichts. Keine Neuigkeiten … Was steht in der Zeitung?«

»Nicht viel«, sagte Brooke, faltete den Telegraph auseinander und überflog die Schlagzeilen. »Die Finnen setzen sich gegen die Russen zur Wehr, die Chinesen ziehen sich in der Konfrontation mit Japan zurück.« Beschönigend gab er einen Bericht wieder, demzufolge die Regierung unter Druck war, weil sie die Kontrolle über die norwegischen Häfen erringen musste, ehe die Deutschen ihnen zuvorkommen konnten, um die Roheisenlieferungen aus Narvik und Tromsø zu schützen. Sollte es an dieser Küste zu Kampfhandlungen kommen, wäre Bens U-Boot wirklich im Krieg.

»Und dann haben wir noch dies«, verkündete Brooke, als Claire, bereit zu ihrer Nachtschicht, in Uniform auftauchte und sich auf einen Stuhl setzte, um ihre Glasohrringe abzunehmen. »Die Darbietung des Abends.« Jeden Abend wählten sie etwas aus, das laut vorgelesen wurde, gewöhnlich, um der Innenschau zuvorzukommen und die Stimmung zu heben. Oft wurde die Auswahl von Dorics sorgsamer Lektüre der Zeitungen in der Pförtnerloge beeinflusst.

MANN MIT DREI FRAUEN BEI DEM VERSUCH ERTAPPT, EINE VIERTE ZU EHELICHEN

John Edward Shrike, ein Corporal des Royal Lancashire Regiment, wurde vor dem Schwurgericht zu Preston aufgrund zweier getrennter Anklagen der Bigamie für schuldig befunden.

Vor Gericht stellte sich heraus, dass Shrike, 38, seine erste Frau, die er 1935 geheiratet hatte, wegen »unüberbrückbarer Differenzen« verlassen habe, die Trennung aber »gütlich« verlaufen sei.

Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe verließ er das Heim der Familie in Croydon, Süd-London, und zog nach Ilford, Essex, behielt jedoch seine Stellung als Lokführer in der Untergrundbahn.

1936 lernte er seine zweite Frau kennen, die er im Standesamt zu Basildon heiratete. Shrike log über seinen Familienstand und nannte einen falschen Geburtsort.

Shrikes zweite Frau verließ ihn wegen eines anderen Mannes, und er blieb in ihrem Zuhause in Ilford, bis er sich bei Kriegsausbruch freiwillig meldete.

Seine dritte Frau lebte in Northallerton, Nord-Yorkshire. Er begegnete ihr an einem freien Tag während seiner Ausbildung in Catterick Camp, und sie heirateten im Standesamt von York.

Shrike schloss seine Ausbildung ab und wurde als Kanonier in Surrey in der Kaserne am Rande von Croyton stationiert. Seine Frau und sein Kind blieben in Northallerton.

Bei einer Tanzveranstaltung lernte er eine ortsansässige Frau kennen, der er bei ihrem zweiten Zusammentreffen einen Heiratsantrag machte. Sie bestand darauf, in der örtlichen Kirche zu heiraten, und das Aufgebot wurde bekanntgemacht.

Shrike besuchte seine erste Frau, die in der Nähe lebte und von der er sich im Guten getrennt hatte, um sie zu bitten, die Hochzeit zu ignorieren.

Er erklärte ihr, dass er den Gedanken nicht ertragen könne, dass sie alle aufeinanderträfen.

Sie aber ging zur Polizei.

Der Verteidiger sagte, Shrike sei »attraktiv und charmant und hat den Frauen erzählt, dass er eine große Summe Geldes erben würde«. Es fiele ihm schwer, allein zu leben, und ihm fehlten die regelmäßigen Mahlzeiten, wenn er nicht daheim sei.

Der Richter, Mr. Justice Acre, sagte: »Bigamie droht zu einem heimischen Wirtschaftszweig zu werden. Es gibt Anzeichen dafür, dass sie in diesem Krieg ebenso überhandnimmt wie im letzten. Frauen, getrennt von Familie und Freunden, müssen sich vor rücksichtslosen Männern in Acht nehmen, die sich selbst als frei von den Beschränkungen eines verpflichtenden Bundes begreifen.«

Brooke legte die Zeitung weg.

»Die ganze Welt hat den Verstand verloren«, bemerkte Joy.

Später, als er auf dem Dachboden in der Badewanne lag, versuchte Brooke, sich zu entspannen. Dies war einst die Zuflucht seiner Mutter gewesen, drei Stockwerke über dem Labor seines Vaters. Sie hatte die Badewanne einbauen lassen und den Raum mit einer Chaiselongue und einer Leselampe ausgestattet. Damals hatte Brooke auf dem Teppich gelegen, um der Gute-Nacht-Geschichte zu lauschen. In jenen Tagen war sein Schlaf voller Abenteuer, Burgen und Schatzsuchen gewesen.

Ehe er das Spinning House verlassen hatte, hatte Brooke den Befehl erteilt, die Suche im Fluss noch einen weiteren Tag fortzusetzen, doch der Augenblick, in dem er gefordert wäre, die Eltern des vermissten Jungen anzurufen, rückte immer näher.

Vermisst: Das war ein Konzept, von dem Brooke verfolgt wurde. Er war in der Wüste vermisst worden. Und er fürchtete nichts mehr, als dass Luke ein ähnliches Schicksal erleiden könnte, weshalb jeder seiner Briefe auch so wunderbar war.

Das Badewasser war nur noch lauwarm, also zog er den Stöpsel und sah zu, wie das Wasser kreiste. Ein vertrautes Gefühl der Verzweiflung kreiste ebenso. Er fragte sich, wie es dazu hatte kommen können, gerade einundzwanzig Jahre, nachdem die Waffen an der Westfront verstummt waren. Ein neuer Krieg würde jeden Moment ausbrechen. Und rückblickend war er unausweichlich.

Als Detective Sergeant war er einmal zu einer Ruhestörung vor dem Tivoli-Kino gerufen worden. Das musste 1936 oder 1937 gewesen sein – er wusste es nicht mehr genau, aber er erinnerte sich an den Titel des Films: Our Fighting Navy – Unsere kämpfende Marine. Eine Gruppe Kriegsgegner, samt und sonders Studenten, hatte sich draußen versammelt. Eine Gegendemonstration, organisiert von der Fascist League und tausend Mann stark, hatte sich, ganz im Geiste eines Student Rag, jener Manifestation der Rivalität zwischen zwei Institutionen, formiert. Brooke hatte sich gezwungen gesehen, seinen Constables den Befehl zu erteilen, ihre Schlagstöcke einzusetzen, als im Foyer ein Handgemenge ausgebrochen war. Er erinnerte sich an Sprechchöre: »Stürzt Hitler!« traf auf »Heil Hitler!«, und dann hatte jemand eine Stinkbombe geworfen. Das alles war ihm sehr englisch erschienen.

Und nun wartete Luke auf der anderen Seite des Kanals auf Tauwetter, damit er einen Schützengraben ausheben konnte.