Kriminaloberkommissar Rainer Schneekluth war seit mehr als einer Viertelstunde auf dem Gelände der Firma Krüger unterwegs, wurde von A nach B und dann nach C geschickt, ohne die Abteilung, in der Marlene Liebig arbeitete, gefunden zu haben. Er verstand nun, warum die Firmenleitung über eine Verlegung des Betriebes und einen Neubau nachdachte. Schade nur für die Stadt Lübeck.
Schneekluth hatte ein Foto der Vermissten in seiner Mappe. Die Frau war seit mehr als 60 Stunden abgängig. Der Ehemann hatte sich erstaunlich viel Zeit gelassen, bevor er gestern nach Feierabend seine Frau als vermisst gemeldet hatte. Das machte es der Polizei natürlich schwerer, eine heiße Spur zu finden. Immerhin hatte der Mann gleich ein gutes Foto mitgebracht. Auch das war nicht selbstverständlich.
Manchmal wunderte er sich, was für Aufnahmen die Leute von ihren vermissten Familienangehörigen anschleppten. Urlaubsbilder, Gruppenaufnahmen mit Gesichtern, die kaum drei Millimeter hoch waren. Frau Liebigs Aufnahme hingegen hätte aus der Mappe einer Modelagentur stammen können. Sie war schön. Er hatte sich ihr Bild nur ein paar Sekunden lang angesehen, doch seitdem wurde er das Gefühl nicht los, dass die zauberhafte Frau Liebig einfach mit einem anderen Kerl abgezogen war. So einfach und grausam konnte das Leben sein. Und daran änderten auch eine Heiratsurkunde und ein kleines Kind nicht viel, das hatte er nun schon mehrfach beobachten müssen. Aber er wollte nicht voreingenommen sein, er hatte sich ausschließlich auf die Fakten zu konzentrieren. Wenn er nur erst die richtige Abteilung gefunden hatte.
Seine Gedanken schweiften kurz von Marlene Liebig zu seiner Pamela. Die brachte mit ihrem Aussehen zwar keine Männerherzen zum Beben – seines auch nicht –, aber er wusste, was er an ihr hatte. Sie hatte einen Hintern wie ein Mercedes Kombi, aber dafür konnte er mit ihr lachen und reden und Spaß im Bett haben. Ein Adonis war er schließlich auch nicht …
Im Augenblick fühlte er sich mehr wie Odysseus auf seiner endlosen Reise durchs Mittelmeer. Gerade bog eine Sirene um die Ecke, die er nach dem Weg fragen konnte.
»Den zweiten Gang rechts hinunter, bis zum Ende, dann durch die Glastür, und schon sind Sie da«, gab die junge Frau ihm lächelnd Auskunft.
Schon! Schneekluths Blick wurde von dem kleinen Kreuzkettchen angezogen, dessen Anhänger fast zwischen ihren schneeweißen Brüsten verschwand. Er straffte die Schultern. Das war der einzige Schwachpunkt in seiner Beziehung zu Pamela. Sie wollte legalisieren, also heiraten, und er wollte die Hoffnung auf seinen Anteil an weiblicher Schönheit noch nicht ad acta legen. Noch nicht. Das Zauberwesen vor ihm lächelte noch einmal und verschwand durch eine Bürotür und aus seinem Leben.
»Ich kann Ihnen kaum etwas dazu sagen, Herr Schneekluth. Frau Liebig ist eine sehr zuverlässige und allseits geschätzte Mitarbeiterin bei uns. Ihr Fernbleiben ist zum momentanen Zeitpunkt eine einzige Katastrophe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie freiwillig weg ist, ohne hier Bescheid zu geben und Urlaub einzureichen oder so. Ihre Arbeit und ihr Fortkommen im Unternehmen sind ihr außerordentlich wichtig.«
Diese Einschätzung bekam Schneekluth von Andreas Mitak zu hören, Frau Liebigs Abteilungsleiter bei Krüger. Sie saßen in seinem Büro, dessen verglaste Seitenwände den Blick auf Laborräume und weitere Büros freigaben.
»Wissen Sie von persönlichen Gründen, die Frau Liebigs Verschwinden erklären könnten?«
»Nein. Sie hat nie über persönliche Dinge mit mir gesprochen. Unser Verhältnis war rein beruflicher Natur.«
»Aber als ihr direkter Vorgesetzter sollten Sie doch einen groben Überblick über ihr soziales Umfeld erlangt haben?«
»Nein. Sie verhält sich mir gegenüber äußerst zurückhaltend. Ich schätze, nun ja, wir sind beide nicht am Austausch von privaten Angelegenheiten interessiert.«
»Nun gut. Gibt es Mitarbeiter in dieser Abteilung, zu denen sie ein etwas privateres Verhältnis hat und denen sie vielleicht auch von persönlichen Sorgen oder Problemen erzählt hat?«
»Äh, Herr Barkau vielleicht. Er ist ihr persönlicher Assistent«, gab Mitak etwas widerstrebend Auskunft.
»Dann würde ich Herrn Barkau gern sprechen, wenn wir hier fertig sind.«
Der Abteilungsleiter sah auf seine Armbanduhr. »Wie lange brauchen wir noch? In einer Viertelstunde habe ich ein wichtiges Meeting …«
»Wenn Sie mir nichts weiter über Frau Liebig mitteilen können, sind wir im Grunde fertig. Vielleicht weiß Herr Barkau oder jemand anders hier etwas mehr über Ihre Mitarbeiterin zu erzählen.«
»Ja, natürlich. Aber Herrn Barkau können Sie nicht sprechen. Er ist nicht da, krankgeschrieben. Tja, also – in ein paar Tagen müsste er wieder da sein …«
»Was hat er denn?«
Andreas Mitak sah Schneekluth an, als hätte er einen unpassenden Witz gerissen.
»Das weiß ich nicht, und selbst wenn ich es wüsste. Er hat sich in der Personalabteilung krankgemeldet, und die haben es dann mir mitgeteilt.«
»Ist das der normale Weg bei Ihnen?«
Mitak zögerte. »Man kann es so oder so halten. Normalerweise werde ich im Krankheitsfall natürlich gern persönlich informiert, damit ich die Arbeit umorganisieren kann. Aber dieser Fall lag wohl etwas anders …«
»Wieso das?«
»Ähem. Barkau hat nicht selbst angerufen. Er liegt im Krankenhaus und kann wohl gerade nicht telefonieren …«
»Dann sind die paar Tage eher eine optimistische Schätzung«, meinte Schneekluth und genoss es, Mitak ein klein wenig in Verlegenheit geraten zu sehen.
»Kommen Sie. Ich stelle Ihnen Frau Kindermann und Frau Urban vor. Sie arbeiten mit Marlene Liebig an demselben Projekt und kennen sie, glaube ich, auch ganz gut.«
An den Reaktionen der besagten Damen auf Mitaks Erscheinen im Labor erkannte Schneekluth, dass dieser keinen leichten Stand in seiner Abteilung hatte. Frau Urban war etwas älter als ihr Vorgesetzter und strahlte mit Halbbrille und raspelkurzen Haaren eine natürliche Autorität aus, die Mitak fehlte. Frau Kindermann war deutlich jünger, aber auch sie agierte mit der gesunden Selbstsicherheit, die mit einem ansprechenden Äußeren und dem Genuss einer sehr guten Ausbildung für gewöhnlich einhergehen.
Leider wussten beide Frauen herzlich wenig über Marlene Liebig zu berichten. Eine fähige Mitarbeiterin, ehrgeizig, mit einem Hang zum Perfektionismus. Ihr Privatleben halte sie unter Verschluss. Dass sie eine Tochter und neuerdings einen Ehemann hat, habe man in der Abteilung eher am Rande erfahren.
»Schade nur, dass Barkau nicht da ist«, sagte dann auch Frau Urban, »der könnte Ihnen mehr über Frau Liebig erzählen. Sie hat ihn unter ihre Fittiche genommen, seit er Praktikum bei uns gemacht hat. Er vergöttert sie, könnte man sagen.«
Das war schon eher interessant. Schneekluth machte sich ein paar Notizen, obwohl er wusste, dass er für solche Details ein hervorragendes Gedächtnis hatte.
»Wissen Sie, in welchem Krankenhaus sich Herr Barkau befindet?«
Frau Urban sah ihn irritiert an. »Wieso Krankenhaus? Ist es etwas Ernstes? Fragen Sie am besten in der Personalabteilung nach. Wenn überhaupt, dann wissen die dort Bescheid.«
Schneekluth bedankte sich bei den beiden Frauen. Die nickten noch einmal kurz und wandten sich dann wieder begierig ihrer Arbeit zu. Was auch immer sie hier taten, es hatte mit Medizintechnik zu tun – ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Schneekluth gedachte sich zur Personalabteilung durchzufragen.
Die Personalabteilungsleiterin war teuer gekleidet und gut lackiert. Sie schien mit schätzungsweise Mitte 30 beruflich bereits dort angekommen zu sein, wo man sich ihrer Meinung nach nicht mehr mit einem verbindlichen Lächeln bei unverhofft aufkreuzenden Besuchern anbiedern musste. Als sie gehört hatte, dass er von der Kriminalpolizei war und sich nach Marlene Liebig erkundigte, hatte sie ihn ohne Umschweife direkt in ihr Büro vorgelassen. Sie stellte sich als Thea Bauer vor und bedeutete Schneekluth, in dem komfortablen Ledersessel vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Sie sind also wegen Frau Liebig hier. So, so. Ihr unerwartetes Fernbleiben hat uns schon Sorge bereitet«, sagte sie, nachdem Schneekluth ein paar einleitende Worte losgeworden war.
»Frau Liebig gilt als vermisst. Ihr Mann war gestern bei der Polizei und hat es gemeldet.«
»Ah ja. Das erklärt natürlich einiges. Sehr unerfreulich, diese Angelegenheit. Aber wie kann ich Ihnen da weiterhelfen?«
»Wir ermitteln in solchen Fällen auch im Arbeitsumfeld der vermissten Personen. In Frau Liebigs Abteilung hat man mir gesagt, dass Marlene Liebig recht guten Kontakt zu einem Mitarbeiter namens Moritz Barkau hatte. Aus diesem Grund ist es wichtig, schnellstmöglich mit Herrn Barkau Kontakt aufzunehmen. Da er zurzeit wohl krankgeschrieben ist, versuche ich, ihn privat zu erreichen. Sie können mir da sicher weiterhelfen?«
»Ich denke schon, wenn Ihre Ermittlungen es erforderlich machen … Meine Sekretärin kann Ihnen im Anschluss an unser Gespräch Herrn Barkaus Adresse heraussuchen«, sagte die Personalchefin und strich sich eine kupferblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sah immer wieder zu ihrem Telefon, und ihre ganze Haltung verriet, dass sie ihn schnell wieder loswerden wollte.
»Herr Barkau befindet sich im Krankenhaus?«
»Ja. Seine Familie hat uns unterrichtet. Ich habe nicht mit ihm persönlich sprechen können.«
Als das Wort »Krankenhaus« gefallen war, hatte Frau Bauer ziemlich unbehaglich dreingeblickt. Entweder fürchtete sie einen längerfristigen Krankheitsausfall, oder sie sorgte sich mehr um Herrn Barkau, als man es bei ihrer Position in der Firma erwarten würde.
»Wissen Sie wo und auf welcher Station er liegt?«
»Im Krankenhaus Süd. Die Station weiß ich nicht. Ich habe auch nicht nachgefragt, denn das geht mich nichts an.«
Sie fing an, mit den braun lackierten Fingernägeln auf die Schreibtischoberfläche zu klopfen. Als Rainer Schneekluth nichts dazu sagte, sondern sie nur auffordernd ansah, fuhr sie fort: »Ich hoffe natürlich, dass Herr Barkau uns von sich aus darüber informiert, was los ist. Herr Mitak muss schließlich wissen, wann er wieder mit ihm rechnen kann.«
»Dann wissen Sie auch nicht, ob man mit Herrn Barkau zurzeit über Marlene Liebig sprechen kann?«
Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Nein, natürlich nicht. Herrn Barkaus Krankheit ist allein seine Angelegenheit. Mich hat nur der gelbe Schein zu interessieren. Ich möchte ja auch nicht, dass die Firma weiß, ob ich vielleicht Fußpilz habe oder mir die Eierstöcke entfernen lasse …«
Sie legte es offensichtlich darauf an, ihn zu schockieren, doch dazu bedurfte es weit mehr. Schneekluth stand auf. »Ich will Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten, Frau Bauer. Krankenhaus Süd sagten Sie? Das liegt bei mir auf dem Weg. Einen schönen Tag noch.«
Rainer Schneekluth ging gemessenen Schrittes aus ihrem Büro und schloss betont sachte die Tür.
Hitze, Staub und bunte Postkartenständer versperrten ihm den Blick auf die Altstadt von Siena. Menschenmassen wälzten sich durch die schattigen Gassen und bereiteten jeglichem Italiengefühl den Garaus. So fand er keinen Zugang zu Kunst und Kultur vergangener Jahrhunderte. Im Gegenteil, das Brimborium rundherum war ihm zuwider.
Friedhold Brinkmann ließ sich müde auf den warmen Steinstufen des Doms nieder und fächelte sich mit seinem Stadtplan Luft ins schweißnasse Gesicht. Hinter ihm ragte die schwarz-weiß gestreifte Fassade des sakralen Monuments auf wie die Eiger Nordwand.
Überhaupt fand er dieses Mal, dass Siena nicht viel mehr war als ein Gebirge aus Steinen. Alten, dreckigen Steinen, wo die Tauben auch noch den letzten Zentimeter Schönheit mit ihrem beißenden Kot bedeckten.
Seine Frau Inge hatte sich heute Morgen geweigert, ihn hierher zu begleiten. Nach einer Meinungsverschiedenheit über den Verbleib ihrer Tochter schmollte sie in ihrem Hotel am Stadtrand.
Inge wollte einfach nicht begreifen, dass sie Marlene nicht ewig bemuttern konnte. Wenn sie das mit Clarissa tat, war das ja in Ordnung. Die Kleine konnte etwas Kontinuität und liebevolle Fürsorge sicherlich gut gebrauchen. Aber Marlene war eine erwachsene Frau. Wenn sie es vorzog, durch die Weltgeschichte zu vagabundieren, anstatt bei Mann und Kind zu bleiben, konnte er das auch nicht ändern.
»O matre pulchra filia pulchrior!«, zitierte er, von einer düsteren Vorahnung beschlichen. – Oh einer schönen Mutter schönere Tochter! – Wie kam er denn da jetzt drauf? Sollte er bei allen Sorgen und Kümmernissen, die seine lebenslustige Marlene ihm seit Jahren bereitete, auch noch seine Italienreise für sie abbrechen?
Er dachte gar nicht daran. Was würde das auch für Fragen aufwerfen. Die Nachbarn würden sich totlachen, wenn Inge und er nach zwei Tagen schon wieder nach Hause kämen. Die waren sowieso oft neidisch auf ihre Urlaubsreisen und das neue Auto. Probleme mit der Tochter der Brinkmanns kämen denen gerade recht, um die Köpfe zusammenzustecken und sich die übelsten Dinge auszudenken. Er hörte sie direkt, diese gespielte Mitleidstour, dieses hämische Frohlocken über das ungeratene Kind!
Geschieht dem hochnäsigen Herrn Brinkmann ganz recht, würden sie denken. Oberstudienrat, die Frau ebenfalls Lehrerin, aber bei dem eigenen Kind haben sie versagt. Ihre Tochter hat kein Verantwortungsbewusstsein. Wie ein äußerlich schöner Apfel, der innen faul ist …
Nein, er würde seine Reise durchziehen bis zum letzten Tag, es sei denn, ja es sei denn, die Nachrichten über Marlene wären wider Erwarten wirklich dramatisch. Ein Unfall? Bei einem Unfall müssten sie nach Hause zurück …
Aber das glaubte er nicht, denn Unkraut, so hieß es schließlich, Unkraut vergeht nicht, und seine Tochter war hartnäckiger als Bärenklau und genauso nützlich.
Er besichtigte pflichtschuldig den Dom, umrundete die Piazza del Campo und stieg die 503 Stufen des Torre del Mangia hoch. Dann kehrte er durstig und mit einer brennenden Blase am Fuß in sein Hotel zurück. In einer kleineren Kirche hatte er in einem schwachen Moment sogar eine Kerze für Marlene angezündet. Er war zwar evangelisch, aber er glaubte nicht, dass es vor Gott einen Unterschied machte, wenn er auf diese Weise um die Heimkehr seiner vermissten Tochter bat.
An der Rezeption des Hotels erwartete ihn der aalglatte Portier mit einer Nachricht in seinem Fach. Unwirsch riss er ihm den Umschlag aus der Hand. Inges vertraute kindliche Handschrift auf Hotelbriefpapier. Mit der Vorahnung schlechter Neuigkeiten las er sie noch am Tresen stehend.
Lieber Frieder,
ich halte die Unwissenheit hier nicht aus. Bin auf dem Weg nach Hause. Es tut mir leid.
Gruß Inge
Gruß Inge! Wütend schleuderte er das Papier zu Boden und trat darauf herum. Der Portier sah interessiert zu, brachte aber gleichzeitig die hässliche Porzellanvase, die auf dem Empfangstresen stand, vor ihm in Sicherheit.
Die Frauen haben ihren Kopf doch allesamt nur zur Zierde, dachte er erbost. Wenn Inge allein nach Hause zurückkam, dann hatten die Nachbarn ja gleich noch einen Anlass für wilde Spekulationen: Eheprobleme!
»Diskretion war Holger Michaelis’ zweiter Vorname«, stöhnte Michael Gerlach, der gerade die Ergebnisse seiner Befragungen vorgetragen hatte. »In seiner Praxis herrscht unter den angestellten Damen die einhellige Meinung, dass Holger Michaelis immer mal die eine oder andere Freundin nebenher hatte, aber niemand konnte Namen nennen oder konkretere Hinweise geben. Wir haben sein Adressbuch durchforstet, seine Telefonanrufe kontrolliert, aber wir wissen nicht, mit wem er sich tatsächlich getroffen hat.«
»In seinem Jachtclub ist es das Gleiche«, kommentierte Conrad Wohlert, der ebenfalls dem Ermittlungsteam angehörte, »alle sagen: Der hatte was laufen, aber niemand wollte mit mehr herausrücken. Sie wollten oder sie konnten nicht. Jedenfalls ist alles, was ich erreicht habe, eine vage Beschreibung einer Frau, die vor ein paar Wochen mal mit ihm zusammen auf seiner Jacht, der Juvenile, gesehen wurde. Sein Liegeplatznachbar hat sie zufällig erspäht, weil er mal spät abends an Deck seines Schiffes war, als Michaelis gerade einlief. Hier ist die Personenbeschreibung: Könnte jede zweite sein …«
Broders sah Kriminalrat Horst-Egon Gabler an, dass er Mühe hatte, seine Emotionen in Zaum zu halten. Ihm stand anscheinend die Pressekonferenz zur Havarie der Segeljacht und zu dem toten Segler bevor, und er hatte eigentlich nichts, was er bekannt geben wollte oder konnte. Die Pressesprecherin hatte ihm angeblich vorhin bei einem kurzen Telefonat versichert, sie könnten ermittlungsrelevante Gründe vorschützen, wenn sie noch keine neuen Informationen hätten. Aber vor Kameras, Mikrofonen und gezückten Bleistiften zu sitzen und nichts zu sagen war Kriminalrat Gabler bekanntermaßen ein Graus.
»Was ist mit den Nachbarn der Familie Michaelis in Neustadt?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Heinz Broders setzte sich erst mal auf seinem Stuhl zurecht und räusperte sich. »Also, ich war bei den Nachbarn zur Rechten, zur Linken, die Gegenüber sind im Urlaub. Die Nachbarn zur Rechten mit dem Nachnamen Müller behaupten, sie hätten Michaelis einmal ganz zufällig in einem Weinlokal getroffen, in Begleitung einer hübschen, dunkelhaarigen Frau, die sie aber nicht kannten. Das ist aber schon ein paar Monate her. Müllers waren sich nicht sicher, aber es muss vor Weihnachten gewesen sein.«
»Konnten sie sie näher beschreiben?«
»Angeblich nicht.«
»Kalter Kaffee«, tat Gabler die Sache geringschätzig ab.
»Den gab es auch«, kommentierte Broders, und ein paar der Anwesenden huschte ein Grinsen über das Gesicht. Er konnte nicht anders, er musste Gabler immer dann provozieren, wenn er so schlecht drauf war wie gerade jetzt.
Sie hatten so motiviert begonnen, geradezu hoffnungsfroh, wenn man die Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen so beschreiben durfte. Und nun saßen sie hier und gingen sich auf die Nerven.
»Ich habe vorhin mit einem vom K11 gesprochen. Rainer Schneekluth. Die haben eine neue Vermisstensache. Eine Frau. Könnte es da nicht einen Zusammenhang mit dem Schiffsunglück geben?«, fragte Gerlach.
Oswald Heidmüller, der sich bisher sehr zurückgehalten hatte, schreckte auf. Broders spitzte die Ohren.
»Wer ist die vermisste Person? Weiß du, wie sie heißt?«, fragte Heidmüller.
»Liebig, Marlene.«
»Dann ist sie die Schwägerin von unserer Kollegin Korittki. Ihr Bruder heißt Liebig mit Nachnamen. Ich hatte allerdings gehofft, dass sie inzwischen wieder aufgetaucht sei.«
Gablers Miene, beobachtete Heinz Broders, wurde, wenn möglich, noch düsterer. Er selbst fand diesen Aspekt faszinierend. Wie klein die Welt war. Ab und zu kam es halt vor, dass Kollegen Opfer oder gar Tatverdächtige persönlich kannten. Das war dann für die Betreffenden eine große Belastung. Entweder ließen sie sich von vornherein aus den Ermittlungen ausschließen oder aber, auch das war schon vorgekommen, sie ließen sich sogar als zusätzliche Kraft anderen Abteilungen zuteilen, um über den Verlauf der Ermittlung informiert zu sein. In diesem Fall war die Korittki aber gerade im Urlaub – was von Vorteil sein konnte.
»Wenn es eine vermisste Person gibt, deren Verschwinden zeitlich mit dem Fall Michaelis zusammenfällt, dann müssen wir überprüfen, ob sie sich zum Zeitpunkt des Unglücks an Bord der Jacht aufgehalten hat. Ich werde veranlassen, dass das DNA-Material von der Juvenile mit Proben verglichen wird, die wir uns von der vermissten Frau Liebig besorgen müssen. Und sei es nur, um die Möglichkeit eines Zusammenhangs auszuschließen.«
Gabler erhob sich von seinem Platz. Broders ahnte, was nun in seinem Kopf gerade vor sich ging. Bisher hatten sie im Fall Michaelis zwar einen Haufen Spuren auf der Jacht sicherstellen können, aber die waren bisher mit nichts zu verknüpfen gewesen. Was nutzte ihnen wundervolles DNA-Material, wenn sie keine Daten hatten, mit denen sie es vergleichen konnten? Diese vermisste Frau war zumindest eine Möglichkeit.
Bisher hatten sie nur Michaelis Spuren auf seinem Schiff eindeutig zuordnen können. Sie wussten nicht, wer ihn auf seinem letzten Törn begleitet hatte. Von der üblichen Crew, die an den Wochenenden manchmal mit ihm segeln gegangen war, war es keiner gewesen. Auch gab es bisher keine Spur des Giftes Aconitin an Bord der Jacht, obwohl man die Vorräte genau überprüft hatte.
Blieb noch die Aussage des Segelexperten, der die Mordkommission über den Zustand der Juvenile informiert hatte. Unter anderem darüber, dass zum Zeitpunkt der Kollision der Autopilot in Betrieb gewesen war. Und im Tank der Jacht hatte sich so gut wie kein Treibstoff mehr befunden, als sie der Peer Gynt in die Quere gekommen war. Nach Angaben des Experten fasst der Tank der Jacht 180 Liter, was bedeutete, dass sie bis zu 36 Stunden unter Motor laufen konnte.
Aber es gab weder neue Hinweise auf einen Selbstmord von Holger Michaelis, noch ob jemand das Schiff betreten und bei Michaelis Tod nachgeholfen hatte. Der Experte hatte ausgesagt, dass es kein Problem gewesen wäre, von einem anderen Boot aus an Bord der Juvenile zu gelangen. Es war im Übrigen kein Beiboot an Bord der Jacht gefunden worden, aber es konnte auch niemand mit Sicherheit sagen, ob sich vor dem Seeunfall eines dort befunden hatte. Alle anderen Rettungsmittel, wie zum Beispiel die Rettungsinsel, waren fest gewesen. Es war alles in allem äußerst rätselhaft.
Horst-Egon Gabler wies an, in sämtlichen Häfen in der Lübecker Bucht nachzufragen, ob am letzten Wochenende Boote aufgetaucht oder entwendet worden waren oder jemand irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse gemeldet hatte. Dann schob er ab zu seiner Pressekonferenz.
Heinz Broders, der fast sicher wusste, dass er trotz all seines Engagements niemals Leiter dieser Abteilung werden würde, war in diesem Moment ganz froh, nicht in seiner Haut zu stecken.