Pia erwachte mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben. Sie fühlte sich noch benommen, aber an dem gleichmäßig hellgrauen Himmel, den sie durch das Dachflächenfenster über ihrem Bett sehen konnte, erkannte sie, dass die Nacht eindeutig vorüber war.
Es war halb drei Uhr gewesen, als sie letzte Nacht bei Hinnerk aufgebrochen war. Nachdem die Kripoleute wieder gegangen waren, hatte Hinnerk ihnen dann doch noch einen Kaffee gekocht. Der Abend aber war verdorben gewesen.
Pia zog sich die Decke über die Ohren, obwohl sie wusste, dass sie nicht wieder würde einschlafen können. Kein angenehmes Dahindämmern mehr, den Traum weiterträumen, wie die Fortsetzung einer Seifenopernfolge. Erotische Fantasien ade, es war zu spät. Das unbefriedigte Verlangen der letzten Nacht würde sie bis in den neuen Tag begleiten.
Sie kämpfte sich aus dem Bett und rutschte beinahe auf der dünnen Plastikfolie aus, die den Schlafzimmerboden vor Farbspritzern schützen sollte. Pia wankte ins Badezimmer. Das Duschgel war alle, sodass sie sich mit ihrem Haarshampoo waschen musste. Als sie das Wasser abdrehte, hörte sie ihr Telefon klingeln. Sie wickelte sich in ihr Handtuch und tapste durch die kalte Küche.
Hinnerk war am Apparat. Er erkundigte sich nach ihrer Nacht beziehungsweise dem Rest davon.
»Hast du heute Abend Zeit?«, fragte er dann fast beiläufig. Er schaffte es, jeden Anflug von Sehnsucht aus seiner Stimme herauszuhalten, was ihn idiotischerweise umso begehrenswerter für Pia machte.
»Ich weiß es noch nicht. Bei der schwierigen Situation, in der mein Bruder momentan steckt, möchte ich verfügbar sein, wenn er mich brauchen sollte …« Wie kompliziert das klingt, dachte sie noch, während sie es sagte. Pia hatte Hinnerk am vergangene Abend kurz geschildert, welche Sorgen sie sich um ihre Schwägerin machten.
»Ach ja, deine kleine Nichte. Aber irgendwann schläft sie doch bestimmt?«
»Ich weiß es einfach noch nicht.«
Playing hard to get? Sie war wirklich unentschlossen.
»Soll ich dich später noch mal anrufen?«
Pia wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Hast du schon was von der ›Bullerei‹ gehört?«
»Bist du sauer, weil ich das gestern so gesagt habe?«
»Quatsch! Ich wollte nur wissen, ob die sich schon bei dir gemeldet haben?«
»Ja. Die wollen jetzt mit Moritz reden, weil ja in seinem Zimmer eingebrochen wurde, nicht in meinem. Aber daraus wird noch nichts. Ich habe mit Moritz’ Eltern telefoniert, die wiederum mit dem Stationsarzt im Krankenhaus gesprochen haben. Moritz geht es zwar besser, aber er soll noch nicht mit der Polizei reden. Die machen sich angeblich Sorgen wegen seines psychischen Zustandes. Die Ärzte dachten ja zunächst an eine Gastritis oder Salmonelleninfektion. Nun haben sie herausgefunden, dass er irgend so ein Gift zu sich genommen hat. Der Arzt wollte von Moritz’ Eltern wissen, ob er depressiv sei oder schon einmal von Selbstmord gesprochen hat.«
»Ein Suizidversuch?«
»Nein, das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen. Er hatte manchmal Liebeskummer oder Stress im Job, aber ehrlich, deshalb schluckt man doch kein Gift!«
»Was denn für ein Gift? Schlaftabletten?«
»›Aconitin‹ sagen die, ein Pflanzengift. Ich habe noch nie davon gehört … Sobald Moritz’ Zustand etwas stabiler ist, werden sie ihn wohl selbst dazu befragen.«
Schon wieder Aconitin? Das hatte sie doch neulich schon einmal gehört. Hatte Ossi das nicht erwähnt? Pias Puls beschleunigte sich bei der Erinnerung an das Telefonat mit ihrem Kollegen.
»Hinnerk. Darf ich dich heute Abend zurückrufen. Ich muss jetzt dringend ins Büro …«
»Ich bin ab fünf zu Hause«, gab er verdutzt zur Antwort, »ich habe Frühdienst heute. Ist irgendetwas?«
»Nein, alles in Ordnung. Ich melde mich, okay?«
Das Telefonat endete mit einem leisen, aber deutlichen Missklang. Pia beschloss, ihre halb fertigen Renovierungsmaßnahmen und die leere Duschgelflasche vorerst zu ignorieren. Sie zog sich an und fuhr mit dem Auto zum Polizeihochhaus. Auf der Fahrt fiel ihr ein, dass ihr Fahrrad noch am Krähenteich stand. Oder auch nicht.
»Was willst du denn schon wieder hier? Wohnungsrenovierung bereits beendet?« Das war ungefähr die Art von Begrüßung, die Pia erwartet hatte. Schade war nur, dass sie ausgerechnet von Oswald Heidmüller kam.
»Ich bin nicht zum Spaß hier. Ich bin zufällig auf etwas gestoßen, das mit eurer Wasserleiche zusammenhängen könnte.«
Sie schüttelte die Regentropfen von ihrer Jacke und warf diese dann auf die Fensterbank. Dann ließ sie sich auf ihren Bürostuhl fallen und prüfte den Inhalt der Thermoskanne auf dem Tisch. Sie war mit leerem Magen losgefahren, und ein Becher Kaffee käme jetzt gerade recht. Von dem Alkohol gestern Abend war ihr noch ganz flau.
»Zufällig? Willst du eine Alka Selzer? Du siehst scheußlich aus.«
»Jetzt nicht. Du hattest mir doch erzählt, dass bei der Wasserleiche, die am Sonntag am Strand lag, Gift mit im Spiel war. Wie hieß das Gift?«
»An ’nem schönen blauen Sonntag … lag ein toter Mann am Stränd …«, sang Heidmüller falsch und scheußlich.
Irgendetwas lief heute verkehrt. Vielleicht hatte Ossi eine ähnlich turbulente Nacht hinter sich wie sie: erst spielen die Hormone verrückt, dann folgt die Ernüchterung. Oder wie kam er jetzt auf die Dreigroschenoper?
»Spuck es aus. Es ist wichtig.« Ihr Tonfall wischte ihm augenblicklich das Grinsen aus dem Gesicht.
»Aconitin«, sagte er mit nüchterner Stimme.
»Aconitin, genau. Ich habe mich also nicht geirrt. Wusstest du, dass es vor kurzem in Lübeck einen weiteren Vergiftungsfall mit dem Zeug gegeben hat?«
»Ist mir neu.«
»Ein Mann ist wegen akuter Magenprobleme und Verdacht auf eine Gastritis oder eine Salmonelleninfektion ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ärzte haben herausgefunden, dass Aconitin die Ursache für seine Beschwerden ist.«
»Woher weißt du das?«
»Das hat mir gerade jemand erzählt. Weißt du, ob Gabler heute in seinem Büro ist. Ich finde, dass er umgehend darüber informiert werden sollte.«
»Er kommt heute später. Er hat noch einen Termin vor Gericht, glaube ich.«
»Okay, dann warte ich.«
»Hast du schon was von deiner Schwägerin gehört. Ist sie wieder aufgetaucht?«
»Nichts! Wir machen uns inzwischen alle große Sorgen um sie.« Bei »alle« musste Pia an ihre Mutter denken, die heute aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Gott sei Dank mit einem negativen Befund, ergo positivem Ergebnis.
»War denn dein Bruder endlich bei der Polizei?«
»Ja, vorgestern. Die Vermisstensachen bearbeitet doch meistens das K11. Kennst du da jemanden, den ich mal ansprechen könnte?«
»Versuch’s mal mit Rainer Schneekluth. Sein Büro ist das erste auf der rechten Seite. Ich bin mit ihm auf der Fachhochschule gewesen. Kannst ihm einen schönen Gruß von mir bestellen, er schuldet mir noch einen Big Mäc und ’ne Cola …«
»Ich schaue gleich bei ihm rein und sage hallo. Oder willst du mich ihm vorstellen, dann könntest du gleich deine Schulden eintreiben?«
»Lieber nicht. Versuch dein Glück, vielleicht erzählt er dir was.«
Schneekluth saß am Schreibtisch und tippte auf seiner Tastatur herum. Er war allein im Raum. Beim Eintreten fiel Pias Blick auf Aktenstapel, lose Zettel, benutzte Kaffeebecher und eine Familienpackung Kekse, die um eine Vormachtstellung auf der Schreibtischoberfläche rangen.
»Herr Schneekluth, haben Sie einen Moment Zeit für mich?« Irritiert sah Schneekluth auf. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Pia stellte sich ihm vor und sah eine Mischung aus Verwunderung und Misstrauen über sein Gesicht huschen, bevor er seine Mimik wieder im Griff hatte und seinen Mund zu einem Lächeln verzog.
»Freut mich. Rainer Schneekluth. Ich bin seit Dienstag mit dem Vermisstenfall Liebig befasst. Dann sind Sie also die Schwägerin der Vermissten. Ihr Bruder erwähnte so etwas, als wir miteinander gesprochen haben. Ich wäre sowieso noch auf Sie zugekommen. Sie sind mir jetzt nur zuvorgekommen.«
Schneekluth loggte sich aus dem Programm aus, in dem er gerade arbeitete. Pia beobachtete ihn dabei. Er hatte eine kräftige Statur mit einem auffallend großen Kopf, dunkelblondes, schon etwas lichtes Haar und dunkle, kleine Augen. Eine dezente Lücke zwischen den Vorderzähnen gab ihm trotz seiner Statur etwas Niedliches und Harmloses, aber Pia vermeinte an seiner Physiognomie und den ruckartigen Bewegungen einen ernst zu nehmenden, wenn nicht gefährlichen Kriminalbeamten zu erkennen.
Gefährlich im Sinne von effektiv und skrupellos, mit einem leicht grausamen Zug um die weichen Lippen.
»Mein Bruder macht sich große Sorgen um Marlene. Und alle anderen aus der Familie natürlich auch. Falls Sie noch irgendwelche Informationen über die Vermisste benötigen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung …« Pias Anliegen, im Gegenzug über den Stand der Ermittlung Marlene betreffend informiert zu werden, stand unausgesprochen im Raum.
Schneekluth lächelte freudlos und griff nach seinen Zigaretten. Eine Geste, die wohl seiner Gleichgültigkeit gegenüber irgendwelchen familiären Verwicklungen Ausdruck verleihen sollte.
»Kennen Sie die Vermisste gut, Frau äh … Korittki?«
»Marlene und mein Bruder, Tom Liebig, haben im September letzten Jahres geheiratet. Wir haben aber nicht sehr viel Kontakt zueinander.«
»September? War da nicht auch die Sache mit dem Altstadtfestmörder, in dessen Schusslinie Sie geraten sind?«
Er wusste also auch von ihrem spektakulären Einsatz im Fall des Altstadtfest-Mörders, der ihr in Polizeikreisen eine gewisse Bekanntheit eingebracht hatte.
»Genau am selben Tag«, bestätigte Pia beiläufig, »jedenfalls hoffe ich, dass Frau Liebig bald gefunden wird. Gesund und munter. Haben Sie schon ein Gefühl bei dem Fall, nachdem Sie die ersten Befragungen durchgeführt haben?«
»Gefühl? Sagen wir mal: Ich bin einer Sache auf der Spur, die recht vielversprechend aussieht, Frau Korittki. Aber natürlich ist es noch viel zu früh …«
»Haben Sie schon Kontakt mit den Schweizer Behörden aufgenommen? Vielleicht ist Frau Liebig tatsächlich nach Zürich geflogen? Marlenes Freundin, diese Frau Charnin, könnte noch einiges wissen …«
»Haben Sie Frau Charnin kontaktiert?«
Dieser Mann konnte seine Fragen setzen wie Messerwürfe, und das, während ihm der Rauch seiner Zigarette aus Mund und Nasenlöchern quoll.
»Selbstverständlich habe ich sie angerufen. Jeder Angehörige würde das tun. Das ist doch das Erste, bevor man sich überhaupt an die Polizei wendet.«
Schneekluth hob bedächtig die Schultern.
»Wenn ich Sie in dieser Sache auf dem Laufenden halten soll, würde ich das vorher mit meinem Vorgesetzten abstimmen wollen, Frau Korittki.«
»Ja, tun Sie das.«
»Nichts für ungut, Frau Korittki. Zurzeit kann ich Ihnen wirklich noch nichts sagen. Sie wissen ja, wie das mit Vermisstensachen ist. Wenn mein Chef sein Okay dazu gibt, können wir uns morgen mal kurz zusammensetzen. Dann weiß ich vielleicht auch schon etwas mehr. Vorher werde ich noch einen Arbeitskollegen Ihrer Schwägerin befragen, der im Krankenhaus liegt …«
Schon mit der Türklinke in der Hand blieb Pia stehen und sah Schneekluth erstaunt an. »Ich höre nur noch Krankenhaus, gibt es denn keine gesunden Menschen mehr in dieser Stadt?«
»Wieso?«
»Ach, schon gut. Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen.«
Pia zog die Tür hinter sich zu und schüttelte wie betäubt den Kopf. Aconitin, Vermisste, Tote, Krankenhäuser … Ihren nächsten Urlaub würde sie auf Hawaii verbringen!
»Ich hab’s schon gehört. Die Vermisste Marlene Liebig ist Ihre Schwägerin, Frau Korittki.«
»Ja, die Frau meines Bruders. Ich kenne sie allerdings nicht besonders gut. Die beiden haben letzten Herbst geheiratet, aber wir hatten nicht sehr viel miteinander zu tun.«
Gabler starrte sie missgelaunt an. Dann fing er sich wieder. »Wer genau kümmert sich um die Vermisstensache?«, wollte er wissen.
»Unter anderem Rainer Schneekluth vom K11. Ich habe eben schon mit ihm gesprochen. Er will sich mit seinem Vorgesetzten absprechen und mich dann gegebenenfalls über seine Ergebnisse in dem Fall auf dem Laufenden halten, hoffe ich …«
»Von mir aus spricht nichts dagegen, wenn Sie über die Entwicklungen in der Vermisstensache auf dem neuesten Stand gehalten werden. Ihre Kenntnisse über die Vermisste und ihr Umfeld werden den Ermittlungen sicherlich nicht schaden. Und Sie wollen das doch sicherlich auch? Nur keine Alleingänge, aber das wissen Sie ja. Sie werden die Ermittlungsergebnisse ja nicht gefährden wollen, indem Sie sich zu sehr dort einklinken. Wie lange haben Sie noch Urlaub?«
»Eigentlich bis Montag, aber …«
»Schon klar, Frau Korittki. Kommen Sie morgen wieder. Ein bisschen Unterstützung im Fall Michaelis könnten wir hier oben nämlich auch noch gebrauchen. Und sagen Sie mir auch Bescheid, wenn sich im Fall Liebig etwas Neues ergibt.«
»Da ist noch etwas, weshalb ich hier bin.«
»Und zwar?«
»Aconitin. Ich habe von einem Mann erfahren, der mit einer Aconitinvergiftung im Krankenhaus liegt. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zu dem Toten aus Pelzerhaken …?«
»Wer ist der Mann?« Gabler sah mit einem Mal aus, als hätte er einen elektrischen Stromschlag bekommen.
»Sein Name ist Moritz Barkau, er liegt im Krankenhaus Süd auf der Inneren.«
»Wissen Sie mehr darüber?«
»Wenig. Sein Mitbewohner hat ihn vor ein paar Tagen mit starken Schmerzen in der gemeinsamen Wohnung aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht. Der Arzt hat den Familienangehörigen gesagt, dass er eine Aconitinvergiftung habe.«
»Ein Teufelszeug, dieses Pflanzengift. Wird er überleben?«
»Ich weiß nicht mehr, als ich Ihnen erzählt habe. Da Aconitin aber ein seltenes Gift zu sein scheint, wollte ich Sie in jedem Fall informieren.«
»Das war die richtige Entscheidung. Alles Weitere können Sie mir überlassen, Frau Korittki, ich werde mich darum kümmern. Bis morgen dann …«
Er griff zum Telefonhörer und tippte hastig eine Nummer ein. Vor der Tür von Gablers Büro sah Pia auf ihre Uhr. Es war schon wieder Zeit, Clarissa vom Kindergarten abzuholen.
Das Geräusch der Türklingel hallte nachdrücklich durch die stillen Wohnräume. Pia öffnete die Tür und wäre beinahe von Inge Brinkmann umgerannt worden, die mit resolutem Schwung die Liebig’sche Wohnung enterte. Sie sah sich erwartungsvoll um.
»Wo ist mein kleines Mädchen denn? Wo ist Clarissa?«
»In der Küche, wir essen gerade etwas«, antwortete Pia knapp. Sie war direkt vom Kommissariat zum Kindergarten gefahren, um Clarissa abzuholen und auf sie aufzupassen, bis Tom von der Arbeit nach Hause kam. Durch die unangekündigte Ankunft von Marlenes Mutter fühlte sie sich überrumpelt.
Pia hatte die Frau mit dem silbergrauen Kurzhaarschnitt und den fast kohlschwarzen Augen erst zwei Mal in ihrem Leben gesehen. Auf Marlenes und Toms Verlobung und auf ihrer Hochzeitsfeier. Nun stand sie unangemeldet im Flur und machte ein Gesicht, als müsse man vor ihr auf die Knie fallen und ihr die Füße küssen.
Sie eilte an Pia vorbei in die Küche. Pia hörte die Freudenschreie der Kleinen und musste eher gegen ihren Willen lächeln. Clarissa war von dem Überraschungsbesuch begeistert, und das war ja wohl die Hauptsache. Außerdem enthob Inges Rückkehr Pia von ihren Verpflichtungen hier, was ihr bei der derzeitigen Lage im Kommissariat nicht gerade unwillkommen war.
»Frieder ist noch in Siena«, berichtete Inge ihr von ihrem Ehemann, als sie kurze Zeit später bei einer Tasse Kaffee in Toms und Marlenes Küche saßen. »Er wollte partout nicht zurück, aber ich konnte nicht dort sitzen und alte Steine anschauen, während Marlene vermisst wird und Tom hier allein mit meinem Enkelkind klarkommen muss. Wenn ich einen besseren Flug bekommen hätte, wäre ich gestern Abend schon hier gewesen. Tut mir leid, dass du so viel Zeit opfern musstest.«
»Na, ein Opfer war es ja nicht gerade. Clarissa und ich sind gut miteinander ausgekommen«, sagte Pia. Sie senkte die Stimme, damit das Mädchen, das gerade nebenan im Flur spielte, nicht mithören konnte. »Aber sie freut sich natürlich, dass du wieder da bist. Die Abwesenheit ihrer Mutter macht ihr schon sehr zu schaffen.«
»Wie lief es im Kindergarten?«
»Gut, soweit ich weiß. Am Dienstag musste ich Clarissa allerdings früher abholen, weil es Probleme gab …«
»Ach wirklich? Was war denn los?«
Pia schilderte kurz den Vorfall mit dem Fleck auf dem Kleid. Inge hörte mit gerunzelter Stirn zu und rührte hektisch in ihrem Kaffee herum.
»Hast du eine Ahnung, warum sie so heftig reagiert haben könnte?«
»Nein, überhaupt nicht.« Inge hob abwehrend den Löffel aus der Tasse, und ein paar braune Tropfen fielen auf eines von Marlenes sandfarbenen Stoffsets.
»Vielleicht war es ihr Lieblingskleid? Der Fleck ist leider nicht ganz herausgegangen. Ich habe es Clarissa noch gar nicht wieder gezeigt.«
»Schmeiß es weg«, sagte Inge Brinkmann ein wenig zu scharf, »sie soll es nicht wieder ansehen müssen.«
Das Thema schien für sie erledigt zu sein.
»Und mir ist aufgefallen, dass sie große Angst davor hat, mal ein paar Minuten allein zu sein …«
»Das ist normal in dem Alter. Kinder machen solche Phasen durch. Wart ihr draußen?«
»Natürlich …«
Inge schien zu erwägen, ob sie noch etwas erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. Ihre Augen sahen so aus, als fixierten sie einen Punkt, der weit außerhalb dieser Küche lag. Pia trank den Rest Kaffee in ihrer Tasse mit einem Schluck aus.
»Hast du eine Idee, wo sich Marlene aufhalten könnte?«, wagte sie anschließend einen Vorstoß in das ungemütliche Schweigen hinein. Inge schüttelte den Kopf, trank ebenfalls aus. Ihr Kopf zitterte dabei.
»Hat Marlene mal einen Freund erwähnt, einen Liebhaber oder auch eine Freundin?«
»Was willst du damit andeuten?«
»Ich versuche herauszufinden, wo Marlene sein könnte.«
»Den Liebhaber könnt ihr euch abschminken. Marlene hatte immer viele Verehrer, aber zum jetzigen Zeitpunkt hätte sie nie, nein, undenkbar …«
Was ist undenkbar? Dass sie so kurz nach ihrer Hochzeit fremdgegangen ist? Ich habe schon Unwahrscheinlicheres gehört.«
»Nein, nein.« Inge schien kurz irritiert. »Mit dem jetzigen Zeitpunkt meine ich … wisst ihr es denn noch gar nicht?«
Ein ungutes Gefühl beschlich Pia, als sie fragte: »Was wissen wir denn nicht?«
»Marlene ist wieder schwanger. Sie hat es mir letzte Woche erst erzählt.«
»Oh je …« war alles, was Pia dazu einfiel.
»Daher weiß ich, dass sie zurückkommt. Sie hat sich so sehr gefreut, noch ein Kind zu bekommen. Ich finde, Tom macht einen viel zu großen Aufstand.«
»Wie bitte?«
»Bestimmt weiß er, wo sie ist. Oder er ahnt etwas. Aber er rennt gleich zur Polizei, um die Sache möglichst unangenehm für uns alle zu machen …«
»Er hat keine Ahnung, wo Marlene steckt. Er ist verzweifelt. Und wenn du etwas weißt, solltest du schon um Clarissas willen helfen, die Sache aufzuklären.«
»Nein. Ich habe nicht einmal eine Vermutung. Aber um Clarissa musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe mich schon immer viel um sie gekümmert, und zwar seit ihrer Geburt.«
»Das mit Marlenes Schwangerschaft sollte die Polizei wissen. Es könnte wichtig sein.«
»Aber sie hat es mir doch anvertraut. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es mit ihrem Verschwinden etwas zu tun hat.«
»Die ganze Situation ist unvorstellbar. Tue es bitte einfach, Inge.«
»Ihr wisst wohl immer ganz genau, was zu tun ist, du und dein Bruder, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht, worauf du da anspielst.«
»Vergiss es einfach.«
Pia erhob sich. Die Art dieser Frau, dieser selbstherrliche Fatalismus ging ihr auf die Nerven. Weshalb hatte sie überhaupt ihren Urlaub abgebrochen, wenn sie der Meinung war, das alles sei nur halb so wild?
»Du kannst unbesorgt gehen«, sagte Inge Brinkmann, »ich kümmere mich um alles. Tom weiß schon Bescheid, ich habe ihn vom Taxi aus kurz angerufen.«
Kurz bemitleidete Pia ihren Bruder wegen seiner Schwiegermutter. Sie jedenfalls fand keine Basis, auf der sie sich mit ihr verständigen konnte.
Auf dem Weg zu ihrem Auto zog Pia ihr Handy hervor, um Hinnerk endlich zurückzurufen. Es ging nur die Mailbox dran, darum sprach sie ihm eine Nachricht auf Band, in der sie ihm mitteilte, dass sie sich abends nicht würden sehen können.
Solange Pia nicht wusste, was es mit diesem Aconitin auf sich hatte, mit dem sich sein Mitbewohner vergiftet hatte, wollte sie sich nicht mit ihm treffen. Schließlich würde sie ab morgen wieder mit dem Fall der Wasserleiche befasst sein.