Freitagmorgen trat Pia wieder offiziell ihren Dienst im Kommissariat an. Ossi, der kurz nach ihr das gemeinsame Büro betrat, reagierte auf ihre unverhoffte Anwesenheit mit Erstaunen. Er hatte noch nichts von der verkürzten Urlaubswoche erfahren, da ihn am gestrigen Tag um die Mittagszeit eine Befragung außer Haus beschäftigt hatte.
»Oh, hi, Pia. Schon wieder hier? Bist du denn jetzt endlich fertig mit dem Renovieren?«
Pia schüttelte den Kopf. »Davon kann nicht die Rede sein. Ich bin hauptsächlich wegen Marlene wieder hier. Kollege Schneekluth vom K11 hat ja heute unter Umständen ein paar Informationen für mich. Außerdem kann Gabler wohl auch noch ein paar Leute mehr für den Fall Michaelis gebrauchen.«
»Wenn’s danach ginge, hätte nie einer von uns Urlaub. Aber schön, dass du wieder da bist. Ich habe die letzten Tage mit Michael Gerlach zusammengearbeitet. Bald bekomme ich seinetwegen einen Minderwertigkeitskomplex, so gestylt, wie der jeden Tag hier antritt.«
»Ach, und mit mir zu arbeiten baut dich auf?«
»Manchmal. Aber wie sieht es bei deiner Schwägerin aus? Immer noch kein Lebenszeichen von ihr?«
»Noch nichts! Mittlerweile habe ich ein richtig schlechtes Gefühl bei der Sache. Sie ist nun schon so lange weg. Und jeder Tag, den sie verschwunden bleibt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie gar nicht mehr am Leben ist.«
»Wie geht es deinem Bruder dabei?«
»Was glaubst du wohl?« Pia zog unbehaglich die Schultern hoch. »Er macht sich furchtbare Sorgen, aber er spricht nicht darüber. Er hat scheinbar nicht die geringste Ahnung, was passiert sein könnte. Ich glaube, inzwischen rechnet auch er mit dem Schlimmsten.«
»Und deine Nichte?«
»Sie denkt immer noch, ihre Mutter ist verreist. Aber mittlerweile fragt sie natürlich immer öfter nach ihr. Ich möchte da nicht in der Haut von Marlenes Mutter stecken. Die kümmert sich jetzt um Clarissa …«
Sie wurden unterbrochen, weil Rainer Schneekluth vom K11 und Heinz Broders aus Pias Abteilung zusammen das Büro betraten. Die Ankunft der beiden zusammen und ihre ernsten Mienen ließen Pia sofort mit schlechten Neuigkeiten rechnen. Obwohl sie seit Tagen auf eine solche Wende der Ereignisse gefasst zu sein glaubte, wurden ihr die Knie weich. Broders wich ihrem Blick aus.
»Es hat sich etwas Neues ergeben«, tat Schneekluth erwartungsgemäß mit ernster Miene kund. Er machte eine Kunstpause und setzte dann hinzu: »Der Mann, den sie Horst-Egon Gabler gemeldet haben, weil er eine Aconitinvergiftung hatte, ist identisch mit dem Mann, den ich heute Vormittag wegen Marlene Liebig befragen wollte.«
Pia schluckte. Keine Todesnachricht. Es war noch nichts entschieden. Dann erst dachte sie über das nach, was sie eben gehört hatte. »Wie bitte? Moritz Barkau und Marlene Liebig sind miteinander bekannt?«
»Ja, Moritz Barkau ist ein Mitarbeiter von Marlene Liebig. Die beiden kennen sich. Außerdem liegt er seit Anfang der Woche mit einer Aconitinvergiftung im Krankenhaus.«
»Aber das ist doch … ganz unwahrscheinlich.«
Ihren Knien ging es augenblicklich besser, dafür hatte sie das Gefühl, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Moritz Barkau war der Mitbewohner von Hinnerk Joost und gleichzeitig der Arbeitskollege ihrer Schwägerin? Heinz Broders sah sie forschend an.
»Was sagst du dazu, Pia? Ich glaube nicht an Zufälle«, erklärte er selbstgefällig.
Er hat gut reden, dachte Pia, er steckte ja nicht bis zur Unterlippe in diesem … Sumpf. »Dazu kann ich noch nichts sagen. Ich bin genauso überrascht wie ihr.«
»Wollen Sie mich jetzt eigentlich zu der Befragung von Moritz Barkau begleiten?«, fragte Schneekluth eine Spur hämisch.
Pia versuchte, ihre Gedanken zu ordnen: Ein Kollege von Marlene Liebig lag mit Vergiftungserscheinungen durch Aconitin im Krankenhaus, demselben Gift, das auch Holger Michaelis, der Tote vom Strand, in seinem Körper gehabt hatte. Marlene war seit demselben Wochenende verschwunden wie Holger Michaelis. Dann noch ein Einbruch bei Marlenes vergiftetem Kollegen am Mittwoch, der – zufällig? – der Mitbewohner von Hinnerk Joost war, dem Mann, der Pia aus heiterem Himmel zu einem Konzert eingeladen hatte. Und es hätte mehr daraus werden können. Nicht auszudenken.
»Woher wisst ihr das überhaupt?«, wandte sich Pia an Broders.
»Ich habe eben mit dem Oberarzt telefoniert, um ihn über den Aconitin-Fall zu befragen. Ich wollte wissen, ob wir mit dem Vergifteten sprechen können. Da sagte er mir, heute käme schon jemand von der Kripo, das würde allmählich etwas zu viel. Den Rest kannst du dir denken.«
»Fahren wir jetzt zu dritt?«
»Wenn du mitwillst.«
Rainer Schneekluth zerrte am Reißverschluss seiner Windjacke. Er hatte es offensichtlich eilig. Pia sprang auf und griff nach ihrer Jacke auf der Fensterbank.
»Es kann losgehen. Ich bin dabei.«
Er sah blass aus mit dunklen Ringen unter den Augen. Aus seinem linken Handrücken ragte eine Braunüle. Moritz Barkau trug eines dieser grünen Krankenhaushemdchen, und die hellbraunen Locken, die auf selbiges fielen und ihm ein fast engelhaftes Aussehen verliehen, passten nicht zu seinem Dreitagebart. Die Anwesenheit von drei Kriminalbeamten an seinem Krankenbett schien ihm nicht zu behagen.
»Nur eine Viertelstunde«, hatte die Krankenschwester gesagt, die sie zum Zimmer von Moritz Barkau begleitet hatte. Sie schien bereitwillig jedwedem Klischee zu entsprechen. »Er darf sich nicht aufregen. Strikte Anweisung vom Oberarzt.«
»Wir stellen nur ein paar Routinefragen«, hatte Schneekluth erwartungsgemäß erwidert, Pia und Broders hatten mit verschlossenen Mienen daneben gestanden.
Nachdem sie sich vorgestellt hatten und Schneekluth den einzigen Besucherstuhl annektiert hatte, begann er mit der Befragung.
Pia hielt sich wohlweislich im Hintergrund. Eine Zeugenaussage ihrerseits wäre unter diesen Umständen vor Gericht nicht mehr viel wert. Aber sie konnte die Ohren offen halten und die Sache mitverfolgen.
Moritz Barkau berichtete, mit Marlene Liebig in einer Abteilung zu arbeiten. Er war seit einem knappen Jahr bei der Firma Krüger und Marlene Liebigs Assistent. Er ließ durchblicken, dass sein Verhältnis zu Frau Liebig nicht nur rein kollegial, sondern auch freundschaftlich gewesen sei. Privat hatten sie allerdings nichts miteinander zu tun gehabt.
»Kannten Sie Frau Liebigs Ehemann, Tom Liebig?«
»Kaum. Zu ihrer Hochzeit bin ich mit ein paar Leuten aus der Firma zur Kirche gefahren, und wir haben ein Geschenk von der Abteilung überreicht. Bei der Gelegenheit habe ich ihrem Ehemann natürlich auch gratuliert, aber ansonsten …«
Er starrte Pia, die weiter hinten am Fenster stand, einen Moment lang unschlüssig an, und sie befürchtete fast, er würde sich an ihre Anwesenheit auf der Hochzeit erinnern.
»Hat Ihnen Frau Liebig von ihren Plänen für das bevorstehende Wochenende erzählt?«, schaltete Broders sich in das Gespräch mit ein.
»Ja. Sie sagte, dass sie in die Schweiz fliegen wolle, um eine Freundin zu besuchen. Ihr Mann hätte einen günstigen Flug übers Internet gebucht.«
»Fanden Sie das zu dem Zeitpunkt ungewöhnlich?«
»Überhaupt nicht. Es war alles ganz normal. Ich wunderte mich nur, dass sie für ein einziges Wochenende nach Zürich fliegt. Aber Fliegen ist ja unheimlich preisgünstig geworden. Warum also nicht?«
»Als Frau Liebig am Montag nicht in der Firma erschien, was haben Sie da gedacht, ganz spontan?«
Die Frage kam von Schneekluth. Die Messerwurf- Fragetechnik von neulich hatte einem verständnisvollen Kumpel-Ton Platz gemacht. Moritz Barkau schien sich zu entspannen und beantwortete die Frage gewissenhaft wie ein Schüler, der einen guten Eindruck vor der Prüfungskommission machen möchte.
»Dass sie ein bisschen verlängert. Was denn sonst? Als dann aber nichts kam, kein Urlaubsantrag oder eine Krankmeldung, da fand ich es doch ungewöhnlich. Marlene, äh, Frau Liebig, ist ihr Job sehr wichtig. Sie würde ihn nicht mit unentschuldigtem Fernbleiben aufs Spiel setzen.«
»Wann fingen Sie an, sich Sorgen zu machen?«
Moritz Barkau errötete. »Nachdem ich gehört hatte, dass Tom Liebig seine Frau bei der Polizei als vermisst gemeldet hat. Frau Bauer hat es uns über Herrn Mitak wissen lassen, kurz bevor wir Feierabend gemacht haben.«
»Das war am Dienstag. Um wie viel Uhr hat Herr Mitak Sie unterrichtet?«
Tom war erst nach Feierabend bei der Polizei gewesen, schätzungsweise gegen 17 Uhr.
»So um halb sieben? Wir arbeiten in unserer Abteilung abends alle ziemlich lange, dafür fangen wir aber auch erst so zwischen acht und neun Uhr an.«
»Ich verstehe. Was geschah danach? Um wie viel Uhr haben Sie Feierabend gemacht?«
»Ich war um kurz vor halb acht zu Hause. Ich machte mir da schon ziemlich Sorgen um Marlene. Ich fand das alles so … rätselhaft. Marlene hat immer alles im Griff. Es passt nicht zu ihr, dass sie vermisst wird.«
»Sie wurden Dienstagabend mit starken Magenbeschwerden im Krankenhaus eingeliefert. Können Sie uns sagen, was Sie im Laufe des Tages zu sich genommen haben, das dieses Krankheitsbild ausgelöst hat?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt, das können Sie mir glauben. An den Dienstagabend kann ich mich nicht mehr besonders gut erinnern. Als ich von der Arbeit kam, hab ich erst mal die CD von Ace of Base gehört. Ich war irgendwie fertig.«
»Warum?«
»Ach, ganz allgemein. Und die Songs auf der CD erinnern mich immer an Marlene. Sie erzählte mir mal, dass sie sie oft hört …«
»Haben Sie sich die CD deswegen gekauft?«
»Nein. Die hatte ich schon länger«, sagte er und schluckte.
»Was haben Sie an dem Abend gegessen?«
»Nichts. Ich mochte nicht. Ich hatte mir nachmittags in der Firma noch ein Brötchen und eine Cola geholt. Ich wollte abends dafür eigentlich nichts mehr essen. Seit ich diesen Job habe, na ja, ich habe ziemlich zugenommen im letzten Jahr. Ich versuche abzunehmen.«
»Irgendetwas müssen Sie im Laufe des Abends aber noch gegessen haben, wenn man dem Bericht Ihres Arztes glauben darf.«
»Nein. Ich habe mir später nur noch zwei von diesen Drinks gemacht. Erdbeergeschmack … Ich halte eigentlich nicht viel von solchem Diätzeug, Chemiekram. Aber Marlene hatte es mir geschenkt, und ich wollte wohl … ich wollte ihr irgendwie nahe sein.«
Rainer Schneekluth beugte sich ein paar Zentimeter weiter vor, und auch Pia merkte auf. Moritz Barkaus Hände krallten sich in die Bettdecke.
»Sorry, das klingt so blöd. Aber Marlene hatte ihre Diät abgebrochen. Sie nahm in der Firma eine Zeit lang solche Diätgetränke zu sich, statt in die Kantine zu gehen. Tom, ihr Mann, sollte wohl nicht merken, dass sie abnehmen wollte. Sie war ja eigentlich auch schlank.«
»Warum hat sie Ihnen das Zeug dann geschenkt?«
»Sie sagte, sie brauche es nicht mehr, und da es so teuer gewesen sei und sie wüsste, dass ich auch Probleme hätte, da hat sie es mir mitgegeben.«
»Wie viel war es, und was haben Sie damit gemacht?«
»Es waren vier Dosen, und ich hatte sie erst in der Firma aufbewahrt. Am Freitag, als ich einmal mit dem Auto da war, habe ich das Zeug mit nach Hause genommen. Es stand dann bei mir im Küchenschrank, weil ich es eigentlich blöd fand. Aber als Marlene dann weg war … Sie müssen mich für einen kompletten Idioten halten.«
Schneekluth verneinte freundlicherweise. Pia kritzelte in ihrem Notizbuch herum. Eine üble Geschichte. Sie würde Hinnerk anrufen müssen, falls auch ihn Diätanwandlungen überfallen sollten und er das Zeug in den Küchenschränken fand. Es schien ziemlich sicher, dass sich das Aconitin darin befunden haben musste. Aber waren die Dosen überhaupt noch in der Wohnung? Immerhin war am Mittwoch im Laufe des Tages bei Moritz Barkau und Hinnerk eingebrochen worden.
»Sonst haben Sie nichts gegessen oder getrunken, nur diese Diätgetränke?«
»Ich glaube schon. Es war ein furchtbarer Abend. Ich machte mir Sorgen, war traurig, hatte Hunger … Ich habe dieses Zeug nur runtergestürzt und mich dann auf mein Sofa gelegt. Kurz darauf bekam ich so ein Brennen auf der Zunge, dann diese Magenkrämpfe. Mir wurde eiskalt, und gleichzeitig hatte ich Schweißausbrüche. Ich habe dann meinen Mitbewohner angerufen, der gerade Dienst hatte. Er ist Rettungssanitäter von Beruf. Er war gerade im Einsatz, und ich konnte ihm nur auf die Box sprechen. Ich wollte dann noch 112 wählen, aber da ging plötzlich gar nichts mehr. Ich konnte nur noch aufs Klo rennen, solche Bauchkrämpfe hatte ich. Als Hinnerk und sein Kollege endlich kamen, ging es mir total mies. Sie haben mich sofort hierher gebracht. Ansonsten wäre es wohl nicht so glimpflich ausgegangen …«
Moritz Barkau zuckte vielsagend mit den Schultern.
»Sie hatten keine Selbstmordabsichten?«
»Nein! Niemals. Ich wüsste auch gar nicht, wo ich dieses Teufelszeug, dieses Aconitin, herbekommen sollte.«
»Aber wie ist das Gift in die Diätgetränke gelangt? Waren die Dosen bereits angebrochen?«
»Nein, Marlene hat mir nur ungeöffnete Dosen geschenkt. Die hatten einen Deckel und darunter so eine Silberfolie zum Abziehen, das weiß ich genau. Allerdings …«
»Allerdings was?«
»Die Folie ließ sich leicht abziehen. Normalerweise ist das doch immer ein Kampf. Aber ich dachte mir natürlich nichts dabei … Glauben Sie, dass jemand Marlene Liebig vergiften wollte?«
»Wir wissen es nicht, Herr Barkau.«
»Wir müssen jemanden in die Wohnung schicken, der das Zeug sicherstellt«, bemerkte Schneekluth.
Pia unterließ es, zu erwähnen, dass der oder die Einbrecher ihnen wahrscheinlich zuvorgekommen waren, zumal sie nicht wusste, ob Moritz Barkau über den Einbruch in seiner Wohnung überhaupt schon im Bilde war. Er sah jetzt von Minute zu Minute schlechter aus, sodass es ratsam schien, die Befragung zum Abschluss zu bringen.
»Kennen Sie jemanden, von dem Sie sich möglicherweise vorstellen können, dass er Ihnen oder Frau Liebig mit diesem Gift Schaden zufügen wollte?«
»Nein, niemanden. Das wäre ja abartig. Frau Liebig war überall beliebt. Sie hatte in der Firma keine Feinde. Und ich, wer interessiert sich dort für mich?«
»Auch kein ungeschickter Scherzbold?«
Barkau schüttelte hilflos seine Locken. Auch Pia erschien diese Vorstellung absurd. Das Aconitin war kein Scherz, nicht einmal ein schlechter. Das Böse und Perfide an dieser Handlungsweise, Aconitin in Diätpulver zu platzieren, sprang einem geradezu ins Gesicht. Trotzdem schien der Plan merkwürdig unausgegoren. Normalerweise nahm man nicht zwei oder mehr dieser Getränke auf einmal zu sich, und nicht einmal bei dieser Menge war die Dosis tödlich gewesen. Was hatte der Giftmischer bezweckt? Mittelschwere Übelkeit? Oder konnte man jemanden mit Aconitin schleichend vergiften wie mit Arsen? Hatte jemand damit gerechnet, dass Marlene peu à peu ihren sämtlichen Vorrat zu sich nehmen und daran sterben würde?
»Wenn Sie sich aus irgendeinem Grund bedroht fühlen, Herr Barkau, dann müssen Sie uns das mitteilen«, sagte Schneekluth abschließend, »wenn es sein muss, können wir Personenschutz für Sie veranlassen.«
Schneekluth schien nicht sehr viele Erfahrungen mit derlei Maßnahmen zu haben – Broders und Pia wechselten einen vielsagenden Blick. Aber das Angebot an sich war schon nobel.