Marlene Liebig ist nie abgeflogen«, berichtete Rainer Schneekluth mit einer gewissen Befriedigung in der Stimme.
Auf Gablers Betreiben hin hatten sie sich zu einer gemeinsamen Besprechung zusammengefunden. Die Leute vom K11, die mit dem Fall Liebig betraut waren, sowie Gablers Team, das mit dem Fall Holger Michaelis befasst war.
Pia war ebenfalls anwesend, Gabler hatte sie jedoch im Vorfelde instruiert, sich zurückzuhalten. Sie solle natürlich alle Informationen ihre Schwägerin betreffend erhalten, ansonsten jedoch von diesem Zeitpunkt an nur noch im Team aktiv werden.
Es fiel Pia schwer, aber da sie in jedem Fall dabei sein wollte, musste sie sich an Gablers Anweisungen halten.
»Ist das sicher?«
»Jedenfalls ist sie nicht an dem fraglichen Freitag unter ihrem Namen nach Zürich abgeflogen.«
Pia sah hinunter auf ihren Notizblock, dessen Ränder schon mit merkwürdigen Mustern und kleinen Skizzen überzogen waren, um sich ihre Anspannung nicht an der Nasenspitze ablesen zu lassen.
Inzwischen war der richterliche Beschluss durch, DNA-Material von Marlene aus deren Wohnung mit Proben vom Schiff zu vergleichen. Der Becher mit dem Lippenstiftrand auf Marlenes Schreibtisch fiel ihr wieder ein, die benutzte Haarbürste auf der Ablage im Badezimmer, die Zahnbürste …
Es würde nicht schwierig sein, Fingerabdrücke und DNA- Material von Marlene in ihrem Haushalt zu finden. Ein Durchsuchungsbeschluss für Toms und Marlenes Wohnung lag ebenfalls vor. Es blieb abzuwarten, was die Spurensicherung dort alles zu Tage fördern würde. Sicher war nur, dass ihr Bruder Tom ab sofort auf der Liste der Verdächtigen stand.
Von dem Ergebnis der folgenden Untersuchungen hing viel ab. War Marlene jemals auf dem Schiff von Holger Michaelis gewesen? Der Juvenile? Was für ein Name für eine Segeljacht … Würde die Feststellung, dass sich Marlene schon mal auf Michaelis’ Schiff aufgehalten hatte, Tom entlasten, oder würde das eher als ein Motiv für ihn, seine Ehefrau beseitigt zu haben, interpretiert werden?
Eifersucht auf Holger Michaelis, mit dem seine junge Ehefrau sich getroffen hatte, anstatt wie verabredet zu der Freundin nach Zürich zu fliegen?
Aber wenn sich Marlene auf der Juvenile befunden hatte, als Holger Michaelis ums Leben gekommen war, wo war sie dann jetzt? Wenn sie ebenfalls tot war, warum war dann keine zweite Leiche an Land gespült worden? Hatte sich ihr Körper irgendwo verfangen und befand sich immer noch in der Ostsee? Oder hatte, so unglaublich es sich auch anhörte, Marlene Holger Michaelis umgebracht, ins Wasser befördert und war jetzt auf der Flucht?
Aber wie hätte sie von der Juvenile aus an Land gelangen können, wenn diese einen Tag später mitten auf der Ostsee der Peer Gynt in die Quere gekommen war? Hatte sich ein Beiboot auf der Juvenile befunden? War es möglich, dass Marlene an Land geschwommen war? Die Ostsee hatte zu dieser Jahreszeit kaum mehr als zwölf Grad? Und dann war da noch die Frage, wo Marlene, wenn sie noch am Leben war, sich jetzt in diesem Augenblick befand?
Pia zuckte zusammen, als der Name Moritz Barkau fiel, und sie konzentrierte sich wieder auf die anhebende Diskussion im Besprechungsraum.
»Moritz Barkau scheint Marlene Liebig sehr zugetan zu sein«, berichtete Schneekluth gerade. »Sie sind zusammen in einer Abteilung, und er hat hauptsächlich für sie gearbeitet.«
»Können Sie nicht ein bisschen konkreter werden?«, fragte Gabler.
»Es hörte sich nach einer Schwärmerei seitens Moritz Barkaus an. Den Aussagen ihrer Kollegen nach hat Frau Liebig Barkaus Gefühle nicht erwidert«, antwortete Schneekluth.
»Hm.«
»Es sieht ganz danach aus, als wäre er eine Art Vertrauter für Marlene Liebig gewesen. Moritz Barkau hat uns erzählt, dass sie eine Zeit lang in der Firma statt eines Mittagessens diese Diätgetränke zu sich genommen hat. Sie wollte wohl nicht, dass ihr Ehemann davon erfährt, vermutete Herr Barkau. Deshalb hat sie die Dosen mit dem Diätpulver in der Firma aufbewahrt und dort auch zubereitet und getrunken.«
»Die Tatsache, dass Marlene Liebig Herrn Barkau ihre Schlankheitspläne anvertraut hat, scheint mir eher ein Hinweis darauf zu sein, dass sie einen kumpelhaften Freund in ihm gesehen hat, keinen tatsächlichen oder potenziellen Liebhaber.« Pias Ton war eine Spur zu bestimmt, zumindest für jemanden, dem Zurückhaltung gepredigt worden war.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Heidmüller dumpf. »Es deutet doch auf große Vertrautheit hin, wenn sie ihn in ihre Pläne eingeweiht hat. Wieso sollte diese Tatsache gegen eine mögliche Affäre mit Moritz Barkau sprechen? Spricht sie nicht eher dafür?«
Zu Pias Überraschung unterstützte ausgerechnet Conrad Wohlert ihre Ansicht. »Meine Frau sagt mir auch nicht, wenn sie sich zu dick findet oder sich über erste graue Haare ärgert. Wenn man jemanden liebt, will man meines Erachtens begehrenswert bleiben und nicht unnötigerweise auf seine Schwachpunkte hinweisen. Wenn Frau Liebig es für notwendig erachtete, Diät zu machen, kann ich mir gut vorstellen, dass sie es ihrem Ehemann nicht unter die Nase reiben wollte. Eher hätte sie es einer Freundin erzählen können. Und wenn sie in ihrer Firma keine Freundin besaß, dann hat vielleicht Moritz Barkau diese Funktion übernommen. Das passt auch zu ihrer merkwürdigen Anwandlung, die Diätmittel ihm zu überlassen, als sie sie nicht mehr brauchte. Wer würde seinem Liebhaber Diätpülverchen schenken?«
Ein paar von ihnen lachten leise auf. Marlene hatte Moritz Barkau ihre Diätmittel geschenkt und damit einen wichtigen Hinweis darauf gegeben, dass sie ihn als Kumpel betrachtete und nicht als eventuellen Liebhaber. Vorausgesetzt, Marlene Liebig teilte Wohlerts Einstellung zu dieser Thematik. Und natürlich ebenfalls vorausgesetzt, Barkau erzählte ihnen die Wahrheit.
»Warum hat sie das Zeug überhaupt verschenkt? Wusste sie etwa, dass sie so schnell nicht wiederkommen würde?«, fragte Broders in die Runde.
»Das habe ich mich auch gerade gefragt.« Gabler rieb sich das stoppelige Kinn. »Wir haben noch keinen definitiven Anhaltspunkt, ob Marlene Liebig freiwillig verschwunden ist, gezwungenermaßen, geplant oder spontan, ob sie einem Unfall zum Opfer fiel oder einem Verbrechen. Wir wissen es nicht. Und was mich wirklich irritiert, ist die Annahme, dass jemand Marlene Liebigs Diätpulver mit Aconitin versetzt hat. Wer könnte das Gift dort hineingetan haben und vor allem warum?«
»Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob jemand Marlene hätte vergiften wollen. Aber sie hat das Zeug doch angeblich auch mehrmals zu sich genommen und nichts bemerkt. Dann verschenkt sie die Pülverchen an ihren Kollegen Barkau, und der landet mit einer Aconitinvergiftung im Krankenhaus.« Der Hinweis kam von Pia. Was wäre, wenn der Anschlag genau dem gegolten hat, der das Gift zu sich genommen hat?, dachte sie. Das warf gleich ein ganz anderes Licht auf Marlenes Verhalten. Sie fing sich einen warnenden Blick von Gabler ein.
»Aconitin, was ist das überhaupt für ein Zeug?«, fragte Schneekluth nun.
»Ein Pflanzengift, das aus dem Blauen Eisenhut gewonnen wird. Dr. Kinneberg hat mir erzählt, dass das Gift schon in den Sagen des klassischen Altertums auftaucht. Es heißt, Medea hätte Theseus dieses Gift verabreicht …«, erläuterte Horst-Egon Gabler. Letzteres war auch Pia neu, aber sie kannte sich auch nicht aus in griechischer Mythologie.
»Wir suchen also einen Botaniker, der auch mit den alten Griechen vertraut ist«, bemerkte Broders spöttisch.
»Wir suchen jemanden, der die Absicht hatte, Marlene Liebig und Holger Michaelis zu töten. Bei Michaelis zumindest hatte er oder sie Erfolg«, äußerte sich Michael Gerlach.
»Wir dürfen keine der vielen Möglichkeiten aus den Augen verlieren«, sagte der Leiter scharf. »Nicht einmal, dass Marlene Liebig das Gift selbst unter das Diätpulver gemischt hat, um damit Moritz Barkau zu vergiften.«
»Und wer ist dann in die Wohnung von Moritz Barkau eingebrochen, um die Dosen verschwinden zu lassen?« So leicht ließ sich Gerlach nicht den Wind aus den Segeln nehmen.
»Das ist es ja. Es ist noch einiges offen. Zum Beispiel auch die Frage, weshalb Frau Liebig die Diät überhaupt abbrechen wollte. Hat Herr Barkau sich dazu geäußert?« Michael Gerlach wandte sich an Pia und Schneekluth.
Schneekluth schüttelte langsam seinen großen Kopf.
»Sie, also Marlene Liebig, hat laut Herrn Barkau lediglich gesagt, dass sie die Diätmittel nicht mehr brauche, und da sie so teuer gewesen seien und sie wisse, dass auch Moritz Barkau Probleme mit dem Gewicht habe, habe sie sie ihm geschenkt«, berichtete Pia ihren Notizen gemäß. »Das war alles, was er dazu gesagt hat. Wir hätten nachfragen müssen. Mist!«
»Vielleicht hatte sie genug abgenommen?«, mutmaßte Gerlach.
»Frauen, die Diäten machen, haben nach eigener Meinung nie genug abgenommen. Und wenn, dann gehen sie davon aus, dass sie irgendwann vielleicht wieder abnehmen müssen. Nein, es muss etwas anderes dahinterstecken«, sagte Wohlert. Pia konnte seine Meinung zwar nicht im Allgemeinen unterstützen, aber im Fall von Marlene konnte er sogar Recht haben.
»Wieso hat sie die teuren Pülverchen an einen Kollegen verschenkt?«
»Was ist, wenn sie schwanger war und deshalb keine Diätmittel mehr schlucken wollte?« Pia glaubte nicht daran, dass Marlenes Mutter das bereits der Polizei gemeldet hatte. Es konnte genauso gut sein, dass diese Schwangerschaft lediglich eine Vermutung von Inge Brinkmann war. Aber zumindest mussten sie bei ihren Überlegungen diese Möglichkeit in Betracht ziehen.
»Aber ja, das wäre vorstellbar! Als meine Gerda schwanger war, hat sie stets von einem auf den anderen Tag ihre Ernährung komplett umgestellt. Keinen Kaffee, keinen schwarzen Tee, keinen Alkohol, kein rohes Mett, nicht einmal Mon Chéri hat sie mehr angerührt. Wenn Marlene gerade erfahren hatte, dass sie schwanger war, dann wäre die Reaktion, die Diätmittel freigiebig zu verschenken, eine mögliche Reaktion.« Wieder war es Wohlert, der hier aus dem Nähkästchen plauderte. Gabler runzelte die Stirn.
Pias Gedanken liefen unterdessen weiter. Wenn dem wirklich so war, dann konnte diese Tatsache noch auf ganz andere Komplikationen hinweisen. Wusste zum Beispiel Tom, dass Marlene schwanger war? Und wer kam als Vater in Betracht? Der Ehemann oder vielleicht Holger Michaelis?
Es waren noch etliche Fakten zu überprüfen, bevor sie hier weiterkamen. Die Besprechung widmete sich nun mehr dem praktischen Vorgehen bei dieser Ermittlung. Gabler verteilte die Aufgaben und ordnete die nächste Dienstbesprechung für den Abend an.
Als sich die Mitarbeiter der Ermittlungsgruppen Michaelis und Liebig am Samstagmorgen von ihren Plätzen erhoben, war es zehn Minuten vor neun Uhr.
Pia und Oswald Heidmüller verbrachten den größten Teil des Arbeitstages in Holger Michaelis’ Zahnarztpraxis. Zum einen wollten sie feststellen, ob Marlene Liebig seine Patientin gewesen war, die nahe liegenden Verbindungen stellten sich ja oft als die zutreffenden heraus. Doch in Michaelis’ Patientendatei tauchten weder Marlene Liebig, Tom Liebig noch Moritz Barkau auf. So viel also dazu. Des Weiteren konzentrierten sich ihre Nachforschungen auf die Kontakte, die Holger Michaelis in den letzten Wochen vor seinem Tod gehabt hatte. Eine Zeit raubende und mühsame Arbeit, denn es galt, die Telefongespräche seiner Privatleitung, seiner Praxisnummern und seines Mobiltelefons anhand von Einzelgesprächsnachweisen zu überprüfen. Heidmüller widmete sich den E-Mail-Kontakten und überprüfte die Faxanschlüsse in der Praxis und bei Michaelis zu Hause.
Eine Arzthelferin war zugegen und überwachte der Form halber das Vorgehen der Polizei in Michaelis’ Praxis. Es wäre Heidmüller und Korittki lieber gewesen, diese Arbeitsschritte im Kommissariat vornehmen zu können, doch die Zeit drängte, und so ging es direkt vor Ort, mit der Hilfe der langjährigen Angestellten von Michaelis, schneller.
Am späten Nachmittag wurde Pia fündig.
»Ich hab was, Ossi. Komm mal her!«, rief sie, über einen Stapel Papiere gebeugt. »Diese Nummer hier, die taucht in regelmäßigen Abständen immer mal wieder auf.«
»Ist Michaelis angerufen worden?«
»Ja, auf seinem Mobiltelefon. Eine Lübecker Nummer …«
»Hast du schon herausgefunden, wem dieser Anschluss gehört?«
»Ja, gerade eben. Ein öffentlicher Fernsprecher. Die haben doch schon Seltenheitswert. Weißt du, wann du zuletzt von einer Telefonzelle aus angerufen worden bist?«
Er schüttelte den Kopf.
Pia hatte Stadtteil und Straße in Erfahrung gebracht, wo sich die Telefonzelle befand. Das Wissen darum half ihr aber vorerst nicht weiter. Sie nannte ihrem Kollegen den Standort.
»Wohnen dein Bruder und Marlene dort in der Nähe?«, fragte er mit einem Anflug von Besorgnis in der Stimme.
»Nein, Marlene und er haben eine Wohnung in der Adlerstraße. Die liegt in einer ganz anderen Ecke von Lübeck – wirklich merkwürdig …«
»Wie oft wurde er von der Telefonzelle aus angerufen?«
»Im überprüften Zeitraum fünf Mal. Die letzten zwei Male in der Woche vor seinem Tod: am Montag und am Mittwoch.«
»Dann ist das wichtig, Pia. Wann waren die anderen Male?«
»Im Februar und im April.«
»Es könnte auch ein Bekannter gewesen sein, oder ein Patient?«
»Ein Bekannter, der kein Telefon besitzt und der deshalb immer zur selben Telefonzelle rennt, um mit seinem Freund Michaelis einen kleinen Plausch zu halten?«
»Okay. Und Patienten würden in der Praxis anrufen, nehme ich an. Es sei denn, die Praxis hat schon zu und es ist ein Notfall. Ein vereiterter Zahn oder ein Provisorium, das immer wieder herausfällt. Lass mal sehen, um wie viel Uhr angerufen wurde.«
Pia prüfte hoffnungsvoll die angestrichenen Nummern, um sich kurze Zeit später enttäuscht wieder in ihren Stuhl zurücksinken zu lassen.
»Tagsüber und immer um die Mittagszeit, nur das letzte Mal war es bereits halb fünf Uhr.«
»Und was sagt uns das?«
»Dass die Praxis mittags geschlossen ist. Bis auf den Anrufbeantworter, der läuft. Wenn es Marlene war, die bei ihm angerufen hat, dann hat sie es in der Mittagspause getan. Von einer Telefonzelle aus, damit sie keinerlei Nachweise für ihre Telefonate hinterlässt. Wo genau liegt die Abteilung der Firma Krüger, in der Marlene arbeitet? Wäre doch nahe liegend und praktisch!«
»Pia, du bist zynisch …«
»Ach ja? Ich finde das Verhalten ganz anderer Leute zynisch. Irgendjemand hat hier ein falsches Spiel gespielt. Und der Gelackmeierte ist augenscheinlich mein Bruder.«
»Wenn du es nicht schaffst, deine familiären Gefühle hier herauszuhalten, dann halte dich besser komplett aus dieser Geschichte raus.«
Es waren ungewohnt scharfe Worte von dem sonst so ruhigen Kollegen. Pia schluckte die schnippische Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. Er hatte Recht. Sie mussten sich auf die Fakten konzentrieren. Erst recherchieren und später bewerten. Wenn man den zweiten Arbeitsschritt schon vor dem ersten unternahm, dann passierten Fehler.
»Okay, du hast Recht«, lenkte sie ein. »Es kommt nicht wieder vor. Als Erstes müssen wir schauen, wo sich diese Telefonzelle genau befindet. Hast du auf Michaelis’ Rechner noch etwas gefunden?«
»Nein. Er scheint kein Fan von elektronischer Post gewesen zu sein. Nur das Notwendigste und recht viele Spams … Er hatte offensichtlich keine Ahnung, wie er sich vor Angeboten zur Penisverlängerung und erotischen Hotlines schützen kann.«
»Vielleicht wollte er das gar nicht?«
»Das ist doch alles für den Arsch!«, sagte Heidmüller heftig. Die Laus, die ihm heute über die Leber gelaufen sein musste, war wohl ein echtes Trampeltier gewesen.
Gegen Abend trafen sich alle Mitarbeiter des K1 wieder zu der geplanten Einsatzbesprechung im Kommissariat. Da Pia vor Beginn der Besprechung noch ein paar Minuten Zeit hatte, ging sie auf dem Weg zum Besprechungsraum kurz in die kleine Kaffeeküche auf ihrem Gang, um sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank zu holen. Sie brach einen davon aus der Verpackung und wollte den kleinen Raum gerade wieder verlassen, als Heinz Broders plötzlich im Türrahmen erschien.
Pia zog die Silberfolie vom Joghurtbecher ab, öffnete mit dem Fuß den Deckel des Mülleimers und ließ den Müll hineinfallen. Sie wollte sich an Broders vorbeischieben, damit auch er an die Küchenzeile herankam, doch dann merkte sie, dass er das gar nicht im Sinn hatte. Seine kräftige Gestalt versperrte ihr den Weg. Pia ärgerte sich kurz, dass sie darauf verzichtet hatte, die Deckenbeleuchtung einzuschalten, und nur die Tür hatte offen stehen lassen. Nun stand Broders mit dem Rücken zum Licht im Türrahmen, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
»Ich war eben unten beim Kriminaldauerdienst«, sagte er tonlos.
»Wegen des Einbruchs bei Moritz Barkau?«, fragte Pia und war froh, dass er nicht sehen konnte, wie sich ihr Puls bei dem Thema beschleunigte.
»Genau: Moritz Barkau und Hinnerk Joost.«
Er machte sich nicht die Mühe, mehr hinzuzusetzen, stand nur im Weg und schwieg sie an. Pia kramte in der Schublade nach einem Löffel, den sie beinahe vergessen hätte. Sie tat so, als wäre die Aussicht darauf, gleich einen Vanillejoghurt zu verspeisen, sehr viel bedeutsamer als die Vermutung, dass er etwas wusste, von dem sie wusste, dass er sie damit in Schwierigkeiten bringen konnte.
»Ich weiß, wovon du sprichst. Da wird es keine Schwierigkeiten geben. Und nun lass mich durch.«
»Ich stehe hier nicht nur zur Zierde, Frau Kollegin. Und das weißt du auch. Was hast du in der Wohnung von Barkau und Joost zu suchen gehabt, als die Kollegen den Einbruch aufgenommen haben?«
»Ich war zufällig da, als Hinnerk Joost den Einbruch entdeckt hat.«
»Was heißt denn hier zufällig? Mir scheint, dass du in einem Fall ermittelst, bei dem du eindeutig nicht objektiv sein kannst.«
»Ich habe das mit Gabler bereits geklärt. Du kannst unbesorgt sein, Broders.«
»Was hast du mit diesem Hinnerk Joost zu schaffen, ist er ein Freund von dir?«
»Nein, mein Betthäschen!«
Broders trat noch einen Schritt auf sie zu, was in der kleinen Küche eindeutig zu nah war. Pia wich zur Seite aus, was sie zwar imaginäre Punkte kostete, ihr aber eine deutlich günstigere Ausgangsposition verschaffte.
»Ich werde Gabler vielleicht darauf hinweisen, was für Kontakte du unterhältst. Du weißt, wie viel Wert er auf Mitarbeiter legt, die eine gesicherte Lebensstellung haben.«
»Gesicherte Lebensstellung?«, beinahe hätte Pia laut aufgelacht. »Was heißt das schon? Hast du eine? Mein Privatleben geht hier niemanden etwas an. Aber zu deiner Beruhigung: Hinnerk Joost ist weder mein Freund noch eine Bettgeschichte. Seit ich weiß, dass er zufällig der Mitbewohner von Moritz Barkau ist, habe ich jedweden Kontakt abgebrochen.«
»Dein Wort darauf, Pia?«
Er sprach sie selten direkt mit Vornamen an. Täuschte sie sich, oder war er wirklich besorgt?
»Ja. Ich sehe ihn nicht mehr. Und nun lass uns rübergehen. Das Ding hier esse ich im Gehen …«