15. Kapitel

Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«, fragte Gesa Widmann ihre Kollegin beim Betreten der Station.

Tia Maria Koeppen zog sich gerade ihre Jacke über und befestigte ihr rechtes Hosenbein sorgfältig mit einer Klammer. Sie fuhr immer mit dem Fahrrad zur Arbeit, ob es stürmte, schneite oder wie heute den ganzen Tag über heftig regnete.

»Nichts, Schätzchen. Alles wie gehabt. Du bist spät dran, lass uns schnell Übergabe machen, ich muss los.«

Tia Maria nahm das Protokollbuch hervor und schlug es auf.

»Hentschel, nichts. Hameister, nichts, Jürgens auch nichts Besonderes. Bei Frau Messner musst du etwas aufpassen, die hatte einen ziemlich unruhigen Tag heute. Ihre vier Urenkel waren da und haben die halbe Station terrorisiert. Aber ansonsten …« Sie ließ ihren Zeigefinger die Namen hinabgleiten. »Nichts, nichts, nichts, alle wohlauf.«

Tia Maria Koeppen zog sich ihre Kapuze über das grau melierte, in steife Wellen gelegte Haar und zwickte Gesa noch einmal freundschaftlich in den Oberarm. »Mach’s gut, lass dich nicht ärgern …«

»Einen schönen Feierabend noch«, sagte Gesa und sah ihrer Kollegin nach, die den Gang hinunter entschwand. Tia Maria schwenkte einen kleinen Rucksack in ihrer Hand hin und her, und es war noch ihrer Rückansicht anzusehen, dass sie froh war, das Haus Waldesruh bis zum nächsten Morgen hinter sich zu lassen. Auch Gesa musste ihren Fluchtinstinkt unterdrücken: Sie hatte Nachtschicht!

Im Pflegeheim herrschte schon tagsüber eine trübsinnige Atmosphäre, besonders an grauen, regnerischen Tagen wie diesem. Wenn Gesa es recht überlegte, fand sie es bei Sonnenschein sogar noch unangenehmer hier. Dann war endgültig klar, für wen die Sonne schien. Jedenfalls nicht für die kranken und senilen Alten, die in ihren engen Zimmern, den mit Haltestangen versehenen Gängen und fantasielosen Aufenthaltsräumen eingesperrt waren. Und das Pflegepersonal war fast genauso gefangen wie die Bewohner. Wenn sie es in der knappen Zeit einmal schafften, einen Patienten im Rollstuhl auf die Terrasse in die Sonne zu schieben, war das fast wie Ostern und Weihnachten zusammen.

Aber nachts … nachts war das hier Gesa Widmanns persönliches Horrorkabinett. Ein richtig schlechtes B-Movie, eigens inszeniert, um ihr das Leben zu vergällen. An Furcht stirbt man nicht, hatte ihr mal jemand gesagt.

Wenn Gesa nachts das Schwesternzimmer verließ, in dem sie immer alle Lampen brennen ließ, bildete sie sich manchmal ein, einen schattenhaften Sensenmann, so ähnlich wie in alten Kirchenbildern dargestellt, in den dunklen Ecken des Hauses hocken zu sehen, der nach seinem nächsten Opfer Ausschau hielt. Und sie war sich sicher, die Patienten sahen ihn auch. Anders jedenfalls konnte sie sich das Stöhnen und Seufzen, die gelegentlichen Aufschreie nicht erklären, die nachts durch das Haus klangen und Gesa hoffen ließen, dass die verdammte Nachtschicht bald beendet sein möge.

Am liebsten hätte sie nur bei Tage gearbeitet, doch in ihrem Arbeitsvertrag war genau geregelt, dass sie auch Nachtdienste abzuleisten hatte, für die es zudem mehr Geld gab.

Nach ihrem ersten Kontrollgang über die Station, der noch im Hellen stattgefunden hatte, ließ sich Gesa mit einem Seufzer am Tisch im Schwesternzimmer nieder und holte die Zeitschriften aus der Tasche, die sie sich mitgebracht hatte.

Erwartungsgemäß würde es eine sehr lange Nacht werden. Die erste Nachtschicht in einem Turnus war immer die schlimmste. Danach gewöhnte sich ihr Körper langsam an den verdrehten Rhythmus, und das Wachbleiben fiel ihr etwas leichter.

Gesa schlug die Zeitschrift auf und steckte sich einen Karamellbonbon in den Mund. Sie begann, zu blättern und die bunten Fotos zu betrachten. Zum Lesen war sie bereits jetzt zu müde.

Das Piepen ihrer Armbanduhr weckte sie. Gesa schreckte hoch. Sie war, den Kopf auf den Unterarmen platziert, am Tisch im Schwesternzimmer weggenickt. Unter ihr ein reich bebilderter Artikel über die letzte Hochzeitsfeier im Hochadel. Das ist ja auch einschläfernd, dachte sie, mit Blick auf die Hüte, Kostüme und aufgesetzt lächelnden Gesichter.

Wohlweislich hatte sie ihre Uhr nach dem letzten Rundgang auf Weckruf programmiert. Die nächste Runde stand an. Es war jetzt kurz nach Mitternacht.

Gesa erhob sich und rieb sich den steif gewordenen Rücken. Trotz des Sweatshirts, das sie unter ihrem Kittel trug, und der dicken Strickjacke darüber war ihr kalt geworden. Mit einem Seufzer strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schlüpfte in ihre Gesundheitssandalen. Nachts zog sie immer zwei paar Wollstrümpfe übereinander, sodass ihre Füße kaum noch zwischen Fußbett und Lederriemen der Schuhe passten.

In den Zimmern war bisher alles ruhig geblieben, niemand hatte nach ihr geklingelt. Ein paar der Patienten musste sie jetzt umlagern, die Katheter überprüfen und zusehen, dass alle Alten zugedeckt in ihren Betten lagen.

Als sie aus dem erleuchteten Schwesternzimmer trat, blieb sie kurz stehen, um ihre Augen an die Dunkelheit im Flur zu gewöhnen. Nur die Nachtbeleuchtung brannte und verbreitete eine Stimmung wie auf einem verlassenen Raumschiff. Irgendwo hockte das Alien in den Lüftungsschächten, ein schleimiger Tropfen gelben Speichels war durch ein Deckengitter getropft und glitzerte böse im Zwielicht.

Es war natürlich nur ein Überrest des Abendessens, den ein Patient im hohen Bogen ausgespuckt hatte. Die Putzkolonne verrichtete schon am frühen Nachmittag ihre Arbeit, was danach geschah, verblieb so bis zum nächsten Tag. Überall wurde gespart. Gesa schalt sich selbst eine Närrin und nahm sich vor, sich in Zukunft weniger Blödsinn im Fernsehen anzusehen. Aliens!

Hier hockte nichts als der Tod, und der interessierte sich hoffentlich nicht für eine junge, knackige Altenpflegerin, wie sie eine war, wenn in den Zimmern reichlich fette Beute auf ihn wartete. Sie musste über die »fette Beute« lächeln, denn die meisten Patienten waren Federgewichte. Gesa hob und bewegte sie ganz allein, obwohl sie selbst gerade mal 56 Kilo wog.

Drei Bahnen noch, ermunterte sie sich selbst, wie beim Schwimmtraining damals. Drei Bahnen bedeuteten drei Rundgänge über die Station, dann hatte sie es für heute geschafft. Sie löste sich vom Türrahmen des Schwesternzimmers und schritt den Gang hinunter.

In den ersten drei Zimmern war alles in Ordnung. Gesas Augen hatten sich an das schummrige Licht gewöhnt, und die Bewegung half ihr, das Frösteln zu überwinden, das zu dieser späten Stunde fast ihr ständiger Begleiter war. Die Patientin im nächsten Raum warf sich unruhig im Schlaf hin und her und murmelte etwas. Gesa wäre am liebsten gleich wieder hinausgeschlichen, um sie nicht zu wecken, doch die Bettdecke war halb über das Schutzgitter gerutscht und konnte jeden Moment auf dem Fußboden landen.

Die Frau schreckte hoch, als sich Gesa dem Bett näherte, und blinzelte sie erschrocken an. »Schon so spät? Mutti muss aufstehen …« Sie bewegte sich unruhig, und Gesa fasste sie an der Schulter und murmelte etwas, das die Frau beruhigen sollte. Bitte nicht wieder die Litanei.

»Ich hab verschlafen, Mutti muss aufstehen …«

»Es ist mitten in der Nacht, Frau Scholdt. Schlafen Sie weiter.«

»Nein, Mutti muss aufstehen, Mutti muss zu den Hühnern …«

»Frau Scholdt, es ist Mitternacht, schlafen Sie weiter.«

»Mutti muss nach den Hühnern sehen!«

»Frau Scholdt, hier gibt es keine Hühner!«

Das war ein Fehler.

»Was? War der Fuchs schon wieder da? Meine Hühner, sind Muttis Hühner tot, alle tot? Lassen Sie mich los, Frau. Mutti muss aufstehen …«

Gesa hätte schreien mögen vor Überdruss. Frau Scholdt saß jetzt senkrecht im Bett, ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie zerrte an den Knöpfen ihres Nachthemdes.

Normalerweise hätte Gesa jetzt Tia Maria oder eine der anderen Pflegerinnen zu Hilfe gerufen, denn wenn Frau Scholdt sich in etwas hineinsteigerte, half nur noch ein sehr fester Griff und eine tiefe, energische Stimme. Gesa, die sich verunsichert fühlte, konnte weder mit dem einen noch mit dem anderen aufwarten. Aber sie war allein. In ihrer Not redete sie einfach weiter drauflos. »Ich geh und sehe nach den Hühnern, Mutti. Leg dich wieder hin und schlaf weiter. Du bist krank und musst dich mal ausruhen Ich kümmere mich um alles.«

»Wirklich? Mutti muss …«

»Mutti muss schlafen. Ich kümmere mich um alles.«

»Mutti muss … Mutti …«

»Mutti kann beruhigt schlafen.«

Frau Scholdt sank zurück, schmatzte noch zweimal mit den trockenen Lippen und fiel wieder in einen unruhigen Schlaf. Gesa beobachtete sie misstrauisch, doch als Frau Scholdt wieder leise Schnarchgeräusche von sich gab, atmete sie erleichtert aus.

Zum Glück hatte Frau Scholdt zurzeit ein Einzelzimmer und somit niemanden geweckt. Sie hatte mit ihrer ewigen Mutti-Litanei die ehemalige Zimmergenossin, eine der wenigen, die noch klar im Kopf waren, fast wahnsinnig gemacht. Irgendwann war Frau Scholdt von der anderen einmal ein Buch an den Kopf geworfen worden. Außer einer kleinen Beule war »Mutti« nichts passiert, aber man hatte die leidgeprüfte andere Frau in ein Zimmer verlegt zu einer Dame, die gar nichts mehr sagen konnte. Es sollte wohl eine Strafe sein, aber Gesa fand, es sei unzweifelhaft eine Verbesserung für sie. Mit wachem Verstand unter Schwachsinnigen, dann doch lieber eine richtige Demenz und Ruhe.

Noch drei Zimmer.

Die Männer schienen tiefer zu schlafen. Gesa lauschte auf ihre regelmäßigen Atemgeräusche und atmete den herben Geruch, den sie im Schlaf verströmten. Bei Kurt Hentschel musste sie den Katheter überprüfen. Er lag im Dämmerlicht wie aufgebahrt, und Gesa hätte ihm gern die Hände anders hingelegt, die er vor seiner Brust gekreuzt hatte. Das muss den Tod ja anlocken, dachte sie kopfschüttelnd. Oder war es Absicht, was hielt Kurt Hentschel denn noch hier?

Als sie den Raum gerade wieder verlassen wollte, sah sie die Medikamentenschale auf dem Nachttisch von Alfred Heck. Verdammt, vorhin war ihr gar nicht aufgefallen, dass noch drei große, ovale Kapseln darin lagen! Heck musste vorhin wohl vergessen haben, sie einzunehmen. Ob das schlimm war?

Alfred Heck lag so ruhig da, dass sich Gesa verpflichtet fühlte, nach ihm zu sehen. Sie ging leise auf sein Bett zu und starrte auf die reglose Gestalt. Kein Atemgeräusch, nicht das geringste Lebenszeichen. Ihr Herz klopfte hart in ihrer schmalen Brust. Die Vorhänge waren zugezogen, aber sie wagte nicht, Licht zu machen, weil sie die anderen Patienten im Raum nicht wecken wollte. Draußen rüttelte der Wind an den Zweigen der Bäume und einer klopfte und kratzte regelmäßig gegen das Fenster. Oder war es ihr stiller Freund, der Eckenhocker?

War Heck tot? Obwohl Gesa schon ein paar Monate im Haus Waldesruh arbeitete, hatte sie noch nie einen ihrer Schützlinge tot auffinden müssen. Sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem das passieren musste und noch mehr fürchtete sie, dass das während einer Nachtschicht geschehen könnte. So nah wollte sie ihrem stillen Begleiter, dem Sensenmann in der Ecke, gar nicht kommen. Er sollte seine Wahl an den Tagen treffen, an denen Gesa nicht zugegen war. War das heute ihr erstes Mal? War Alfred Heck in den letzten Stunden hier gestorben?

Hilflos trat sie leise an das Kopfende heran und spähte auf die reglose Gestalt im Bett. Alfred Hecks Kopf lag überstreckt auf dem Kissen, sein Mund war halb geöffnet. Was war los mit ihm? Seine blasse, knotige Hand lag neben dem Kopfkissen.

Schlief Heck oder war er tot?

Gesa fühlte sich versucht einfach hinauszugehen, als hätte sie nichts bemerkt. Sie konnte es aber nicht, sie musste es wissen. Also berührte sie sacht mit dem Mittelfinger sein Handgelenk. Seine Haut fühlte sich kühl und trocken an, sie tastete keinen Puls …

Plötzlich packte er sie. Gesa meinte, ihr Herz würde vor Schreck einen Schlag aussetzen. Sie schnappte nach Luft und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, doch er krallte sich darum wie ein Ertrinkender an eine Planke im Wasser.

Alfred Heck hatte die Augen nun geöffnet und starrte sie mit zusammengekniffenen Lidern an.

»Lassen Sie mich los. Ich wollte nur sehen, ob es Ihnen gut geht«, wisperte sie aufgeregt.

»Meine Lieblingspflegerin, ich bin erfreut.«

»Lassen Sie mein Handgelenk los. Sie tun mir weh.«

»Was wolltest du hier, Prinzessin? Mich bestehlen?«

»Nein. Lassen Sie los, oder ich hole Hilfe.«

»Wen denn? Nachts seid ihr doch allein auf Station. Sparmaßnahmen …« Ein boshaftes Lächeln verzog sein Gesicht, das umso grotesker wirkte, weil er nachts natürlich kein Gebiss trug. Er hatte noch genau zwei gelbliche Zahnstummel im Mund.

»Überall wird gespart, ich kann es nicht ändern …«

»Ich wollte dir schon immer mal was sagen.« Er röchelte und richtete sich so weit wie möglich auf, um ihr näher zu kommen. Seine Hand krallte sich noch fester um ihr schmales Handgelenk, lange Fingernägel schnitten ihr in die Haut ein.

»Du erinnerst mich die ganze Zeit an jemanden. Könntest ihre Tochter sein, jawohl, ihre Tochter.«

»An wen denn?«, fragte Gesa, in der Hoffnung, es so schnell hinter sich zu bringen.

»Sie hieß Doro … die Kleine. Freches Ding, aber die Mutter taugte nicht viel.«

»Das sollten Sie mir morgen am Tag erzählen. Jetzt ist Nachtruhe!« Sie legte ihre ganze Autorität in ihre Stimme, doch er kicherte boshaft.

»Still, Mädchen. Du bist doch noch ein Mädchen. Ich mag Mädchen. Du hast auch Sommersprossen, genau wie sie.«

»Das reicht jetzt. Lassen Sie mich sofort los!«

»Und deine Haare … rot. Wie bei ihr damals … ist das echt?«

Mit seiner anderen Hand, der, die er kaum kontrollieren konnte, deutete er ungeschickt auf ihren Zopf, der ihr über die Schulter fiel.

Gesa drehte sich weg. »Finger weg. Natürlich ist es echt. Wer will schon wie eine Hexe aussehen? Herr Heck, lassen Sie mich sofort los!«

Gesa versuchte, mit ihrer freien Hand den Klingelknopf zu erreichen. Heck hielt sie zurück. In seiner gesunden Körperhälfte hatte er erstaunlich viel Kraft. Obwohl seine Arme beim Waschen immer aussahen wie verdorrte, ausgeblichene Wurzelstöcke, blaufleckig, die Haut schlaff und voller Erhebungen und Muttermale.

Gesa kannte jeden Quadratzentimeter seines Körpers, was ihr aber nicht die Macht über ihn gab, sondern es schien eher umgekehrt zu sein. An seinem Gesäß hatte er zum Beispiel ein hässliches blaurotes Hautmal, dass wie die Silhouette Afrikas aussah. Als sie ihn einmal darauf angesprochen hatte, schien er sich dieser Besonderheit kaum bewusst zu sein. Wie konnte einer, der so gezeichnet war, es selbst nicht wissen? Einmal hatte er, während sie ihm das Gesäß wusch, eine flüchtige Erektion bekommen und sie triumphierend angestarrt. Die Erinnerung daran war ihr unangenehm und lähmte sie.

Hecks Hand krallte sich um ihren Oberarm, und er zog sie mit dem Gewicht seines Oberkörpers zu sich heran. Sein warmer Atem streifte ihre Wange, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Mädchen wie dich hatte ich früher zum Frühstück. Ich konnte immer, und ich hab es ihnen besorgt. Glaub mir, wenn ich nur ein paar Jahre jünger wäre, dann würdest du mich nicht so ansehen …«

Endlich riss sich Gesa los. Der Abscheu vor seinen Worten gab ihr die Kraft, die der pure Ekel vor seiner Berührung nicht hatte auslösen können. Stillhalten, höflich sein, niemanden brüskieren, bis zum letzten Moment. Das ist es doch, was man den Mädchen einimpft, dachte sie erbittert. Diese Erkenntnis ließ endlich den schwachen Funken Unbehagen zu einer Stichflamme der Wut auflodern. »Fass mich nie, nie wieder an, Heck!«, zischte sie böse.

Ihn schien ihr Ausbruch zu amüsieren, aber er half ihr, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte sich beschmutzt und auch … schuldig. Als wäre ihre Haut, ihr Haar, ihr weiblicher Körper schuld an Hecks Entgleisungen und nicht seine niederen Instinkte und sein getrübter Verstand.

Ohne ihn noch einmal anzusehen, richtete sich Gesa auf und hastete aus dem Zimmer. Sie lief den Gang hinunter und schmiss die Tür des Schwesternzimmers hinter sich zu. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie von innen abgeschlossen. Heck kann mir nicht folgen, er kann sein Bett ohne Hilfe gar nicht verlassen, versicherte sie sich schnell.

Das helle Licht und die vertraute Einrichtung des Personalraums halfen ihr, sich zu beruhigen. Sie setzte Wasser auf und schmiss einen Beutel Pfefferminztee in ihre angestoßene Tasse.

Ein Ekel, dieser Heck, ein richtiges Scheusal. Sexbesessen wahrscheinlich, rücksichtslos und grausam. Sie hatte sich nicht in ihm getäuscht, keine Sekunde lang.

Aber es gab noch so etwas wie Gerechtigkeit. Sie konnte jederzeit gehen. Schulden hin oder her, niemand konnte sie zwingen hier zu bleiben. Alfred Heck würde im Haus Waldesruh ausharren müssen, bis der Tod aus einer der dunklen Ecken ihn als den Nächsten auserkor …

Als der Tee fertig war und Pfefferminzgeruch den kleinen Raum erfüllte, hatte sich Gesa weitestgehend beruhigt. Es war nichts passiert, nur die üblichen Beleidigungen und Obszönitäten. Hecks Fingernägel hatten halbmondförmige Abdrücke in der Haut ihres Handgelenkes hinterlassen, mehr nicht.

Sie umschloss die Tasse mit beiden Händen, obwohl der Tee noch zu heiß zum Trinken war. Mit angezogenen Füßen hockte sie auf dem Stuhl und starrte aus dem Fenster. Das Mondlicht tauchte die Rasenfläche vor dem Gebäude in kaltes, klares Licht. Dahinter lag schwarz und bedrohlich der bewaldete Höhenzug, der Deister. Direkt hinter dem Pflegeheim Waldesruh führte ein ausgeschilderter Wanderweg in den Wald hinein. Nicht dass das einem der Patienten hier etwas genutzt hätte, aber manchmal nahmen Verwandte die Lage des Heims zum Anlass, einen Besuch hier mit einem Waldspaziergang zu verbinden. Vielleicht würde sie am Nachmittag, nachdem sie ausgeschlafen hatte, auch einmal in den Wald gehen. Gesa war kein besonderer Fan von derartigen Unternehmungen, aber vielleicht würde sie es an diesem Tag tun, einfach nur, weil sie es konnte.