24. Kapitel

Jemand hatte sich die Mühe gemacht, den alten Aktenordner feucht abzuwischen, bevor er ihn auf den Tisch in dem kleinen Besprechungsraum gelegt hatte. Es war eine große Menge Papier, zwischen zwei Aktendeckel gepresst und muffig riechend, wie etwas, das bestimmt schon lange nicht mehr das Tageslicht gesehen hatte.

Broders und Pia saßen mit Kaffeebechern und einer Thermoskanne an dem quadratischen Resopaltisch und blätterten die Papiere durch, die ein Verbrechen dokumentierten, das vor 20 Jahren geschehen war.

Nun endlich hatten sie definitiv die Bestätigung, dass nicht Marlene Liebig das Opfer gewesen war. Das Opfer war ein Mädchen namens Dorothea Bauer, damals zwölf Jahre alt und wohnhaft in einer kleinen Wohnanlage in der Nähe des Waldstadions.

Genau dort, wo auch die Brinkmanns gewohnt hatten.

Die Freundin, die die Vergewaltigung beobachtet hatte, war Marlene Brinkmann gewesen. Sie hatte sich, als das Verbrechen geschah, in einem Baumhaus oberhalb des Tatortes befunden. Das alles war auf einer Lichtung mitten im Wald geschehen, wo die Kinder sich immer zum Spielen getroffen hatten. Marlene war eine an sich wertvolle Zeugin gewesen, die aber den Aktennotizen nach zu urteilen, nichts Relevantes zu den Ermittlungen beigetragen hatte. Außerdem hatte der Täter eine Motorradmaske getragen, sodass weder Dorothea Bauer noch Marlene Brinkmann den Täter näher hatten beschreiben können.

Warum nur hatte Marlene Brinkmanns Vater die Zeitungsausschnitte über das Verbrechen all die Jahre aufgehoben? Und warum hatte er sie schließlich Pia anvertraut?

Die schreibmaschinengeschriebenen Berichte lasen sich nüchtern und gefühllos wie technische Betriebsanleitungen. Ab und zu waren handschriftliche Notizen dazwischen, Arztberichte auf vorgedruckten Formularen, eine Skizze des Tatortes …

Wie ein Puzzle, das sich langsam zusammensetzt, entstand vor Pias innerem Auge eine bildhafte Vorstellung des Verbrechens. Keiner der Kommissare, die damals ermittelt hatten, waren noch hier in Barsinghausen im Dienst. Ihre Erinnerung hätte vielleicht noch ein paar Lücken füllen oder Details beisteuern können, die sich schriftlich nicht hatten festhalten lassen. Doch was sollten sie nach all den Jahren mit den Informationen anfangen?

Es war lächerlich und vermessen, zu glauben, heute den Täter zu ermitteln, der damals einer ganzen Ermittlergruppe durch die Fänge gegangen war.

Nachdem sie die Akte durchgegangen waren, machte Pia ihrer Enttäuschung Luft. Was hatte sie eigentlich erwartet? Einen Verdächtigen, namens Holger Michaelis, damals in Barsinghausen, bis vor kurzem in Neustadt wohnhaft?

»Das alles scheint mir aussichtslos zu sein, Heinz! Ich glaube, Brinkmann wollte uns zum Narren halten, als er mir die Zeitungsausschnitte gab.«

»Wir könnten beim Einwohnermeldeamt ein paar Namen überprüfen«, schlug Broders mit unerschütterlicher Ruhe vor, »sie mit Personaldaten aus Marlenes Firma und ihrem privaten Umfeld abgleichen …«

Das war Zweckoptimismus, doch Pia stellte fest, dass es sie beruhigte, ihn so reden zu hören.

»Ob das Opfer, diese Dorothea Bauer, noch hier wohnt?«, fragte sie und schlug sich im selben Moment, als sie den Namen aussprach, gegen die Stirn.

»Probleme?«, fragte Broders trocken.

»Dorothea Bauer … Bauer. Ich hätte es gleich bemerken müssen. Eine Vorgesetzte von Marlene Liebig heißt Bauer. Die Personalabteilungsleiterin! Ich habe mit ihr persönlich gesprochen. Das Alter könnte hinkommen … Ob sie es ist?«

»Möglich wäre es. Eine Überprüfung ist es allemal wert.«

»Ich rufe sofort Gabler an. Die müssen sich noch einmal mit Frau Bauer unterhalten. Sie ist Personalabteilungsleiterin bei Krüger und hat Marlene eingestellt. Sagte noch etwas davon, dass sie sie bevorzugt habe, aber kein Wort davon, dass sie sich schon so lange kennen.«

»Grüß schön, wenn du in Lübeck anrufst. Ich sehe mal nach, ob ich einen der älteren Kollegen zu fassen bekomme. Vielleicht weiß ja doch noch einer etwas mehr, als hier drinnen steht.«

Pia wählte Gablers Durchwahl im Lübecker Polizeihochhaus. Sie schilderte kurz, was sie vermutete, und er versicherte ihr, dass sie sofort mit Frau Bauer in Kontakt treten würden.

Als Pia wieder aufgelegt hatte, fühlte sie eine unangenehme Unruhe. Sie verließ ebenfalls den Besprechungsraum und ging den Gang hinunter, nach vorn in den Wachraum. Ein älterer Herr stand vor dem Tresen und berichtete einem jungen Beamten in Uniform aufgeregt von irgendeinem Vorfall. Dieser hörte sich seine Ausführungen geduldig an. Auch Pia folgte der Debatte mit halbem Ohr.

»Wo liegt denn eigentlich das Problem? Fragen sind doch erlaubt«, meinte der wachhabende Kollege gerade beschwichtigend. »Vorgestern im Vereinslokal des örtlichen Fußballvereins war das? Altherrenliga? Ach so, Sie sind gar nicht mehr aktiv.«

»Indiskrete Frage … Privatleben, wo kämen wir hin«, hörte sie den Mann erregt murmeln. Es amüsierte sie zu beobachten, wie der junge Kollege mit der Situation fertig wurde.

»Was werfen Sie dieser Frau denn konkret vor? Neugier?«

»Es kann doch wohl nicht sein, die Leute einfach so nach den privaten Angelegenheiten ihrer Mitmenschen auszufragen, wo kämen wir denn da hin?«, ereiferte sich der Besucher weiter.

Pias Aufmerksamkeit wurde von dem Gespräch abgelenkt, als sie aus dem Hintergrund jemanden ihren Namen rufen hörte.

»Frau Korittki, ich habe gerade eine ehemalige Kollegin am Apparat – Frau Tietge. Sie hat damals am meisten mit dem jungen Mädchen des Vergewaltigungsfalles zu tun gehabt. Sie ist bereit, sich mit Ihnen zu treffen, sagen wir in einer guten Stunde?«

Der Kommissar sah sie erwartungsvoll an. Er hielt den unteren Teil des Telefonhörers mit der Hand zu, während er mit ihr sprach.

»Das würde gut passen. Sollen wir zu ihr kommen?«

»Frau Tietge? Die Kollegen aus Lübeck kommen in einer Stunde zu Ihnen. Wie bitte? Ja, ich habe die Adresse notiert, alles klar.«

Er legte auf und kritzelte die Adresse auf einen Notizzettel, den er Pia reichte.

»Sie ist manchmal etwas schwierig, hat vor einiger Zeit wegen eines psychischen Leidens bei uns aufgehört. Aber ihr Gedächtnis ist tipptopp. Der Fall Bauer hat sie damals sehr beschäftigt. Es ist quasi in ihrer Nachbarschaft passiert. Wenn sich hier noch jemand an Einzelheiten erinnert, dann Frau Tietge.«

Pia bedankte sich für seine Hilfsbereitschaft. Sie glaubte zwar nicht, dass die ehemalige Polizeibeamtin wesentliche Neuigkeiten würde beisteuern können, aber ein Versuch konnte nicht schaden. Mehr Hoffnung setzte sie auf die Auskünfte von Frau Bauer in Lübeck, die, wenn sie denn dieselbe war wie Dorothea Bauer aus der Akte, ihren Kollegen in Lübeck einfach weiterhelfen musste! Im Geiste ging sie nochmals die Theorien durch, die sie sich gestern zurechtgelegt hatten.

Alles schien sich auf Marlenes Firmenkontakte zu zu bewegen. Gab es dort jemanden, den Marlene wiedererkannt hatte? War Erpressung im Spiel oder einfach nur Rache?

Sie sah aus dem Fenster. Draußen auf dem Vorplatz rollte gerade ein Feuerwehrfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Barsinghausen aus der Halle. Der Mann, der sich auf der Wache beschwert hatte, fuhr gerade auf dem Fahrrad seiner Wege. Alles hier ging seinen alltäglichen Gang, doch unter der Oberfläche war mehr. Das Gefühl, die Wahrheit erkennen zu können, wenn sie nur noch eine Gehirnwindung mehr zur Verfügung hätte, wurde übermächtig. Pia konnte das Gesamtbild noch nicht erfassen. Ihre Unruhe verstärkte sich. Mit einem Blick auf ihre Uhr stellte sie fest, dass noch eine knappe Stunde Zeit bis zu ihrer Verabredung war. Und da war die Skizze vom Tatort in der Akte.

»Können Sie Herrn Broders etwas ausrichten?«, fragte sie den Kommissar, der den Kontakt zu Frau Tietge für sie hergestellt hatte.

»Ja. Was denn?«

»Sagen Sie ihm bitte, dass wir uns vor dem Haus von Frau Tietge treffen. Um elf Uhr. Ich möchte vorher noch etwas anderes erledigen.«

Im Wald war es still. Unter dem geschlossenen Blätterdach der hohen Bäume war es dunkel, und die Luft erschien kühl und feucht. Unter den aromatischen Geruch nach frischem Grün mischte sich ein modriger Unterton, der dem federnden Waldboden entströmte.

Von dem Moment an, als Pia den Waldparkplatz verlassen hatte und sich die Baumreihen hinter ihr geschlossen hatten, fühlte sie sich allein. Sie war es nicht gewohnt, im Wald herumzulaufen, zog, wenn sie mal spazieren gehen wollte, den Ostseestrand vor.

Pia versicherte sich, dass es richtig gewesen sei, diesen Erkundungsgang ohne Broders Gesellschaft zu starten, auch wenn sie dadurch eine Auseinandersetzung mit ihm riskierte. Er erschien ihr für diese Unternehmung zu laut und aufdringlich. Seine Schuhe quietschten bei jedem Schritt, den er tat, und seine Lederjacke knirschte, wenn er die Arme anhob oder die Schultern straffte. Er beobachtete alles mit durchdringendem Blick, ihm entging nichts, was greif- und begreifbar war. Aber Pia bezweifelte, dass er empfänglich war für das, was sie insgeheim als unsichtbare Schwingungen bezeichnete. Alles, was das Unterbewusstsein wahrnehmen konnte, wenn man sich nur etwas Zeit und Muße dafür nahm.

Sie hielt die Kopien der Tatortskizzen und der Karte vor sich und versuchte, sich vom Waldparkplatz ausgehend zu orientieren. Die Wege im Wald waren wie ein Netz gleichmäßiger Linien eingezeichnet, es gab wenig Orientierungspunkte: den Nordmannturm, den Kammweg, die Kreuzbuche … Es war gut möglich, dass innerhalb von 20 Jahren neue Wege hinzugekommen oder alte zugewachsen waren. Pia blickte hinauf in die Baumkronen. Und wo bitte war jetzt Norden?

Nachdem sie mehrere Wege ausprobiert hatte, stand Pia endlich vor einem merkwürdig verschlungen gewachsenen Baum, der auch auf der Tatortskizze eingezeichnet worden war. Von hier aus ging es quer durch das Unterholz zu der kleinen Lichtung, die sie suchte. »Trampelpfad« stand auf ihrer Beschreibung, aber es wies wenig darauf hin, dass dies mal ein Pfad gewesen sein könnte. Dann, als sie schon nicht mehr damit gerechnet hatte, richtig zu gehen, stand sie plötzlich auf der Lichtung.

Ein paar Sonnenstrahlen linsten durch das ansonsten dichte frühlingsgrüne Blätterdach und zauberten eine heitere, unwirkliche Atmosphäre. Dieses war der Ort: Hier war damals das Verbrechen geschehen. Die Stelle war von keinem der Waldwege einsehbar.

Pia stellte fest, dass das zarte, frische Gras unberührt war. Hier war lange kein Mensch mehr gewesen. Stattdessen sah sie Kaninchenkot wie Salmiakpastillen zwischen den Gräsern glitzern und angeknabberte junge Zweige an den umstehenden Büschen. Rehe und Hasen, vielleicht auch Wildschweine. Aber schon längere Zeit keine Kinder mehr.

Dabei war der Platz hier im Wald wunderschön. Wenn man ihn als Kind entdeckte, konnte man sich seinem Zauber wohl kaum entziehen. Uneinsehbar, vermeintlich vor Erwachsenen geschützt, ein ideales Areal, um sich in eine Fantasiewelt zu begeben.

Pia setzte sich auf einen Baumstumpf und starrte in die Baumkronen. Oben in einer alten Buche sah sie ein Brett, dann noch eines. Am Stamm des Baumes befanden sich zwei angenagelte Äste als Stufen. Das mussten die Reste des Baumhauses sein, von dem sie gelesen hatte. Es war nicht mehr viel davon übrig, ein paar Bretter nur, und die unteren Stufen fehlten ganz. Aber früher war es sicher ein tolles Versteck gewesen.

Von dort oben hatte Marlene im Alter von zehn Jahren die Vergewaltigung ihrer zwei Jahre älteren Freundin beobachten müssen. Was für ein Schock, was für ein Albtraum! – das Baumhaus lag so hoch und uneinsehbar, dass der Mann sie nicht entdeckt hatte. Was hatte Marlene selbst von der Tat gesehen, was gehört?

Nicht gerade verwunderlich, dass ihre Zeugenaussage fast unbrauchbar gewesen war. Insgeheim hatte sich Pia beim Lesen der Berichte gefragt, wieso Marlene nicht versucht hatte, Hilfe zu holen. Aber hier, auf der Waldlichtung, wo es geschehen war, leuchtete ihr ein, dass ein verängstigtes Kind nicht den Baum hinunterklettern konnte, quasi direkt am Täter vorbeirennen, durchs dichte Unterholz, dann den Waldweg entlang, bis es vielleicht irgendwo, auf dem Parkplatz oder noch weiter weg, hoffen konnte, auf Hilfe zu treffen.

Marlene hatte sich dort oben verborgen gehalten, ängstlich darauf bedacht, nicht bemerkt zu werden. Erst als der Vergewaltiger wieder weg war, hatte sie sich getraut, ihrer Freundin zu helfen. Die Mädchen waren den Polizeiberichten zufolge irgendwann zusammen in der Wohnung von Dorothea Bauers Mutter angekommen und hatten sich versteckt. Sie waren allein dort gewesen, denn Dorotheas Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon zur Arbeit in die Kneipe aufgebrochen. Dorothea Bauer hatte Marlene angeblich mehrfach schwören lassen, niemandem etwas zu verraten.

Doch als Marlene nach Hause musste, hatte sie ihren Eltern nach einigen Nachfragen doch erzählt, was am Nachmittag passiert war. Daraufhin war die Polizei informiert worden, und die Ermittlungen hatten ihren Lauf genommen …

Die Leidtragende war in jedem Fall Dorothea Bauer. Das Opfer wurde in so einem Fall immer doppelt und dreifach bestraft. Die ärztliche Untersuchung, die peinlichen Befragungen, das Entsetzen in den Augen aller Beteiligten. Und das alles mit zwölf!

Das Mädchen hatte Todesängste ausgestanden, war körperlich und seelisch aufs Tiefste verletzt worden. Im Grunde ihres Herzens glaubte Pia nicht, dass solche Narben jemals verheilen konnten. Besonders, da der Täter nie gefasst worden war. Heutzutage wäre es wahrscheinlich einfacher. Durch DNA-Analysen hätte man mehr Möglichkeiten, besonders wenn der Täter aus der Umgebung stammte. Doch DNA-Analysen waren in Deutschland erstmals in den späten Achtzigern eingesetzt worden, um Verbrecher zu überführen. Dorothea Bauer war 1982 vergewaltigt worden. Genau hier.

Als ein Zweig im Unterholz knackte und ein Vogel aufflatterte, fuhr Pia zusammen. Sie konnte diesen friedlichen Ort nicht ohne das Wissen um die Vergangenheit wahrnehmen. Es war der Ort eines Gewaltverbrechens, blieb es, solange es Menschen gab, die sich daran erinnerten.

Ob Dorothea oder Marlene jemals wieder hergekommen waren? Oder der Täter selbst? Lebte er noch in der Nähe des Deisters? Oder war er wie Marlene in Lübeck gelandet, wo ein unglückseliger Zufall ihn mit der Zeugin seines Verbrechens konfrontiert hatte? Oder gar mit seinem Opfer?

War der Mann nach 20 Jahren erkannt worden, hatte er sich verraten oder sogar die Nähe seines Opfers gesucht?

War Holger Michaelis der Mann, der all dieses Unglück heraufbeschworen hatte? Gerächt nach 20 Jahren? Dann blieb immer noch eine Frage offen. Wo verdammt steckte Marlene?