Broders und Pia verließen die Kneipe. Sie wurden dabei beinahe von den ersten Trinkfreudigen angerempelt, die eilig zum Tresen strömten, als Kerstin Bauer die Tür aufschloss.
»Ich hätte doch eine Bar aufmachen sollen«, sinnierte Pia und dachte an Tarifa.
»Alkohol geht eigentlich immer …«, bemerkte Broders. Dunkle Regenwolken hingen schwer über den Baumwipfeln des Deisters und schienen die Position am heutigen Tag nicht mehr aufgeben zu wollen.
»Wir wissen zwar nicht, ob Dorothea Bauer die Absicht hat, hierherzukommen, aber wir müssen darauf gefasst sein«, sagte Pia, sich wieder ihrem eigentlichen Problem zuwendend.
»Sie könnte ja längst hier sein, und wer weiß was anstellen. Nur wozu? Mein Tipp ist, dass sie dort ist, wo auch Marlene Liebig ist.«
»Und zwar?«
»Im Himmel oder der Hölle, kannst du dir aussuchen.«
Wir drehen uns im Kreis, dachte Pia entnervt.
War Marlene tot? Und Dorothea Bauer? Hatte das Verbrechen, das hier in Barsinghausen vor langer Zeit geschehen war, einen Schatten geworfen, der bis in die Gegenwart reichte?
»Also?«, fragte Broders.
»Ich werde mich jetzt gleich in der Wohnanlage umsehen, wo die beiden Mädchen aufgewachsen sind. Wenn wir schon hier sind, sollten wir nichts unversucht lassen.«
»Okay. Ich für meinen Teil fahre zurück zum Präsidium. Ich werde den Kollegen ein bisschen auf die Finger schauen bei ihren Überwachungsmaßnahmen. Mal sehen, wie feinmaschig die ihr Netz auslegen. Wenn sich was ergibt, Dorothea Bauer auftaucht oder Ähnliches, dann melde ich mich bei dir.«
Als Broders im Präsidium ankam, schien die Temperatur dort um ein paar Grad gestiegen zu sein. Kommissar Wagner informierte ihn, dass sämtliche Kollegen, die in Streifenwagen unterwegs waren, nach Dorothea Bauer und ihrem Auto Ausschau hielten. Ein schwarzer Alfa Romeo mit Lübecker Kennzeichen sollte hier wohl auffallen. Sogar an dem kleinen Bahnhof von Barsinghausen war jemand postiert, der die Passagiere der ankommenden Züge im Blick behalten sollte.
Zu spät!, hallte es höhnisch in Broders Kopf, während er den Ausführungen des Kollegen zuhörte. Als dieser geendet hatte, fragte Broders ihn, ob schon Anfragen an die Pensionen, Hotels und Fremdenzimmer gestartet worden waren.
»Ich kümmere mich darum«, antwortete Wagner und zog grummelnd ab. Es geht hier nur zu wie im wirklichen Leben, dachte Broders mit einer Spur Galgenhumor. Der Tag konnte lang werden, und er ergriff die Gelegenheit beim Schopf, sich schnell einen Kaffee zu dem belegten Brötchen zu organisieren, das er auf dem Weg hierher beim Bäcker gekauft hatte. Mit leerem Magen dachte es sich so schlecht.
Dann fiel ihm ein, dass er seiner Mutter noch absagen musste. Mittwochs ging er normalerweise nach der Arbeit mit einem Tablett Kuchen zu ihr. Ein gemütliches, regelmäßiges Beisammensein, das sie eingeführt hatten, seit sein Vater, der ihm dereinst Hausverbot erteilt hatte, auf dem Friedhof lag. Es war höchste Zeit, denn es war schon Viertel nach vier. Seine Mutter hatte bestimmt schon den Kaffee aufgesetzt …
Er wollte zum Telefonhörer greifen und zuckte zusammen, als es genau in diesem Moment klingelte.
»Broders?« Der Anruf kam von intern.
»Hier ist eine Frau Widmann am Apparat. Sie hat in der Einsatzleitstelle angerufen, aber es könnte was für Sie sein. Soll ich durchstellen?«
»Ja, nur zu …«
Widmann, Widmann? Sollte ihm der Name etwas sagen? Es knackte kurz in der Leitung, dann vernahm er eine atemlose Frauenstimme.
»Hallo?«
»Broders, Kriminalpolizei, mit wem spreche ich?«
»Das habe ich nun schon drei Mal gesagt. Gesa Widmann! Ich arbeite im Pflegeheim Waldesruh hier in Barsinghausen. Ich möchte einen … äh Vorfall melden, von dem Sie, wie ich finde, Kenntnis haben sollten.«
Drückte sich die Frau immer so geschraubt aus oder nur, wenn sie mit der Polizei sprach?
»Was ist passiert?«
»Ich hatte gerade eine Ahnenforscherin hier, die einen meiner Patienten besuchen wollte. Einen Patienten, der aber leider in der letzten Nacht verstorben ist. Ich hatte es nicht mehr rechtzeitig geschafft, Frau Schwarz, also der Ahnenforscherin, Bescheid zu sagen, dass der Herr Heck tot ist. Sie war umsonst hier und schrecklich enttäuscht, was man ja verstehen kann …«
»Ja«, erklärte Broders aufmunterd. Bei sich dachte er, dass er wohl doch nicht der richtige Adressat für diesen Anruf sei.
»Sie hatte noch eine Freundin mitgebracht, die den alten Herrn auch besuchen wollte. Als diese Freundin von mir erfuhr, dass sie umsonst hergekommen ist, wurde sie richtig unangenehm …«
»Inwiefern?«
»Als ob sie jeden Moment ausrasten würde. Ich betreue hier tagtäglich die unterschiedlichsten Menschen, aber die war wirklich die Härte. Ich hatte irgendwie das Gefühl, als ob sie die andere, diese Frau Schwarz, mit irgendetwas bedrohen würde. Die Frau Schwarz ist auch totenblass geworden.«
»Und dann?«
»Dann sind sie wieder gegangen. Frau Schwarz hat mich aber angesehen, als ob sie mich um Hilfe bäte. Sie sind gerade weg.«
»Wie wurde Frau Schwarz bedroht?«
»Also. Als die andere hörte, dass Herr Heck verstorben ist, da wurde sie richtig heftig. Sie packte Frau Schwarz am Arm, und ich hatte den Eindruck, dass sie … das klingt jetzt blöde, aber vielleicht hatte sie eine Waffe dabei. Sie hatte ihre Jacke so komisch über dem Arm. Sie hat Frau Schwarz auch irgendetwas ins Ohr geflüstert.«
Broders strich sich durch den dichten kurzen Bart und dachte nach.
»Frau Widmann. Wie sahen die Frauen aus?«
»Frau Schwarz ist so Ende 20, blond und sehr hübsch … Die andere war etwas älter, aber nicht viel. Gut gekleidet – ihr Aussehen hat mich etwas irritiert …«
»Wieso das?«
»Mein Patient, der Heck, hat mich manchmal mit einer Frau verwechselt, die er wohl von früher kannte. So etwas passiert hier natürlich ab und zu. Aber die Frau, die eben zu Heck wollte, die sieht, na ja, sie hat auf gewisse Weise Ähnlichkeit mit mir. Sie hatte auch Sommersprossen und kupferrotes Haar. Als Naturfarbe ist das ziemlich selten, und gefärbt war die nicht … Die hatte etwas mit dem Verstorbenen zu tun, da bin ich mir sicher.«
Frau Widmanns Aussage hörte sich zwar etwas wirr an, aber ihre Beschreibung der zweiten Frau stimmte mit Dorothea Bauer überein. Diese Frau Schwarz passte allerdings nicht ins Bild. Sie war blond, und Marlene Liebig hatte braunes, langes Haar. Er musste diesen Vorfall aber in jedem Fall überprüfen.
»Wie finden wir zu Ihnen, wo genau in Barsinghausen liegt das Pflegeheim?«
Gesa Widmann nannte die Adresse.
»Warten Sie auf uns, wir kommen gleich zu Ihnen und möchten Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«
»Oh, und ich dachte schon, bei der Polizei nimmt einen niemand ernst.«
Die Frau hängte ein. Broders stürzte den Rest Kaffee hinunter, das Brötchen ließ er liegen. Er brauchte einen Einsatzwagen, er brauchte Verstärkung, er brauchte die Korittki! Hastig wählte er ihre Nummer.
In Anbetracht seiner hektischen Zusammenfassung der jüngsten Entwicklungen begriff Pia sehr schnell, worum es ging. Als er sie zum Pflegeheim Waldesruh bestellte, blockte sie ihn ab. »Broders. Aus dem Pflegeheim sind diese beiden Frauen doch längst verschwunden. Wir müssen diese Dorothea Bauer finden, bevor etwas passiert.«
»Ganz deiner Meinung. Hast du irgendwelche Vorschläge?«
»Der alte Tatort, die Lichtung im Wald. Vielleicht fährt sie dort hin …«
»Und wo ist das?«
»Im Wald, wie ich schon sagte. Es ist nicht so leicht zu finden, aber der Lageplan und die Tatortskizze liegen in der Akte Bauer.«
»Schätzchen, ich bin kein Pfadfinder. Und hier auf dem Revier weiß wahrscheinlich auch niemand mehr, wo es damals passiert ist.«
»Die alte Tietge?«
»Soll ich die zum Waldlauf abholen? Beschreib mir den Weg zum Waldparkplatz, und führ mich von dort aus hin.«
»Die Zeit rennt uns davon, Broders!«
»Ich schicke ein paar Kollegen zum Pflegeheim, und wir treffen uns auf dem Parkplatz.«
Pia erklärte ihm noch kurz den Weg dorthin. Für Broders hörte es sich verdächtig wie eines dieser verdammten Räuber-und-Gendarm-Spiele an. So etwas hatte er schon als Kind gehasst. Kopfarbeit lag ihm mehr. Allein die Vorstellung, durch Wald und Flur zu hetzen, erfüllte ihn mit Widerwillen.
»Sind Sie aus dem schlau geworden, was diese Frau Widmann gesagt hat?«, fragte Wagner, der plötzlich im Türrahmen stand.
»So schlau, dass ich weiß, dass hier die Kacke am Dampfen ist«, meinte Broders grimmig.
»Ich hab schon zwei unserer Leute rüber ins Waldesruh geschickt. Dachte, es könne nicht schaden …«
»Okay, dann können Sie ja jetzt mit mir mitkommen. Ich kann einen Lotsen gebrauchen.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
Er ließ sich nicht von Broders Hektik anstecken.
»Zum alten Tatort, dem Waldstück, wo damals Dorothea Bauer vergewaltigt wurde.«
»Mist, wo soll das denn sein?«
»Waren Sie nie dort?«
»Das war vor meiner Zeit hier. Warum sollte ich?«
Pia steckte ihr Mobiltelefon zurück in die Jackentasche. Sie stand hinter den Wohnhäusern der alten Anlage, wo Marlene und Doro als Kinder gewohnt hatten, und hatte gerade ein paar Nachbarn mit ihren Fragen nach den Bauers und den Brinkmanns belästigt.
Auf der anderen Straßenseite lag hinter einer weiteren Häuserreihe der Wald. Er war in Barsinghausen allgegenwärtig. Die dunkle Regenwolke über den Baumwipfeln hatte inzwischen begonnen, ihre Last durch einen milden Nieselregen zu mindern. Die feuchten Luftschwaden hingen zwischen den dunklen Bäumen und ließen das Waldgebiet wenig einladend aussehen.
Wahrscheinlich gab es direkt von hier aus Pfade durch den Wald zu der Lichtung, die den Mädchen als Spielplatz gedient hatte. Sie war wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt. Aber ohne Ortskenntnis war es hoffnungslos, die Lichtung von hier aus finden zu wollen. Sie musste wohl oder übel von dem Parkplatz aus starten, der in der Polizeiakte vermerkt war.
Pia spurtete zum Auto und fuhr wieder zu dem Waldparkplatz, wo sie schon vor ein paar Stunden einmal geparkt hatte. Im ersten Moment sah es so aus, als stünde kein weiteres Auto hier. Bei dem Wetter ging niemand spazieren. Doch dann sah sie am hintersten Ende des Areals etwas Blaues zwischen den Büschen schimmern: ein blauer Golf mit DN Kennzeichen für Düren. Vielleicht Urlauber? Dann erinnerte sich Pia, dass auch Sixt-Leihwagen oft dieses Kennzeichen hatten. Ein Leihwagen auf einem Waldparkplatz war recht interessant.
Wenn dieser Wagen von Dorothea Bauer hier abgestellt worden war, konnte das nur bedeuten, dass sie zu der Lichtung unterwegs war. Zu Fuß war man in etwa zehn Minuten dort. Pia legte ihre Hand auf das Blech der Motorhaube und stellte fest, dass der Wagen noch warm war. Das beunruhigte sie eher noch mehr. Was immer auch vor sich ging, hier konnten Minuten, wenn nicht Sekunden den Ausschlag geben.
Sie fühlte kurz nach ihrer Waffe im Schulterhalfter und rannte los.