Anke Loss stand im Flur und griff gewohnheitsmäßig nach ihrem hellgrauen Anorak, der vorn an der Garderobe hing. Im Spiegel sah ihr eine schmale Gestalt mit müdem Gesicht entgegen, und sie entschied, dass ihr ein bisschen Farbe guttäte, auch wenn sie nur drei Häuser weiter zu einer kleinen Geburtstagsfeier ging. Immerhin würde er da sein. Sie nahm die orangefarbene Wildlederjacke vom Bügel und zog sie über. Hauptsache, es regnete nicht schon wieder. Dazu die neuen hochhackigen Stiefel – schon besser. Sie strich sich das volle braune Haar aus dem Gesicht und lächelte sich aufmunternd zu. Wo Daniel nur wieder blieb?
Sie hatte ihren Mann vor einer Dreiviertelstunde das erste Mal vorsorglich an den Termin heute Abend erinnert, dann im Drei-Minuten-Takt, aber wenn er vor dem Rechner saß, hörte und sah er nichts.
Sie hatte die Kinder allein zu Bett gebracht, das Zähneputzen kontrolliert, die Betten aufgeschüttelt, vorgelesen, Spieluhren aufgezogen, und nun endlich schienen sie zu schlafen. Sie griff nach dem Empfänger des Babyfons und steckte ihn in ihre Jackentasche.
»Daniel, es ist nach acht!«, rief sie verhalten, und sofort knarrte und krächzte das Babyfon in ihrer Tasche. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingerspitzen gegen den Türrahmen. Gleich würde sie allein losgehen. Die Weinflasche und ein Taschenbuch lagen dekorativ verpackt auf der kleinen Flurablage. Sie hatten den gleichen Geschmack, Thorsten Maybach und sie, nicht nur, was guten Wein und gute Bücher betraf. Seltsam, dass so ein Mann allein lebte.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie so laut, wie es mit schlafenden Kindern im Haus eben möglich war. In diesem Moment kam Daniel die Treppe herunter. Wie immer trug er seine ausgebeulte Cordhose und das alte Sweatshirt. Sein Haar sah ungewaschen aus. Bei ihrem Anblick stutzte er. »So aufgebrezelt? Wir gehen doch nur zu den Nachbarn …« Immerhin sah er sie überhaupt an. Es musste an dem leuchtenden Orange liegen.
»Ich hatte Lust auf ein bisschen Farbe …«, antwortete sie leichthin.
»Und ich habe gar keine Lust«, sagte er halblaut und suchte nach seinen Schuhen.
»Das ist ja nichts Neues bei dir. Vielleicht solltest du dich nicht jeden Abend in deinem Arbeitszimmer vergraben, Daniel. Wenn du schon gestern nicht an der Einwohnerversammlung zur geplanten Umgehungsstraße teilgenommen hast, könntest du jetzt wenigstens etwas Interesse an dem Thema zeigen. Das geht auch dich an«, antwortete sie und beobachtete leicht besorgt seine Reaktion. Sie klemmte sich Wein und Buch unter den Arm und zog die Haustür auf.
»Ich weiß gar nicht, worüber ihr euch alle so aufregt. Die werden die neue Umgehungsstraße sowieso genau dorthin bauen, wo es ihnen in den Kram passt. Wahrscheinlich ist alles schon längst entschieden, ihr wisst es nur noch nicht.«
»Du bist ein unverbesserlicher Pessimist, Daniel. Manchmal kann ich nicht glauben, dass einer wie du Tag für Tag eine Abteilung leitet und Entscheidungen trifft. Wie halten deine Leute es nur mit dir aus?«
»Davon verstehst du nichts«, sagte er, sein Gesicht war ernst. Lag es nur daran, dass er keine Lust auf Nachbarschaftsklatsch hatte, oder steckte er in beruflichen Schwierigkeiten? Anke wurde ein wenig flau. Sie kamen jeden Monat gerade mal so über die Runden mit den Raten für ihr Haus. Leise, um die Kinder nicht zu wecken, zog sie die Haustür hinter sich ins Schloss. Feiner Nieselregen schlug ihr ins Gesicht, als sie neben ihrem Mann zum Nachbarhaus hinübereilte.
»Anke, Daniel, schön, dass ihr da seid.« Thorsten Maybach nahm die Geschenke entgegen und legte sie auf der Flurkommode ab. Während er ihre Jacken an die Garderobe hängte, sah Daniel sich neugierig um. Er ist noch nie hier gewesen, dachte Anke alarmiert. Sie musste aufpassen, was sie sagte.
»Alles in Ordnung bei dir?« Thorsten ließ seine warme Hand einen Moment länger auf ihrem Schulterblatt ruhen, als der offiziellen Begrüßung angemessen war.
»Oh, klar doch«, sagte sie lächelnd und trat einen Schritt zurück. »Alles Gute zum Geburtstag, Thorsten! Vielen Dank für die Einladung.«
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Mehr war nicht drin. Daniel stand neben ihnen, sein langes Gesicht wirkte unbeteiligt, aber Anke war sich sicher, dass er jedes Wort, das sie mit Thorsten wechselte, genau registrierte. Bei ihrem nächsten Streit bekäme sie alles aufs Butterbrot geschmiert.
Im Wohnzimmer musterte Anke die anderen Gäste. Fast alle aus der Straße waren anwesend. Das war nicht weiter überraschend, denn sie pflegten hier eine gute Nachbarschaft. Nur Gina Arzberg-Wenning schien noch nicht da zu sein. Die einzige alleinstehende Frau in der Siedlung, und ausgerechnet sie versäumte Thorsten Maybachs Feier? Dafür entdeckte Anke auch Leo Körting unter den Gästen, dem ein Hotel etwas außerhalb von Kirchhagen gehörte. Mit seiner solariengebräunten Haut und dem Kaschmirsakko passte er nicht so recht in das Bild bürgerlichen Understatements, das die anderen boten. Alle waren eher lässig gekleidet, ihre Gesichter sahen winterblass und müde aus. War dieser Körting mit Thorsten Maybach befreundet? Das wäre ihr neu.
Daniel gesellte sich sofort zu den Senkbleis, sodass Anke Gelegenheit hatte, zu Thorsten in die Küche zu verschwinden.
»Kann ich dir helfen?«
»Oh, nett von dir, aber ich habe alles im Griff. Du kannst gern schon zu den anderen rübergehen.«
»Was macht denn Leo Körting hier? Kennst du ihn näher?«
»Ach, der hat mich neulich mal angesprochen. Ich glaube, er sucht Unterstützung wegen der geplanten Umgehungsstraße.«
Anke nickte. Leo Körtings Hotel war klein, aber fein, in einem romantischen Fachwerkhaus, zwischen Feldern und Wiesen gelegen. Er warb mit guter Küche, Ruhe und unberührter Natur. Wenn die geplante Ortsumgehung in naher Zukunft im Osten um Kirchhagen herumführte, dann wäre es dort vorbei mit Ruhe und Beschaulichkeit. Da konnte Körting sein Hotel auch gleich dichtmachen.
Anke war aber eigentlich nicht in die Küche gekommen, um mit ihrem Gastgeber zu reden. »Was diese Straße angeht, müssen wir jetzt zusammenhalten, das ist klar«, sagte sie leise und berührte wie zufällig seine Hüfte. Thorsten hielt in der Bewegung inne und sah zur offen stehenden Küchentür. Musik und Stimmengemurmel klangen zu ihnen herein.
Sie ging einen Schritt näher, sodass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte. Das Gefühl, jeden Moment entdeckt zu werden, machte ihr Spaß. Thorsten griff ihr ins Haar, beugte sich zu ihr hinunter, doch ein Geräusch ließ ihn innehalten. Morgen, formten seine Lippen. Und dann lauter: »Lass uns reingehen. Nimmst du das Tablett mit den Gläsern?«
So ein Feigling, dachte sie. Es war doch nur irgendwer an der Küchentür vorbeigegangen. »Warum machen die überhaupt so eine Umweltverträglichkeitsuntersuchung, wenn die nachher angeblich sowieso keine Rolle mehr spielt?«, fragte Heidi Senkblei gerade, als Anke Loss und Thorsten Maybach wieder ins Wohnzimmer traten. Heidi Senkblei wohnte im Osten von Kirchhagen und sah sich, wie die anderen auch, vom Ergebnis der Umweltstudie benachteiligt.
»Das gehört zu so einer Voruntersuchung einfach dazu. So sind nun mal die Vorschriften«, erwiderte Daniel. Mit anderen Menschen konnte er also Konversation machen! Sieh an, sieh an, die Umgehungsstraße interessiert ihn also auch, dachte Anke verärgert.
»Aber warum ist die Natur hier im Osten weniger wert als die im Westen? Kann mir das mal einer erklären? Letzten Endes muss es doch um die Menschen gehen und nicht um ein paar Kröten und Vögel«, beharrte die Senkblei.
»Bei diesen Umweltstudien geht es sowieso hauptsächlich um das sogenannte Schutzgut Mensch«, erklärte Daniel geduldig. »Sie wollen die Natur für den Menschen schützen, denn wir sind ein Teil des Ökosystems. Die Studie hat wohl gezeigt, dass sich in den Korridoren im Osten weniger Konfliktpunkte befinden als im Westen. Da gibt es das Wäldchen, Biotope, Fließgewässer …«
»Fließgewässer!«, schnaubte nun auch Karl Senkblei. »Ich bin alle möglichen Streckenführungen zu Fuß abgegangen. Die Au ist an der Stelle, wo die eine Trasse langführen würde, nur ein schmaler Graben, da bin ich rübergehüpft!«
Daniel zuckte nichtssagend mit den Schultern. Gegen die aufgewühlten Emotionen kamen sachliche Argumente sowieso nicht an. Was hatten abstrakte Begriffe wie Raumwiderstandsdichte und Konfliktpotenzial denn für ein Gewicht, wenn die Gefahr bestand, dass demnächst direkt hinter dem eigenen Gartenzaun eine stark befahrene Straße entlangführen sollte?
»Dieser dreckige kleine Bach im Westen ist doch ein Witz«, sagte Leo Körting. »Da stehen ganz andere Interessen dahinter, wenn sie die Straße bei uns im Osten bauen wollen.« Er redete leise, aber etwas in seinem Verhalten bewirkte, dass alle ihm zuhörten. »Entscheidend ist doch, wer hier wie viel Einfluss auf die Entscheidung des Ministeriums nehmen wird, nicht wahr? Also: Die Landwirte im Westen, wie Dettendorf und Reuter, werden alles daransetzen, dass die Straße östlich um Kirchhagen verläuft, das ist doch klar. Den Anwohnern an der Hauptstraße liegt vor allem daran, dass die Umgehungsstraße überhaupt gebaut wird. Wir hier im Osten haben die schlechtesten Karten. Die ortsnahe Ostvariante ist die kürzeste und deshalb auch die wirtschaftlichste Strecke, und angeblich ist auch noch diese Raumwiderstandsdichte geringer als im westlichen Umland von Kirchhagen. Die Frage ist, wie wir trotz dieser Voraussetzungen unsere Interessen durchsetzen können.«
»Gar nicht«, sagte Daniel. »Wenn es heißt: Geld oder Natur, dann gibt das Geld den Ausschlag, das ist doch klar. Wenn die Westumgehung und die ortsferne Ostumgehung zu teuer sind, wird die Straße ortsnah und östlich um Kirchhagen herum verlaufen.«
»Die ortsnahe Ostvariante und die Westvariante sind in etwa gleich lang. Ich habe es auf der Karte nachgemessen«, sagte Heidi Senkblei.
»Ja, und deshalb müssen wir uns für die Westvariante starkmachen, nicht für die ortsferne Ostumgehung. Dann haben wir eine realistische Chance«, sagte Leo Körting bestimmt. Kein Wunder, sein Hotel wäre von der ortsfernen Ostvariante am stärksten betroffen, dachte Anke Loss.
»Dann haben wir vor allem Reuter, Dettendorf und Konsorten gegen uns. Die werden sich mit allen Mitteln wehren, weil sie der Meinung sind, eine Westumgehung gefährde ihre Existenz. Die neue Straße würde deren Land durchschneiden und damit die Hauskoppeln von den Höfen abtrennen«, sagte Thorsten Maybach.
»Ach, die bekommen einen Tunnel oder eine Brücke oder so … Aber was ist mit dem Wertverlust unserer Eigenheime? Stehen da keine Existenzen auf dem Spiel?«, fragte Heidi Senkblei in die Runde.
Auf einmal redeten alle durcheinander.
»Ich werde mein Hotel jedenfalls nicht kampflos aufgeben, ich werde …« Weiter kam Leo Körting nicht, denn die Türglocke schrillte.
Thorsten Maybach ging hinaus und kam wenig später mit einer völlig verstörten Gina Arzberg-Wenning ins Wohnzimmer zurück. Anke Loss bedachte die unscheinbare Frau mit einem genervten Blick. Wollsocke nannte sie sie für sich, weil sie meistens Selbstgestricktes trug und sich die Haare mit Henna färbte. Heute klebte ihr eine feuchte rote Strähne auf der erhitzten Stirn. Thorsten zog einen Stuhl für sie heran, doch Gina Arzberg-Wenning dachte nicht daran, sich zu setzen, sondern klammerte sich zitternd an Thorsten Maybachs linken Arm.
Die anderen Gäste schienen noch gar nichts bemerkt zu haben.
»Wozu braucht Frank Reuter noch Hauskoppeln?«, fragte Karl Senkblei in die Runde, »der hat doch seine Milchquote verkauft, als er den Hof übernommen hat. Dettendorf ist es, um den wir uns Sorgen machen müssen, Jan Dettendorf, der mit dieser Journalisten liiert ist …«
»Sagt mal, lebt ihr eigentlich auf dem Mond oder was?« Die Gesichtsfarbe von Gina Arzberg-Wenning näherte sich dem Farbton ihrer Haare. Ihr schriller Ton sorgte dafür, dass alle anderen sie verblüfft anstarrten.
»Wisst ihr es denn noch nicht? Dettendorfs Freundin ist tot.«
Anke Loss schüttelte ungläubig den Kopf. »Gestern Abend war sie doch noch auf unserer Einwohnerversammlung«, sagte sie mit Nachdruck. Lisanne Olsen konnte nicht tot sein. Sie war nicht älter als sie selbst, vielleicht auch ein oder zwei Jahre jünger …
»Und jetzt ist sie tot. Marion Burmeister hat es mir vorhin erzählt, und die weiß es von Jan Dettendorf. Lisanne Olsen ist heute Morgen mit ihrem Pferd verunglückt. Ein tödlicher Reitunfall …«
Alle sahen sich betroffen an. Sogar Leo Körting war blass geworden. Er kippte den Rest Sekt in einem Zug hinunter und stand abrupt auf. »Scheiß Gäule. Wusste ich schon immer«, bemerkte er grob und verließ polternd den Raum.
Anke sah ihm nach. War ihr da irgendwas entgangen?