9. Kapitel

Besuch, Alte.« Er gab der stoisch dreinblickenden Braunen einen Klaps, die daraufhin gemächlich in ihre Box zurücktrottete. Die Stute war hoch tragend, Jan Dettendorf wartete auf die Geburt ihres achten Fohlens. Es konnte jederzeit so weit sein.

Wenn es nachts losging, würde er Lisanne umso schmerzlicher vermissen. Sie hatte ihm oft im Stall geholfen. Statt Lisanne war jedoch gerade die Kommissarin aus Lübeck durch die offen stehende Stalltür hereingekommen. Die Absätze ihrer Stiefel klackten auf der von ihm gerade gefegten Stallgasse. Sein Abfohlstall war mindestens so sauber wie seine Wohnstube, fand er, und manchmal kam er ihm auch viel gemütlicher vor.

»Bei Ihnen möchte man ja direkt auch ein Pferd sein«, begrüßte sie ihn, sich im Stall umsehend. »Morgen, Herr Dettendorf. Ich würde gern noch einmal mit Ihnen sprechen.«

»Haben Sie etwas Neues herausgefunden?«

»Ich habe noch ein paar Fragen an Sie«, sagte Pia ausweichend. »Wollen wir reingehen?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir uns in die Sattelkammer setzen, da ist es warm, und ich muss mich nicht extra umziehen.«

»Ist mir recht, gehen Sie vor.«

Dettendorf führte die Kommissarin in einen angrenzenden Raum. An der linken Wand stapelten sich Sättel und Zaumzeug, und gegenüber am Fenster stand ein kleiner Tisch mit einem Stuhl, auf dem Pferdedecken lagen. An der rechten Wand stand ein Feldbett mit Schlafsack, daneben bullerte der elektrische Heizofen. Es war ein gemütlicher, komplett mit Holz vertäfelter Raum. Jan Dettendorf liebte diesen Raum. Es war Lisannes Idee gewesen, ihn so herzurichten. Sie hatte den durchdringenden Geruch nach Leder, Schweiß und Pferd immer so gern gemocht.

Als er heute Morgen aus dem Haus getreten war, war alles mit Raureif bedeckt gewesen. Es hatte ausgesehen, als hätte die Kälte der Natur über Nacht alle Farben entzogen. Dafür waren die Strukturen der Gräser und Blätter umso stärker hervorgetreten. Minus fünf Grad bei Sonnenaufgang. Er hatte als Allererstes den Ofen in der Sattelkammer auf die höchste Stufe eingestellt. Schließlich wusste er nicht, wo er die nächste Nacht verbringen würde.

Er hob die Decken vom Stuhl, wischte mit dem Ärmel die Pferdehaare von der Sitzfläche und bot der Kommissarin den Platz an. Er selbst setzte sich auf das Feldbett.

Pia kam gleich zur Sache. »Wir suchen nach Lisanne Olsens Terminkalender. Bisher ist nichts dergleichen gefunden worden.«

Dettendorf stutzte. Er sah ihn förmlich vor sich, ein Filofax, sündhaft teuer, in braunem Leder mit Krokoprägung. Lisanne hatte sich wie selbstverständlich nur mit edlen Dingen umgeben. Während er in die forschenden blauen Augen der Kommissarin blickte, wurde sein Gehirn leer und leerer. Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nicht einmal, wann ich den Kalender zuletzt gesehen habe. Meistens lag er auf dem Küchentisch oder auf der Kommode im Flur. Aber das kann schon Wochen her sein. Ich weiß es einfach nicht.«

»Können Sie sich vorstellen, dass ihre Freundin den Kalender versteckt hat? Fühlte sie sich von irgendjemandem bedroht?«

»Sie hat nichts gesagt. Sicher, wegen der Straße hat sie sich bei ein paar Leuten hier nicht gerade beliebt gemacht, aber bedroht gefühlt hat sie sich deswegen nicht.«

»Denken Sie nach. Ist in letzter Zeit irgendetwas Besonderes vorgefallen?«

Dettendorf versuchte, die letzten Wochen mit Lisanne Revue passieren zu lassen. »Nichts, was Lisanne oder mich besonders beunruhigt hätte. Neulich war morgens ihr Autoreifen platt. Das sagte ich ja schon. Aber sie hat behauptet, in einen Nagel gefahren zu sein.«

»Sie hatten Zweifel?«

»Na ja. Es hätte ja auch sein können, dass jemand sie damit ärgern wollte. So was sähe denen ähnlich«

»Wem sähe so etwas ähnlich?« Pia fragte mit leiser Stimme, präzise und mit scharfem Unterton.

Gern hätte Dettendorf ihr ein Lächeln entlockt, wie am Anfang, als sie in den Stall gekommen war. Er bildete sich ein, dass es ihm helfen würde, sich an Lisanne zu erinnern. »Hm. Ein dummer Streich, da würde ich vielleicht auf ein paar Jugendliche als Täter tippen. Aber ein Hindernis zu manipulieren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, das traue ich denen nicht zu … Ich kann es immer noch nicht glauben.« Er spürte Wut im Bauch, tief sitzende brodelnde Wut. Und er fürchtete den Moment, wenn sie hervorbrechen würde. Doch gleichzeitig sehnte er diesen Moment herbei. Würde es den Schmerz erträglicher machen?

Die Kommissarin sah ihn unverwandt an. »Sie sollten es aber glauben. Man hat das Leben ihrer Freundin nicht nur aufs Spiel gesetzt, sondern sie wurde vorsätzlich getötet. Jemand meint es verdammt ernst, und Sie sollten das auch tun.«

Bildete er es sich ein, oder lag ein Anflug von Besorgnis in ihren sorgfältig gewählten Worten.

»Ich habe Licht gesehen«, sagte er unvermittelt, »an jenem Morgen in ihrem Haus, hinter dem Dachfenster. Später war es wieder aus.«

»Wann haben Sie Licht gesehen?«

»Am Morgen von Lisannes … Tod. Sie hatte ja bei mir übernachtet, war aber früh aufgestanden, um vor der Arbeit ihr Training zu absolvieren. Sie ritt oft im Halbdunkeln hier los, damit sie im ersten Tageslicht an der Trainingsstrecke war. Wenn sie gegen halb neun wiederkam, war ich meistens gerade im Stall und habe gefüttert. Ich bin kein Frühaufsteher.«

»Wann haben Sie an dem Morgen das Licht gesehen?«

»Ich kam um kurz nach halb neun aus dem Haus und habe ganz automatisch zu ihrer Kate hinübergeschaut. Ich bemerkte den Lichtschein hinter dem Fenster ihres Arbeitszimmers. Es war zwar schon hell, aber es war ein regnerischer, dunkler Tag, nicht so wie heute. Ich wusste, dass Lisanne eigentlich hatte reiten wollen, aber ich nahm an, dass sie noch eine wichtige Arbeit zu erledigen hatte und deshalb doch nicht geritten war. Im Stall habe ich dann gesehen, dass Absalom, ihr Pferd, nicht in seiner Box stand. Also war sie doch reiten gegangen. Ich dachte, sie wäre erst später losgekommen und hätte nur vergessen, oben das Licht auszumachen. Ich habe danach nicht mehr dran gedacht. Es schien mir unwichtig zu sein. Als sie drei Stunden später immer noch nicht wieder zurück war, habe ich mich auf die Suche nach ihr gemacht. Den Teil der Geschichte kennen Sie ja schon. In der Aufregung habe ich das Licht einfach vergessen. Aber jemand muss es im Lauf des Tages ausgemacht haben, denn abends war das Haus komplett dunkel. Könnten das Ihre Leute gewesen sein?«

»Nein. Die haben am Dienstag nur die Eingangstür versiegelt.«

Pia stand abrupt auf. »Sind Sie sicher? Das ist wichtig! Es bedeutet schließlich, das jemand in ihrem Haus war, nachdem sie losgeritten ist. Es sei denn, sie hat das Licht selbst angelassen, und später ist die Glühbirne durchgebrannt. Aber das lässt sich nachprüfen.«

Auch Dettendorf stand auf. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie. Zwischen Liege und Tisch war nur ein knapper Meter Platz. Er roch ihr Haarshampoo, das nach Vanille duftete. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, bin ich mir ziemlich sicher, dass es genau so war. Wir können gleich rübergehen und die Glühbirne kontrollieren.«

»Moment.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück. Dann lächelte sie. »Ich muss erst noch ein paar Sachen aus meinem Auto holen.«

Die Glühbirne in der Schreibtischleuchte von Lisannes Arbeitszimmer war nicht defekt. Ebenso die Deckenleuchte, die sich vom Lichtschalter an der Tür bedienen ließ. Das Spurensicherungsteam hatte auf allen Schaltern und Türklinken schwarzes Fingerabdruckpulver hinterlassen. Pia hatte Handschuhe übergezogen und schaltete nun probeweise beide Leuchten abwechselnd an und aus, während Jan Dettendorf draußen stand und das Fenster von derselben Position aus beobachtete wie an dem Morgen, als er das Licht gesehen hatte.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Schreibtischleuchte war, die ich gesehen habe. Und sie hat gebrannt, nachdem Lisanne mit ihrem Pferd das Hofgelände verlassen hatte.«

»Sie wissen, dass sich durch Ihre Aussage ein neues Bild von der Situation ergibt?«, fragte Pia, während sie die Schreibtischleuchte, in Plastikfolie verpackt und mit einer Decke abgepolstert, im Kofferraum ihres Wagens verstaute.

»Weil noch jemand im Haus war?«

»Eine andere Erklärung gibt es nicht. Selbst wenn ihre Freundin die Lampe selbst hat brennen lassen, muss später jemand im Arbeitszimmer gewesen sein und sie ausgeschaltet haben.«

»Ich habe aber niemanden auf dem Hof gesehen.«

»Die zweite Frage ist, warum jemand in Lisanne Olsens Arbeitszimmer war.«

»Keine Ahnung, wirklich nicht, und im Grunde …«

»Ja?«

»Es bringt sie nicht zurück … Es macht sie nicht wieder lebendig, nicht wahr? Diese ganze Fragerei. Es ändert im Grunde nichts.« Er hörte selbst, wie trotzig das klang. Aber verdammt, niemand konnte seine Freundin wieder zum Leben erwecken, auch nicht die beste Polizeibeamtin. Und was das Ganze noch schlimmer machte: Sie erinnerte ihn schmerzlich an Lisanne. Beide hatten dieselbe Art zu arbeiten: effizient, hochmotiviert und hartnäckig.

»Wer hatte alles einen Schlüssel zu Frau Olsens Haus?«, fragte sie, anscheinend unbeeindruckt von seinem trotzigen Tonfall. Bestimmt kannte sie das alles schon, die ganze Bandbreite menschlicher Reaktionen. Was für ein Job!

»Nur Lisanne und ich.«

»Ihr Onkel oder eine Freundin?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.« Er schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf.

»Oder hatte sie eine Putzfrau?«

»Ja, jetzt, wo Sie es sagen. Meta Stoppe kam zweimal in der Woche für zwei Stunden. Sie ist die Perle von Kirchhagen, soll heißen, sie putzt in vielen Haushalten. Sie ist ein bisschen eigenwillig, aber trotzdem die Beste, die man bekommen kann. Meistens war Lisanne schon zur Arbeit gefahren, wenn sie kam. Sie muss einen Schlüssel gehabt haben, sie haben recht.«

»Hat Frau Stoppe auch bei Ihnen geputzt?«

»Oh, nein. Sieht es so aus?«

Er fühlte sich plötzlich verlegen unter ihrem glasklaren Blick. Das helle Licht der Wintersonne blendete ihn.

»Wo kann ich diese Meta Stoppe finden?«

»Sie wohnt direkt hinterm Dorfkrug

»Danke schön.«

Er beobachtete sie, wie sie in ihren schwarzen Citroen stieg und vom Hof fuhr. Er war wieder allein.

Gerlach hatte sich gerade in seinem Bürostuhl zurückgelehnt und die Füße auf der Fensterbank platziert, was ihm bei seinen einsneunzig eine einigermaßen entspannte Sitzhaltung ermöglichte. Vor sich auf dem Schreibtisch standen ein Becher frischer Kaffee, eine Flasche Fanta und die obligatorische Mohnschnecke, die er sich stets auf dem Weg zur Arbeit kaufte. Fanta und Mohnschnecke, das schäumte immer so schön im Magen!

Es hätte eine entspannte Frühstückspause werden können, wäre sein Kollege Heidmüller nicht in diesem Moment in sein Büro geplatzt. »Du rätst nie, was mit dem Ding hier los ist!«, rief er fröhlich. Er trug Lisanne Olsens Notebook wie ein Baby auf dem Arm. Sein rundes Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten.

Gerlachs Neugierde focht einen kurzen Kampf mit seinem Appetit. Die Neugierde siegte. »Kannst du das Ding hier hinstellen? Was hast du gefunden?«

»Nichts.« Er wischte ein paar Krümel beiseite, bevor er das Notebook auf Gerlachs Schreibtisch abstellte, aufklappte und auf der Tastatur herumzutippen begann.

»Wie – nichts? Alles gelöscht?«

»Schön wäre es.« Auf Heidmüllers Gesicht zeigte sich ein ironisches Lächeln. Gerlach wartete ungeduldig darauf, dass sein Kollege fortfuhr. »Man kann Dateien auf einem Rechner niemals wirklich löschen. Du müsstest die Festplatte einstampfen und in winzige Teile schreddern, wenn du es richtig machen willst.«

»Ist das denn passiert?«, fragte Gerlach ungläubig.

»Nein. Es ist viel trivialer und gleichzeitig irgendwie genial … Es ist keine Festplatte mehr im Laptop.«

»Das Ding ist eine … Hülle?«

»Jetzt schon. Du musst nur eine Schraube lösen bei dem Fabrikat, und die Festplatte fällt dir entgegen. Ich kann nichts machen.«

Gerlach stöhnte auf.

»Ich liefere nur die Fakten«, sagte Heidmüller, »interpretieren müsst ihr sie schon selbst. Brauchst du mich noch?«

Der süßliche Geruch der Mohnschnecke hing in der Luft und weckte, wie Gerlach vermutete, den Fluchtinstinkt bei Heidmüller. Im Gegensatz zu ihm – er achtete peinlichst auf sein Gewicht und ging regelmäßig ins Fitnessstudio – schleppte Heidmüller etwa zwanzig Kilo Übergewicht mit sich herum. Ab und zu versuchte er anscheinend abzunehmen. Vielleicht war es mal wieder so weit, und er stand deshalb nicht auf den Geruch von Mohnschnecken am Vormittag.

»Willst du bei der Besprechung nachher dabei sein?«, fragte Gerlach. »Ich würde dir Bescheid sagen, dann kannst du es den anderen selbst erzählen. Es kann allerdings später werden. Broders und Korittki sind unterwegs …«

Heidmüller klappte das Notebook zu und winkte ab. »Ich hab’ noch was anderes zu tun. Guten Appetit auch.«

Hinter seinem Rücken rollte Gerlach mit den Augen und griff zur Fantaflasche.