10. Kapitel

Es war kurz nach acht Uhr abends, als Pia Korittki wieder im Polizeihochhaus eintraf. Die anderen erwarteten sie schon ungeduldig. Broders, verschwitzt und grantig, konfrontierte sie gleich mit den jüngsten Neuigkeiten. »Die Schwester des Opfers, diese Fabienne Olsen, ist wahrscheinlich tot. Schon seit über vier Wochen! Was sagst du nun, Engelchen?«

»Lasst mich doch erst mal ankommen. Seid ihr schon lange hier?« Pia zog ihre Jacke aus und warf sie über die Stuhllehne. Sie war in Lübeck unterwegs gewesen, hatte mit diversen Leuten gesprochen, aber den Mann, mit dem sich Lisanne Olsen am Samstag vor ihrem Tod in einem Café getroffen hatte, nicht ausfindig machen können. Dafür war sie in den Besitz eines Videos aus einer Überwachungskamera gekommen, die den Bereich vor dem Café gefilmt hatte, in dem Marion Burmeister Lisanne Olsen und ihren Begleiter gesehen haben wollte. Pia hatte auf dem Band gesehen, wie sowohl Lisanne als auch Marion Burmeister am Samstagvormittag das Café betreten und verlassen hatten, aber wer der geheimnisvolle Unbekannte gewesen war, hatte sie nicht herausfinden können. Sie würde der Burmeister das Videomaterial vorspielen müssen. Nach einem Käsebrötchen in jenem Café hatte sie nichts mehr gegessen, nur noch Kaffee von miserabler Qualität getrunken. So schüttelte sie nun auch ablehnend den Kopf, als Gerlach die Thermoskanne anhob, um anzudeuten, dass noch Kaffee da war. Stattdessen fragte sie: »Fabienne Olsen ist wahrscheinlich tot? Wo und wann ist das passiert?«

»Am 23. September dieses Jahres ist in einer leer stehenden Wohnung in Saint-Ouen eine Frau tot aufgefunden worden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich dabei um Fabienne Olsen handelt. Saint-Ouen gehört zu den Vororten von Paris, ein sozialer Brennpunkt. Heroin in Verbindung mit Tabletten war die Todesursache. Die französische Polizei konnte die Identität der Toten bisher nicht zweifelsfrei feststellen, obwohl es Hinweise aus dem Milieu gab, dass die Frau eine Deutsche war. Ihr Lebensgefährte, ein Franzose, hatte sich vor drei Monaten mit einem ähnlichen Cocktail das Leben genommen.«

»Na, das sind Neuigkeiten. Zwei Schwestern, allen bisherigen Informationen nach ohne Kontakt zueinander und in einem völlig unterschiedlichen Umfeld lebend, und sie sterben kurz nacheinander …«, sagte Pia nachdenklich. »Wussten weder Schwester noch Onkel vom Tod dieser Fabienne Olsen?«

Gerlach zog die Stirn in Falten. »Ich habe noch einmal mit Conrad Kruse gesprochen. Er behauptet, es nicht gewusst zu haben. Angeblich hat er seine jüngere Nichte abgeschrieben, nachdem sie den x-ten Entzug abgebrochen hatte. Danach war Fabienne Olsen nach Frankreich gegangen und hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Das klingt relativ plausibel, wenn man bedenkt, dass wir auch bei Lisannes Unterlagen nichts über ihre Schwester gefunden haben, von ein paar alten Fotos einmal abgesehen. Andererseits …« Er machte ein Kunstpause.

»Mach’s nicht so spannend, Gerlach!« Pia bemerkte, dass ihr Ton schärfer klang als beabsichtigt.

»Sag es lieber gleich, sonst springt sie dir noch an die Gurgel«, sagte Broders.

War ihr die Ungeduld so deutlich im Gesicht abzulesen? Pia warf einen Blick auf ihr Spiegelbild, dass ihr verzerrt von der Fensterscheibe vor dem Hintergrund des dunklen Himmels entgegenblickte. Sie war blass und hatte Ränder unter den Augen. Die Ermittlungen waren in einem Stadium, in denen ihnen die Zeit davonzulaufen drohte.

»Auf der Internetseite des BKA befindet sich ein Foto der Toten aus Saint-Ouen: Unter der Rubrik Unbekannte Tote. Die Polizei in Saint-Ouen hatte, nachdem durchklang, dass es sich um eine Deutsche handeln könnte, das Auswärtige Amt informiert. Das wiederum hat sich in der Angelegenheit an das BKA gewandt.«

»Angenommen, diese Tote ist tatsächlich Fabienne Olsen, welche Konsequenzen hat das für den Fortgang unserer Ermittlungen?«, fragte Broders, dessen Stimme jetzt auch angespannt klang.

»Wir müssen herausfinden, ob Lisanne Olsen oder Conrad Kruse davon gewusst haben. Wenn auch nur die winzige Chance besteht, dass Kruse davon wusste, hatte er ein eindeutiges Motiv für den Mord an der anderen Schwester«, sagte Pia.

»Immerhin hatten beide lange Zeit nichts von Fabienne Olsen gehört … Rein theoretisch könnten Conrad Kruse oder Lisanne Olsen Nachforschungen über den Verbleib ihrer Nichte beziehungsweise Schwester angestellt haben. Sie könnten sogar im Internet recherchiert und das Foto der Toten gefunden haben. Sie haben sich jedoch nicht mit dem BKA in Verbindung gesetzt, entweder aus Gleichgültigkeit oder weil nicht unerhebliche Kosten auf sie zugekommen wären.« Broders runzelte die Stirn.

»Ich halte das für unwahrscheinlich«, sagte Gerlach. »Conrad Kruse scheint mir nicht der Typ zu sein, der im Internet Nachforschungen über den Verbleib seiner Nichte anstellt. Jedenfalls nicht ohne konkreten Anlass. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, warum Lisanne Olsen nicht reagiert haben sollte, wenn es Hinweise auf den Tod ihrer Schwester gegeben hätte. Hätte sie zugelassen, dass ihre Schwester anonym in Frankreich beerdigt wird? Sie lebte doch in sehr geregelten Verhältnissen, auch wenn sie keinen Kontakt zu ihrer drogenabhängigen Schwester hatte. Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie etwas unternommen, denke ich. Und sie hätte es wohl auch ihrem Freund erzählt. Was wusste Dettendorf eigentlich über die Schwester?«

»Im Grunde nicht viel. Angeblich wusste er nur, dass es überhaupt eine Schwester gab«, sagte Pia und zog eine Flasche Mineralwasser aus ihrer Tasche.

»Nehmen wir mal an, Lisanne Olsen wusste nichts vom Tod ihrer Schwester in Frankreich. Der Kontakt war vor längerer Zeit abgebrochen. Aber ihr Onkel hat es irgendwie herausgefunden: Dann konnte er sich ausrechnen, dass er nach dem Tod der zweiten Nichte das gesamte Olsen-Vermögen erben würde, vorausgesetzt, Lisanne Olsen hätte keine Zeit mehr, ein eigenes Testament aufzusetzen, das etwas anderes vorsieht.«

»Immerhin ein plausibles Motiv für ihn. Aber es steht und fällt mit der vagen Annahme, er hätte irgendwie vom Tod seiner Nichte erfahren …«, sagte Pia.

Alle schwiegen einen Moment und dachten über die Konsequenzen nach, die sich daraus ergaben.

»Was meinst du, Gerlach?«, fragte Broders nach einer Weile seufzend. »Du hast mit Conrad Kruse gesprochen.«

»Wir können es zumindest nicht ausschließen. Wenn er vom Tod seiner Nichte in Frankreich erfahren hat, dann hätte er ein Motiv gehabt, Lisanne Olsen umzubringen. Er kann zum Beispiel Kontakte nach Saint-Ouen gehabt haben, von denen wir nichts wissen. Ich werde versuchen, das nachzuprüfen. Und auch, wo er am Montagabend und am Dienstagmorgen war, als die Olsen ermordet wurde. Das Drahtseil wurde vielleicht schon Montagabend über das Hindernis gespannt. Aber nach dem Sturz war noch jemand da, der sichergehen wollte, dass Lisanne den Unfall nicht überlebt, und der ihr den tödlichen Schlag versetzt hat. Wir haben eine relativ genau eingegrenzte Tatzeit. Wenn es Conrad Kruse war, müsste er zu dem Zeitpunkt aber einen Wagen gehabt haben, um zum Tatort zu gelangen. Ohne Auto war die Tat an diesem abgelegenen Ort kaum durchführbar …«

»Wenn er keinen Wagen besitzt, müssen wir feststellen, ob er sich einen Mietwagen genommen hat oder sich privat einen geliehen hat«, warf Broders ein.

»Was mich an dieser Theorie stört, ist, dass Conrad Kruse eigentlich nicht Bescheid wissen konnte, wann Lisanne wo auftauchen würde. Woher sollte er wissen, wann sie reiten würde und wo die Trainingsstrecke verlief? Er wusste nichts über ihre Lebensgewohnheiten«, sagte Pia zweifelnd. »Andererseits, vergessen wir Kruses Lebensgefährtin nicht. Du hast doch mit der Frau gesprochen, Gerlach. Wie hieß sie noch gleich?«, fragte Pia.

»Ellen Landowsky. Ich versuche herauszufinden, wie eng der Kontakt zwischen Conrad Kruse und Lisanne Olsen tatsächlich war. Ich nehme an, diese Frau wird das wissen …« Gerlachs Stimme klang, als wäre ihm unbehaglich bei dem Gedanken.

»Kruse könnte auch einen Helfer in Kirchhagen gehabt haben«, schlug Pia nach kurzem Nachdenken vor. »Jemanden, der ihm wissentlich oder auch unwissentlich alle erforderlichen Informationen gegeben hat. Zwischen ihm und den Leuten in Kirchhagen kann es alle möglichen Verbindungen geben.«

»Alle möglichen, du sagst es. Und das lässt sich nicht auf die Schnelle herausfinden«, bemerkte Broders.

»Ein Bereicherungsdelikt«, sagte Pia nachdenklich. »In Deutschland weisen achtzig Prozent der Tötungsdelikte eine enge Täter-Opfer-Beziehung auf. Onkel und Nichte … Die Tat ist genau geplant worden. Erst die Falle mit dem Draht am Hindernis, dann der gezielte Schlag in den Nacken, höchstwahrscheinlich mit einer eigens dafür mitgeführten Waffe. Es könnte passen …«

»Ja, aber genauso gut könnte es zu Jan Dettendorf passen«, wandte Broders ein.

»Aber er gewinnt nichts durch ihren Tod«, gab Gerlach zu bedenken.

»Nein. Bei ihm wäre es ein persönlich motiviertes Verbrechen. Dieser Dettendorf und Lisanne Olsen hatten eine Beziehung miteinander. Vielleicht war er eifersüchtig, vielleicht haben sie sich über etwas gestritten …«

»Mord aus Eifersucht oder aus Habgier passt aber nicht zu dem, was Heidmüller über das Notebook der Olsen herausgefunden hat«, sagte Gerlach und erläuterte den anderen, was der Kollege ihm am Vormittag berichtet hatte. »Ein Notebook ohne Festplatte! Fallen euch irgendwelche Erklärungen dazu ein, außer der einen, dass jemand die Festplatte entfernt hat, um etwas vor uns zu verbergen?«

»Ein Ablenkungsmanöver?«

»Ziemlich weit hergeholt! Es sieht ganz so aus, als wären Daten auf dem Rechner gewesen, die wir nicht sehen sollten«, sagte Pia. »Außerdem passt die fehlende Festplatte zu Dettendorfs Aussage, dass er Licht in Lisanne Olsens Büro gesehen hat, nachdem sie losgeritten war.«

»Schön für ihn«, kommentierte Broders.

»Wir haben keine Möglichkeiten mehr, festzustellen, was Lisanne Olsen auf ihrem Rechner gespeichert hatte?«, fragte er nach kurzem Nachdenken.

»Nein. Da kann nicht mal mehr Heidmüller etwas machen, es sei denn, wir finden die Festplatte.« Pia rieb sich die Stirn. »Und der Terminkalender hat sich auch noch nicht gefunden, oder?«

Dumpfes Schweigen war die Reaktion. Gerlach gähnte verstohlen, seine Kiefer knackten. Das Spurensicherungsteam hatte bereits alles durchsucht. Kein Terminkalender, keine Festplatte, keine CDs mit Sicherungskopien.

Wie um die anderen aufzumuntern, zog Broders eine Klarsichthülle hervor und legte sie auf den Tisch. »Das hat Schelling mir vorhin gegeben. Sie haben es in Lisanne Olsens Wagen gefunden.«

»Wo genau?«

»Im Fußraum, unter dem Beifahrersitz.«

Die Klarsichthülle enthielt einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel, vergilbt und zerknittert. Die Überschrift des Artikels lautete: Kirchhagener Schützen in Bestform. Darunter befand sich ein Foto, auf dem zwei Frauen und ein Mann gezwungen in die Kamera lächelten. Im Hintergrund waren Menschen in einem Festzelt zu erkennen. Reihum betrachteten sie das Bild in der Plastikhülle und lasen den kurzen Artikel, der vom Kirchhagener Schützenfest berichtete.

»Aber das ist ja …«, sagte Pia verwundert, »die eine Frau sieht wie Frau Burmeister aus, die Bürgermeisterin.«

»Bist du sicher?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Der Artikel ist offensichtlich schon alt. Trotzdem, eine gewisse Ähnlichkeit ist da …«

»Und die anderen beiden? Die Frau mit dem topfartigen Haarschnitt und der Typ in der Mitte mit dem feschen Schnauzer?«, hakte Broders nach.

»Die sagen mir nichts. Ich glaube, ich habe die beiden noch nie gesehen.«

Dettendorf bereute seine Zusage in dem Moment, als er den Dorfkrug betrat. Was hatte ihn nur dazu gebracht, sich hier mit Anke Loss zu verabreden?

Er fühlte sich vollkommen deplatziert. Seine Welt war aus den Angeln gehoben, und die anderen, die Lisanne doch auch gekannt hatten, schienen einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen. Das verletzte ihn.

Nur deshalb hatte er auf Ankes Drängen hin schließlich nachgegeben. Sie hatte ihn am Nachmittag angerufen und um dieses Treffen gebeten. Unbehaglich erinnerte er sich an ihre weinerliche Stimme. »Ich begreife es einfach nicht. Ihr Tod kam so plötzlich. Ich muss mir immer wieder vorstellen, wie sie wohl gestorben ist. Dir muss es doch noch schlimmer gehen, Jan. Bitte: Wir müssen uns treffen, um in Ruhe über alles zu reden!«

Auch er hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Mit einem Menschen, der Lisanne gekannt hatte und dem es nichts ausmachte, wenn er ausschließlich über sie sprach … und ihren Tod.

Nun stand er unschlüssig mitten in der Kneipe und suchte nach Anke Loss. Alle sahen ihn an.

»Moin, Jan.« Heinrich trat hinter der Theke vor und klopfte ihm verlegen auf den Rücken. »Es tut uns allen so leid, der schreckliche Unfall von deinem Mädchen. Schön, dass du da bist. Setz dich doch zu uns.«

Wenn selbst der mürrische Heinrich solche Worte findet, muss es schlimm um mich stehen, dachte Dettendorf. Aber er wollte kein Mitleid. Das deprimierte ihn nur noch mehr. Was sollte er bloß hier? Anke Loss saß an einem der Ecktische und erwartete ihn schon.

»Dank dir, Heinrich«, sagte er mit trockener Kehle und räusperte sich, »aber ich bin nur hier, weil ich was zu besprechen habe. Bringst du mir ein Pils an den Tisch?«

Heinrich nickte eifrig. Er war wohl froh, dass sich der Trauerkloß nicht unter die Meute an der Theke mischen wollte. Fast hätte Dettendorf über die mühsam unterdrückte Erleichterung in dessen Miene geschmunzelt. Aber wie hätten sie ihm das wieder ausgelegt? Er stand unter Beobachtung, und egal, was er sagte oder tat, es würde für Gesprächsstoff sorgen.

Anke Loss lächelte, als er sich zu ihr setzte. Ein mühsames kleines Lächeln, das sofort wieder erlosch. »Ach Jan, ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist. Wenn ich dir jetzt irgendwie helfen kann …«

»Ich komme schon klar«, sagte er ausweichend und fragte sich, wie er die nächste Stunde mit Anstand hinter sich bringen sollte. Er hatte Anke Loss, das wurde ihm in diesem Moment deutlich bewusst, nie sonderlich gemocht. Er beobachtete sie, wie sie dasaß und an ihrem Wein nippte. Ihr Blick wanderte zu den anderen Tischen und zur Tür. Anscheinend war ihr die Situation auch unangenehm. Aber sie hatte doch mit ihm reden wollen.

»Stört es dich?«, fragte sie nach ein paar Minuten, in denen sie beide verlegen geschwiegen hatten, und zog eine Packung Zigaretten hervor.

»Kommt hier wohl kaum darauf an.« Er deutete mit einer vagen Kopfbewegung auf die Rauchschwaden, die wie grauweißer Morgennebel über ihren Köpfen hingen. Heinrich scherte sich nicht um Rauchverbote. Wer frische Luft atmen wollte, der ging nicht zu Heinrich. Basta.

Sie zündete sich die Zigarette an. Ihre Fingernägel waren spitz zugefeilt, hellrosa, mit Strasssteinchen verziert. Ihr Gesicht war ungeschminkt, ihre Augen waren gerötet. Sie hatte geweint – um Lisanne. Sofort bereute er seine Ablehnung.

»Die Polizei war schon bei mir«, sagte sie, »so ein geschniegelter Typ. Wollte wissen, wann ich Lisanne zuletzt gesehen habe. Er tat ganz furchtbar cool, wie so ein Cop aus ’ner Fernsehserie …«

»Ich bin schon mehrmals befragt worden«, sagte Dettendorf. Eigentlich hatte er keine große Lust, darüber zu reden, aber zumindest schien das Thema ungefährlich zu sein. »Erst waren sie zu zweit, eine Frau und ein Mann. Die Frau war dann noch zwei Mal da.«

»Und wie war die so?«

»Eigentlich ganz in Ordnung. Gibst du mir eine ab?«, fragte Dettendorf, auf die Zigarettenschachtel auf dem Tisch deutend. Er hatte seit Jahren nicht mehr geraucht, nicht einmal mehr daran gedacht. Doch mit einem Mal glaubte er, er würde verrückt werden, wenn er nicht sofort eine Zigarette rauchte.

»Oh, ich wusste nicht, dass du rauchst … dann hätte ich natürlich … bitte sehr.«

»Tue ich auch eigentlich nicht.«

Sie nickte ernsthaft.

Er ließ sich von ihr Feuer geben. Seit wann hatte er nicht mehr geraucht? Zehn Jahre, fünfzehn? Es schmeckte scheußlich. Anke bevorzugte Mentholzigaretten. Aber es tat trotzdem gut. Ein scharfer Schnaps dazu wäre genau das Richtige. Doch wenn er damit anfing, würde er vollkommen abstürzen. Heinrich stellte ihm sein Bier auf den Tisch.

»Die Frau, diese Kommissarin, war wirklich ganz in Ordnung. Aber sie scheinen zu glauben, dass … dass es vielleicht kein Unfall war.«

»Was? Lisanne soll … ermordet worden sein?«, fragte Anke Loss mit weit aufgerissenen Augen. Ihre Überraschung wirkte ein wenig übertrieben.

»Vielleicht ging es ja um ihr Vermögen«, sagte er nachdenklich. »Lisanne hat mir mal erzählt, dass sie von ihrer Mutter ein großes Aktienpaket und Immobilien geerbt hat.«

»Und wer kriegt das jetzt? Lisanne hatte doch einen Onkel, könnte der …?«

Dettendorf zuckte mit den Schultern. Sie hatten so gut wie nie über das Geld im Hintergrund gesprochen, mit dem Lisanne ihr Pferd und ihren Lebensstil finanziert hatte. Von dem Geld, das sie verdient hatte, hätte sie nicht so leben können. »Schmerzensgeld« hatte sie das Vermögen genannt, weil sie mit ihrer Mutter nicht gut ausgekommen war. Soweit er wusste, hatte Lisanne kein Testament aufgesetzt. Wozu auch, sie war topfit gewesen und gerade mal neunundzwanzig Jahre alt!

»Und was ist mit ihrem Job? Sie hat doch für eine Zeitung gearbeitet. Vielleicht war sie einer großen Sache auf der Spur … Wirtschaftskriminalität oder so …«

»Das war doch gar nicht ihr Themenschwerpunkt. Lisanne hat mehr über Lokales geschrieben. Nette, harmlose Artikel …« Er musste daran denken, was sie am Morgen vor ihrem Tod gesagt hatte. Es war um einen noch nicht erschienenen Artikel gegangen, aber er kam nicht mehr darauf, was es gewesen war. Er seufzte.

Anke Loss ließ sich weiter über mögliche Motive aus und schien gar nicht zu bemerken, dass er ihr nicht mehr zuhörte. Er steckte die Nase in sein Bierglas und ließ das Gerede über sich ergehen wie einen Regenguss. Schließlich versiegte ihr Redestrom, sie warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Musst du los?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Äh, ja, gleich. Wenn ich wirklich nichts für dich tun kann, Jan?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

»Kann ich zahlen, Heinrich? Es macht dir noch nichts aus, Jan?«

Er fand ihr Verhalten sonderbar. Sie hatte ihn gebeten, herzukommen. Was hatte sie damit bezweckt? War sie vielleicht neugierig gewesen? Er zog seine Geldbörse hervor. Eigentlich hatte er keine Lust, sie zu dem Glas Wein, das sie getrunken hatte, einzuladen. Aber er war konservativ erzogen worden. Wenn auch alles kaputtging, die guten Manieren hielten einen aufrecht. Also lud er sie ein. Es war sowieso Zeit, nach Hause zu gehen, wenn er morgen allein die Pferde versorgen musste. Vielleicht kam heute Nacht ja noch das Fohlen. Lisanne würde dann nicht dabei sein, um die Geburt mitzuerleben. Sie hatten sich beide auf dieses Fohlen gefreut … Und morgen war Sonntag. Der erste Sonntag ohne sie … Am Wochenende hatten Lisanne und er immer gemeinsam den Stall gemacht und dann zusammen bei ihr im Haus gefrühstückt. Wunderbare Vormittage waren das gewesen, entspannt und gemütlich, mit Bergen von frischen Brötchen, gekochten Eiern und Milchkaffee. Warum hatte er das nie richtig zu würdigen gewusst, als er es noch gehabt hatte?

Beim Abschied drückte Anke Loss seine Hand etwas zu lange. Sie flüsterte »Ciao, Jan« und marschierte aus der Kneipe.

Er blieb wie betäubt sitzen, fühlte die Blicke der anderen Gäste auf sich ruhen, als litte er unter einer unheilbaren Krankheit. Freund der Ermordeten. Wie lange würden sie ihm diesen Stempel aufdrücken? So lange, bis etwas Neues, Skandalträchtiges in Kirchhagen geschah? Und er wusste schon jetzt, egal, wie lange dieses Ereignis auch auf sich warten ließ: Er würde immer noch trauern, wenn die Leute hier längst über neue Schicksalsschläge redeten. »Das Leben geht weiter«, würden sie später zu ihm sagen, »die Welt ist voller Frauen, die nur darauf warten, dich kennenzulernen. Du musst nur mal wieder unter Menschen gehen …«

Als er aufstand, nahm er sich vor, nicht wieder herzukommen, solange er in dieser Stimmung war – vielleicht nie wieder.