12. Kapitel

Gerlach hatte Glück. Als er seinen Wagen in eine Parklücke vor Kruses Wohnblock quetschte, sah er gerade noch, wie Conrad Kruse aus der Haustür trat und mit eingezogenem Kopf die Straße hinuntereilte. Gerlach wollte unbedingt mit Ellen Landowsky sprechen, und wenn Kruse nicht dabei war, umso besser.

Es war ein nasskalter Vormittag. Die Tatsache, dass heute Sonntag war, ließ die Umgebung noch trostloser aussehen. Eine alte Frau stand reglos neben ihrem, wie es aussah, noch älteren Hund, der den verschmutzten Fußweg um einen weiteren Kothaufen bereicherte. Nachdem Kruses geduckte Gestalt nicht mehr zu sehen war, schälte sich Gerlach aus dem Auto und ging zur Haustür.

Ellen Landowsky öffnete ihm die Tür. Sie trug immer noch, oder schon wieder, ihren Bademantel. An den Füßen hatte sie breite Fellpantoffeln in der Form von Löwentatzen, in denen sie ihm voraus in das Wohnzimmer schlurfte. Es sah noch genauso aus wie bei seinem letzten Besuch, sogar der Fernseher lief. Auf einem Teleshopping-Kanal wurden gerade die Vorzüge eines neuen Reinigungsschwamms angepriesen. Ellen Landowsky stellte mit der Fernbedienung den Ton ab.

Gerlach kam ohne Umschweife auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. Er wollte die Befragung von Ellen Landowsky beendet haben, bevor Conrad Kruse zurückkam.

»Ist Herr Kruse gar nicht da?« Vielleicht erfuhr er von ihr, wohin Kruse gegangen war.

»Nee.«

»Kommt er bald zurück?« Noch ein Versuch.

»Weiß nicht. Hat er mir nicht gesagt.« Ellen Landowksy ließ sich auf die Couch fallen. Eine Zigarette hing in ihrem Mundwinkel, der Qualm zog über ihr Gesicht. Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

Gerlach setzte sich widerwillig in einen Sessel ihr gegenüber. »Kannten Sie eigentlich Fabienne Olsen, Conrad Kruses Nichte?«

»Nein. Woher denn? Er hat mir mal erzählt, dass er zwei Nichten hat, die Töchter seiner Schwester Rita. Er sagte immer, die eine is’n arrogantes Miststück und arbeitet für die Zeitung, die andere is’n Junkie. Ich wollt’ nichts mit solchem Gesocks zu tun haben. Hab’ die beiden nie nicht gesehen.«

»Hatte Ihr Lebensgefährte Kontakt zu seinen Nichten? Haben Sie telefoniert, sich mal besucht oder vielleicht geschrieben?«

»Nix, da war gar nix! Man hätte meinen können, der Connie ist ganz allein auf der Welt. Die wollten nichts von ihm wissen, seit er seinen Job verloren hat. Der einen war er wohl peinlich, die andere wusste, dass es bei ihm nichts zu holen gab.«

»Reizende Verwandtschaft«, sagte Gerlach. Er überlegte, wie er die abwehrende Haltung von Ellen Landowsky aufbrechen konnte, die mit verschränkten Armen und verschlossener Miene vor ihm saß. Wie sollte er ihr das Gefühl geben, er stünde auf ihrer Seite, auch wenn ihm diese Umgebung eine Gänsehaut über die Oberarme jagte? Er hatte lange gebraucht, etwas aus sich zu machen und seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es fiel ihm schwer, so zu tun, als fühle er sich wohl hier, und sei es auch nur für die Dauer eines Gesprächs.

»Im Grunde ist Connie ’n armes Schwein«, sagte die Landowsky unaufgefordert und schlug mit lauerndem Blick die Beine übereinander. Sie trug schwarze Perlonstrümpfe unter ihrem wattierten Bademantel, mit vielen schwarzen Querstrichen, wie raue Hände sie verursachen, wenn sie darüberstreichen. Strümpfe, die seine Meike schon längst aussortiert und in den Müll geworfen hätte.

»Er liebte seine Nichten, als wär’s sein eigen Fleisch und Blut, hat er mal gesagt. Als die Mädchen klein waren, hat er sie gewickelt und gefüttert, während die Mutter, diese Rita, shoppen gegangen ist. Aber hat es ihm eine von denen je gedankt? Nee! Bin ich froh, dass mir das erspart geblieben ist, Kinder und so.«

»Hat er mal erwähnt, dass seine Nichte Fabienne gestorben ist?«, fragte Gerlach.

»Die Fabienne? Tot? Er hat mir nie kein Wort davon gesagt.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf und quetschte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. Die doppelte Verneinung schien ihr immer bei großer Erregung herauszurutschen. Ein Lügendetektor für den Hausgebrauch, dachte Gerlach.

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie in Frankreich gestorben ist. Die französischen Behörden haben sich an das Auswärtige Amt gewandt wegen einer unbekannten Toten, wahrscheinlich einer Deutschen. Das BKA hat ein Foto von ihr veröffentlicht.«

»Davon weiß ich nichts«, behauptete sie. »Wollen Sie was trinken? Kaffee, Kognak? Ich brauch’ jetzt was.« Sie beugte sich erwartungsvoll zu ihm vor, und der Ausschnitt ihres Bademantels klaffte auf. Gerlach zwang sich, ihrem Blick standzuhalten. Er musste sich räuspern, was ihr ein geringschätziges Lächeln entlockte. »Einen Kaffee würde ich mittrinken.«

»Aber immer, Schätzchen.« Sie bediente sich des gleichen Vokabulars wie Broders, nur dass es ihm bei der Landowsky ein Schaudern verursachte. Die künstlichen Löwentatzen schlurften über den Teppichboden, als sie in die Küche ging.

Gerlach musterte die leeren Pizzaschachteln eines Bringdienstes und die Bierdosen auf dem Couchtisch. Es roch säuerlich und staubig; vertraut und zugleich unendlich weit entfernt. Er sehnte sich nach seiner gepflegten und aufgeräumten Altbauwohnung. Hatten ihn seine ganzen Überstunden, die endlosen Lehrgänge und die Plackerei doch nur wieder hierher geführt? Würde er nie lernen zu unterscheiden zwischen den Zwängen seines Jobs, den Ermittlungen, die ihn in jedes Milieu führen konnten, und seinem jetzigen Leben, das er sich mühsam aufgebaut hatte und das mit der Armut und dem Elend der früheren Jahre nichts mehr zu tun hatte?

Er versuchte sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Die Landowsky wusste etwas, doch sie war noch unentschlossen, wie viel sie ihm erzählen wollte. Solange sie schwieg, hatte sie Macht über ihn. Eine bescheidene Macht, aber doch mehr, als sie sich sonst je erhoffen konnte. Er musste ihr entgegenkommen, ob er wollte oder nicht.

Ellen Landowsky betrat mit zwei Bechern Kaffee den Raum und stellte sie auf einem Stapel Illustrierter auf dem Couchtisch ab. Dann zog sie eine Flasche Kognak aus einem dunklen Winkel neben dem Sofa hervor und goss sich einen kräftigen Schuss in den Kaffee.

»Auch einen? Ich verrat’ es auch keinem.« Die halb leere Flasche schwebte über Gerlachs Becher.

»Einen kleinen, ich muss noch fahren.«

»Einer schadet nicht.« Der Becher schwappte fast über.

»Danke. Hoffentlich kommt Herr Kruse jetzt nicht nach Hause. Was wird der denken, wenn er uns hier so sieht?«

»Ach, der trifft sich mit seinen Kumpels. Mir ist’s recht, ich hab’ sturmfreie Bude bis kurz vor Mitternacht.« Sie sah plötzlich traurig aus.

»Wo trifft er sich?«

»Na, ums Eck in der Kneipe. Wo treffen sich die Kerle schon, wenn sie Langeweile haben?«

»War er auch am letzten Montagabend dort?«

»Bestimmt. Wo sollte er sonst gewesen sein? Fragen Sie doch seine Kumpels, wenn Sie es genau wissen müssen.«

Gerlach probierte das Kaffee-Kognak-Gemisch und hätte sich beinahe verschluckt. Das Zeug brannte in der Kehle wie scharfer Reiniger. Er grinste tapfer und sagte: »Tut gut, Ihr Kaffee. In der dunklen Jahreszeit wird einem immer ganz trübsinnig zumute.«

»Das kenne ich. Und Sie müssen auch noch arbeiten am Wochenende, Sie Armer! Aber ich will Ihnen was sagen. Weil Sie ’n Guter sind. Ich weiß Bescheid über die Menschen, glauben Sie mir. Ich seh’ fast jedem an, was er für einer ist. Gibt viele schlechte Menschen, viel zu viele. Wenn man allein daran denkt, wer das der jungen Frau angetan hat … Auch wenn sie arrogant war, das war ein Unrecht.«

»Ja. Ein Mord ist furchtbar.« Gerlach hatte das Gefühl, einen glühenden Lavastein verschluckt zu haben.

»So ganz unter uns zwei Hübschen: Wenn ich mich recht erinnere, hat der Connie mal angedeutet, dass der Fabienne was zugestoßen sein könnte. Er war neulich total fertig, als er einen alten Kumpel getroffen hatte. Irgendwas hat der dem Conny erzählt. Er wusste wohl schon immer, dass das nicht gut enden kann mit der Fabienne, aber so schnell? Und er hat sich auch nicht bei der Polizei gemeldet oder so. Ich glaube, er wollte keinen Ärger, und Geld für ’ne Beerdigung hätte er auch nie nicht gehabt, da hatte er Schiss, sich zu melden.«

»Aber er hat Ihnen gegenüber die Vermutung geäußert, dass seine Nichte Fabienne in Frankreich verstorben ist.«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern und guckte schuldbewusst.

»Wissen Sie, wer dieser Kumpel war?«

»Nix. Nie gesehen, weiß auch nicht, wie der heißt.«

»Hat Herr Kruse Lisanne Olsen darüber informiert, dass ihrer Schwester etwas passiert sein könnte?«

»Weiß ich doch nicht. Der spricht nicht viel, der Connie. Aber wieso hätte er ihr Bescheid sagen sollen? Die andere, diese Lisanne, die hätte es sowieso nicht interessiert.« Sie leerte ihren Becher in einem Zug.

»Ihre Aussage ist sehr wichtig für uns, Frau Landowsky. Ich würde das gern schriftlich festhalten. Haben Sie ein Auto, damit Sie zu uns ins Kommissariat nach Lübeck kommen können?«

»Und wovon träumst du nachts, Schätzchen?«

»Ach so. Also gut. Ich schlage vor, dass ich Ihnen morgen einen Wagen schicke, der Sie abholt. Dann können wir Ihre Aussage in Ruhe zu Papier bringen.«

Gerlach sah ihrer Miene an, dass sie mit sich kämpfte. Sie hatte eindeutig Angst, zu viel gesagt zu haben. Andererseits war da das Gefühl, plötzlich wichtig zu sein. Schließlich willigte sie ein. »Aber erst, wenn der Connie nachmittags losgezogen ist, das müssen Sie mir versprechen«, sagte sie bestimmt.

Die Befriedigung darüber, dass er sein Ziel erreicht hatte, stellte sich bei Gerlach nicht ein. Er versicherte ihr, dass er sich so weit wie möglich nach ihren Wünschen richten würde. Er wurde wieder offiziell, wollte so schnell wie möglich aus dieser Höhle hinaus.

»Sie müssen schon gehen?« Die Landowsky hockte auf ihrem Sofa wie eine überzählige Tanzschülerin.

»Ja. Vielen Dank auch für den Kaffee.«

Sie versuchte es mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. Gerlach reagierte nicht.

»Ich hätte es mir denken können. Jetzt, wo Sie haben, worauf Sie scharf sind, verpissen Sie sich …«, hörte er sie murmeln, als er den Raum verließ.