17. Kapitel

Um einen klaren Kopf zu bekommen, und auch, um ihre Kleidung und ihre Haare von den Küchenausdünstungen zu befreien, ging Pia zu ihrem nächsten Termin in Kirchhagen zu Fuß. Erst ein Stück an der Hauptstraße entlang, dann überquerte sie die Fahrbahn und schlug den Weg hinter der Kirche ein. Sie wollte sehen, wo genau man Jan Dettendorf am Samstagabend aufgelauert hatte.

Um diese Uhrzeit waren nur wenige Fußgänger unterwegs, das Dorf schien menschenleer zu sein. Der Nieselregen hatte aufgehört, aber der Himmel war immer noch graugelb, wie schmutziges Tuschwasser. Die alte Feldsteinkirche schirmte die Pfarrstraße vom Lärm der Hauptstraße ab, und der Kirchhof mit seinen alten Grabsteinen und schmiedeisernen Kreuzen lag still und verlassen unter fast entlaubten Bäumen. Man sah der Kirche an, dass sie im Lauf der Jahrhunderte immer wieder umgebaut worden war, Feldsteine wechselten sich mit Fachwerk und Backsteinen ab.

Die Kirchturmuhr schlug scheppernd zwei Mal. Ein Schwarm Krähen flatterte von einer Baumkrone zur nächsten. Pia beschleunigte ihre Schritte. Da vorn an der Ecke musste es passiert sein. Vier Angreifer, die Jan Dettendorf am Ende der Straße aufgelauert hatten. Warum hier? Hier wohnten Menschen, deren große Grundstücke immerhin direkt an diese Straße grenzten. Warum hatten sie nicht ein paar Hundert Meter weiter auf Dettendorfs Grundstück zugeschlagen? Dort gab es nachts genügend finstere Ecken. Aber es gab auch den Hund. Vielleicht war das der Grund, weswegen die Angreifer es vorgezogen hatten, Dettendorf genau hier aufzulauern, fünf Gehminuten von seinem Anwesen entfernt. Und das hatte ihm vielleicht das Leben gerettet.

Pia ging weiter. Als sie an Dettendorfs Hof vorbeikam, warf sie einen flüchtigen Blick durch die geöffnete Stalltür, aber bis auf zwei Pferde, die ihren Kopf auf die Stallgasse hinausstreckten, war niemand zu sehen. Sollte sie genauer nachsehen? Nein, später vielleicht. Sie musste als Erstes zu Marion und Simon Burmeister. Ihr gingen Meta Stoppes Worte nicht aus dem Kopf: Der Simon Burmeister hat auch studiert, weil er was Besseres werden wollte. Aber dann hat er die Marion geschwängert, und aus war es damit. Das nenn’ ich geschlampt. Mal sehen, wie die Burmeisters die Episode darstellten.

»Ich möchte, dass Sie sich zwei Dinge ansehen. Zum einen ein altes Foto, auf dem Sie abgebildet sind, zum anderen ein Videoband, das am letzten Samstag von einer Überwachungskamera aufgenommen wurde, als Sie Lisanne Olsen zusammen mit dem Mann in dem Café gesehen haben«, sagte Pia, nachdem sie Marion Burmeister begrüßt hatte. »Für Letzteres müssen Sie allerdings zu uns ins Kommissariat nach Lübeck kommen. Geht das?«

»Oh ja, natürlich.« Die Burmeister fuhr sich mit der Hand durch das gut frisierte Haar. »Ich weiß aber nicht, ob ich den Mann aus dem Café wiedererkenne. So genau konnte ich natürlich nicht hinschauen.«

Aber genau genug für eine Anschuldigung, dachte Pia. »Wir werden ja sehen. Ich konnte niemanden erkennen, auf den Ihre Beschreibung passte, und im Café konnte sich auch niemand an die beiden erinnern.«

»Na ja, es war auch sehr voll am Samstagvormittag«, sagte Marion Burmeister. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Frau Korittki?«

»Nein, danke. Ich werde nicht lange bleiben. Hier, schauen Sie mal: Können Sie mir sagen, wer die Personen auf diesem Foto sind?« Pia zog das kopierte Foto aus der Tasche und gab es Marion Burmeister.

»Oh, das bin tatsächlich ich, mit Henriette Mühlberg zusammen. Wo haben Sie das denn her?«

»Es gehört zu einem Zeitungsartikel. Wer ist der Mann neben Ihnen?«, fragte Pia hoffnungsvoll.

»Das weiß ich nicht. Das ist ja schon schrecklich lange her. Diese unmodernen Frisuren damals … lächerlich.«

»Denken Sie nach. Woher kannten Sie den Mann?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Marion Burmeister fast enttäuscht.

»Nun gut, Sie haben mir letztes Mal gesagt, dass Frau Stoppe bei Ihnen putzt, nicht wahr?«, fragte Pia weiter.

»Ja. Wie bei so vielen. Ungemein tüchtig, die Gute.«

»Ich habe gerade mit ihr gesprochen. Sie behauptet, damals, bei der Beerdigung ihres Vaters, habe es Schwierigkeiten oder Unstimmigkeiten gegeben. Haben Ihre Eltern die Beerdigung von Erich Stoppe organisiert?«

»Schwierigkeiten?« Marion Burmeister griff irritiert an ihre Halskette. »Davon hat uns Meta Stoppe nie etwas gesagt. Und jetzt, nach einem Vierteljahrhundert? Das ist doch lächerlich! Was denn für Schwierigkeiten?«

Pia zuckte nur mit den Achseln und wartete. Sie wollte, dass Frau Burmeister weiterredete, solange sie noch so nervös war.

»Ich kann mir das einfach nicht vorstellen, nein. Alles lief doch völlig normal, soweit ich mich nach so langer Zeit überhaupt noch erinnern kann. Damals waren meine Eltern noch im Geschäft, das stimmt. Aber die sind beide längst tot. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ihnen kein Fehler unterlaufen ist … Die Stoppe muss sich in irgendetwas hineingesteigert haben.«

»Der Totengräber hat neulich, als er an dem Platz, wo Erich Stoppes Grabstelle war, ein neues Grab ausgehoben hat, eine Anstecknadel gefunden und sie Frau Stoppe gegeben. Er hat angenommen, dass sie ihrem Vater gehört hat. Aber Erich Stoppe hat nie so eine Nadel besessen.«

»Dann muss sie jemand dort verloren haben. Seit wann kümmert sich die Polizei um solche Belanglosigkeiten? Ich dachte, Sie suchen den Mörder von Lisanne Olsen.«

»Genau das tun wir. Sie wissen also nichts über die Nadel?«

»Nein. Und mein Mann sicherlich auch nicht, denn wenn das Gräberfeld vor Kurzem eingeebnet wurde, dann ist das alles über dreißig Jahre her. Da war Simon noch in Berlin …«

»Tatsächlich? Ich dachte, er stammt von hier. Was hat er denn in Berlin gemacht?«

»Er hat Medizin studiert. Er wollte damals unbedingt Arzt werden, so ein richtiger Landarzt mit eigener Praxis.«

»Und wieso ist er dann zu diesem Bestattungsinstitut gekommen?«

»Wir haben geheiratet, und mein Vater hat ihm eine gut gehende Tischlerei mit Bestattungsinstitut in Aussicht gestellt. Damals lief auch die Tischlerei noch ganz passabel. Es war eine sichere Existenz. Ich glaube, Simon war froh, diese Möglichkeit ergreifen zu können. Das Medizinstudium war wohl letzten Endes doch nicht das Richtige für ihn.«

»Wissen Sie etwas von Grablichtern auf Erich Stoppes Grab?«

»Nein. Sollte ich? Das ist eine hier in der Gegend eher unübliche Praxis, Frau Korittki.«

»Haben Ihnen Angehörige vielleicht mal von Grablichtern erzählt, deren Herkunft sie sich nicht erklären konnten?

»Nein, bestimmt nicht. Außerdem hätte ich doch …« Marion Burmeister stockte.

»Ja, was denn?«

»Wir wohnen hier nahe am Friedhof. Wenn man im Winter, wenn kein Laub mehr an den Bäumen ist, aus dem obersten Stock unseres Hauses schaut, kann man den Friedhof fast komplett überblicken. Mir wäre bestimmt aufgefallen, wenn plötzlich Grablichter auf die Gräber gestellt worden wären, nicht wahr?«

Pia sagte nichts.

Marion Burmeister rieb sich die Arme. »Ich finde, es ist richtig ungemütlich heute. Ist Ihnen auch so kalt? Möchten Sie einen Tee oder einen trockenen Sherry?«

Bevor Pia höflich ablehnen konnte, wurde die Tür geöffnet, und Simon Burmeister kam, den Kopf vorsichtig vorgestreckt, ins Zimmer.

»Ach, Schatz, da bist du ja. Gibt es ein Problem?«, fragte die Burmeister mit sanfter Stimme.

Ihr Mann schaute unsicher zu der Kommissarin hinüber, riss sich dann aber zusammen und gab ihr unbeholfen die Hand. »Frau … äh … Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Eigentlich bin ich auch Ihretwegen hier. Haben Sie Zeit für ein kurzes Gespräch mit mir?«

»Ich weiß nicht … Aber gut. Wenn es wichtig ist …« Dann wandte er sich an seine Frau. »Der Jan ist gerade hier und möchte mit uns über die Beerdigung sprechen. Der Onkel von Lisanne hat alles ihm überlassen. Weißt du, wo unser Terminkalender ist?«

»Hinten im Büro, auf dem Schreibtisch, wo er immer liegt. Aber wenn der Jan schon da ist, möchte ich gern selbst mit ihm sprechen.«

»Wir machen erst mal nur einen Termin für das Gespräch. Passt es dir am Donnerstag? Morgen sind wir nicht mehr frei, und am Mittwoch ist der Jan geschäftlich unterwegs.«

»Lass ihn nicht so lange warten, Simon. Morgen geht’s bestimmt noch. Der Jan muss sich doch nicht an unsere Geschäftszeiten halten, nicht wahr? Er gehört doch fast zur Familie.«

Sie legte den Kopf schief und lächelte. Pia hatte das Gefühl, dass ihre Worte mehr ihr galten, auch wenn sie sie an ihren Mann gerichtet hatte.

»Morgen dann, ist gut. Ich werde es eintragen.« Er schlurfte nach hinten zum Schreibtisch und kam, den Kalender in der Hand, zurück.

»Grüß den Jan ganz herzlich«, rief Marion Burmeister ihm nach. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, seufzte sie leise.

»Eine schreckliche Geschichte, das Ganze«, sagte sie. »Der arme Jan. Es kommt selten vor, dass mir ein Todesfall so nahegeht wie der von Lisanne Olsen.«

Pia stand auf. »Sie kommen dann also nach Lübeck ins Polizeihochhaus und lassen sich das Video aus der Überwachungskamera zeigen? Wir müssen wissen, mit wem sich Lisanne Olsen am Samstag vor ihrem Tod getroffen hat. Falls ich gerade nicht da sein sollte, wenn Sie in Lübeck sind, können Sie sich getrost an einen meiner Kollegen vom K1 wenden. Die wissen Bescheid.«

»Ich werde versuchen, den Termin irgendwo dazwischenzuschieben. Eventuell muss Simon mal ein Gespräch allein führen – obwohl die Leute lieber mich dabeihaben«, setzte sie entschuldigend hinzu.

Das war verständlich. Der unbeholfene und fast gebrechlich wirkende Simon Burmeister schien nicht gerade der optimale Gesprächspartner für trauernde Hinterbliebene zu sein.

»So, dann möchte ich jetzt noch mit Ihrem Mann sprechen«, sagte Pia.

»Müssen Sie … Ich meine, ist das notwendig?«, fragte Marion Burmeister, während sie mechanisch Pias ausgestreckte Hand ergriff. Ihre Finger waren kalt. Ihr krampfhaftes, wahrscheinlich schon gewohnheitsmäßiges Bemühen, ihren Mann vor allen Widrigkeiten des Alltags schützen zu wollen, war deutlich in ihrem Gesicht abzulesen.

»Ja, das ist es. Wo kann ich ihn finden?«

»Den Flur entlang, die zweite Tür rechts, durch unsere Sargausstellung hindurch, dahinter liegt die Tischlerei. Wir machen zwar nicht mehr viele Tischlerarbeiten, aber mein Mann werkelt trotzdem die meiste Zeit dort herum. Es ist sein Ausgleich, verstehen Sie …«

Pia nickte. »Ich finde mich schon zurecht. Danke, Frau Burmeister.«

Simon Burmeister hatte sie nicht eintreten gehört. Er stand an einer großen Maschine mit Absaugevorrichtung, den Blick konzentriert auf ein Werkstück gerichtet, und er hatte einen Gehörschutz auf den Ohren. Der Krach war durchdringend, selbst wenn man ein paar Meter weit weg stand. Als er den Motor abstellte und das Werkstück durch die Schutzbrille hindurch einer eingehenden Betrachtung unterzog, trat Pia näher und sprach ihn an.

Er zuckte zusammen, dann schob er die Brille hoch vor die Stirn und legte den Gehörschutz ab.

»Oh, Sie sind es. Die Polizei. Ich hatte Sie gar nicht gehört, die Maschine ist so laut. Stehen Sie schon lange hier?«

»Nein, ich bin gerade erst hereingekommen. Ihre Frau hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann.«

»Ja. Ich bin viel in der Werkstatt … Ich weiß, das gefällt Marion nicht. Nun ja … Ich sollte mich mehr ums Geschäft kümmern. Aber die Toten können doch auch mal ein halbes Stündchen warten, oder nicht? Sie laufen einem ja nicht mehr weg … Das Tischlern ist nur mein Hobby: Sehen Sie, meine neue Drechselbank. Ich übe noch, aber langsam habe ich den Dreh raus. Möchten Sie einen von diesen Holzkreiseln haben? Vielleicht haben Sie Kinder. Probieren Sie mal.« Er griff nach einem der zierlichen Kreisel und setzte ihn auf der Werkbank in Schwung. »Ich schenke Ihnen gerne einen, oder auch zwei, wenn Sie wollen. Wir haben keine Kinder oder Enkel, denen wir damit eine Freude machen könnten.«

»Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über den Mord an Lisanne Olsen sprechen möchte«, sagte Pia.

Simon Burmeister sah sie enttäuscht an. »Ach so. Ja, ich verstehe. Das geht natürlich vor. Was wollen Sie denn wissen?« Er stand vor ihr wie ein Schuljunge, der zum Rektor gerufen wurde, die Hände ineinander verschränkt und den Kopf leicht gesenkt.

»Können wir uns hier irgendwo hinsetzen?«, fragte Pia, die plötzlich das Gefühl hatte, die Befragung könnte länger dauern. Sie wollte allerdings nicht in das Büro zurückkehren, sondern auf jeden Fall mit Herrn Burmeister allein sprechen. Hier in seinem Reich wirkte er weniger verschlossen als vorhin.

»Äh, da Sie vielleicht nicht gerade auf einem der Särge nebenan Platz nehmen wollen, warten Sie …« Er zog eine Kiste unter der Werkbank hervor und befreite sie mit der bloßen Hand von einer dicken Schicht Holzstaub. Dann nahm er sich einen Schemel und setzte sich Pia gegenüber. Sie griff nach ihrem Notizbuch.

»Ich stamme aus einem Nachbarort von Kirchhagen und kenne meine Frau seit der Schulzeit«, begann Simon Burmeister zu erzählen. »Nach der Schule habe ich ein paar Semester Medizin studiert, bis ich für mich festgestellt habe, dass ich wohl nicht zum Mediziner tauge. Die Verantwortung für die Gesundheit und das Leben der Patienten hätte mich auf Dauer zu sehr belastet. Marion und ich haben geheiratet, als Marion schwanger wurde, und ihr Vater hat uns dann das Bestattungsinstitut mit der Tischlerei überlassen, die damals noch florierte. Marion hatte alte Eltern, die gern in Ruhestand gehen wollten. Kurz darauf sind sie gestorben.«

»Wollten Sie gern als Bestatter arbeiten?«

»Nun ja, es war eine Chance. Und eigentlich hat das Handwerkliche für mich im Vordergrund gestanden. Ich habe schon immer gern mit Holz gearbeitet. Aber das Geschäft mit dem Tod ist dann mehr und mehr in den Vordergrund gerückt. Marions Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt im fünften Monat, und danach hat es zu unserem großen Kummer nicht mehr geklappt mit Nachwuchs. Dafür wurde Jan Dettendorf, der Nachbarssohn, fast so etwas wie ein Ersatzkind für uns. Inzwischen pflegen wir regen nachbarschaftlichen Kontakt. Darum geht uns der Tod von Jan Dettendorfs Freundin auch so nahe.«

»Wann haben Sie Lisanne Olsen zuletzt gesehen?«

»Am Montagnachmittag, als sie vorbeikam, um mit Marion einen Kaffee zu trinken. Sie hatten etwas wegen der bevorstehenden Einwohnerversammlung zu besprechen. Mal wieder das leidige Umgehungsstraßenthema, vermute ich.«

»Sie waren nicht dabei? Wo haben Sie Lisanne Olsen gesehen?«

»Ich habe ihr die Tür geöffnet, als sie kam.«

»Waren Sie mit auf der Einwohnerversammlung?«

»Nein. Dieser Streit um die Straße ist mir zuwider, ich will in Ruhe gelassen werden.«

Pia nickte. Ein seltsames Paar, diese Burmeisters. Er in sich gekehrt, wahrscheinlich auch depressiv, sie extrovertiert und erfolgreich. Wie ging das auf Dauer gut?, fragte sie sich. Aber was wusste sie denn schon von Partnerschaft, wo sie doch kaum im Stande war, eine Beziehung über das erste halbe Jahr zu bringen. Sie zog die Kopie des Fotos vom Schützenfest heraus und hielt sie Simon Burmeister hin. »Kennen Sie die Personen auf dem Bild?«

Er kniff die Augen zusammen, holte dann eine Halbbrille aus der Brusttasche seines grauen Arbeitskittels und setzte sie auf die Nase. »Woher haben Sie das? Das sind Marion, Henriette Mühlberg und ein Mann, den ich nicht kenne. Lange her, wie es aussieht. Fast schon nicht mehr wahr.«

»Wissen Sie, zu welcher Gelegenheit es aufgenommen wurde?«

»Nein. Sieht im Hintergrund nach einer Feier aus, nicht wahr? Ich kann mich nicht erinnern, dabei gewesen zu sein. Aber was hat dieses Bild mit dem Mord an Lisanne Olsen zu tun?«

»Wir haben es unter ihren Sachen gefunden«, antwortete Pia ausweichend.

»Sie hat für eine Zeitung gearbeitet.«

»Ihre Frau sagte mir, der Mann auf dem Foto sei ein Freund von Henriette Mühlberg gewesen. Aber seinen Namen wüsste sie auch nicht mehr.«

»Dann war er das wohl. Marion hat ein gutes Gedächtnis. Was sagt denn Henriette dazu?«

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ Pia aufmerken.

»Frau Mühlberg vermutet, dass der Mann ein Verehrer Ihrer Frau war.«

Simon Burmeister schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, so gern ich auch möchte. Ich habe den Mann noch nie gesehen.«

»Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein zu dem Bild. Möchten Sie die Kopie behalten?«, fragte Pia.

Simon Burmeister gab ihr das Foto zurück. »Es bringt nichts, ich bin mir sicher.«

»Also gut. Dann nehmen Sie zumindest meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte. Wie gut kennen Sie eigentlich Frau Mühlberg?«

»Henriette? Schon Ewigkeiten.« Er zögerte kurz, setzte dann hinzu: »Aber sie lebt sehr zurückgezogen in dem alten Haus da draußen, lässt niemanden an sich heran. Marion besucht sie ab und zu, aber mehr aus Pflichtgefühl, verstehen Sie? Sie kümmert sich gern um Menschen, sie hat ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Nicht so wie die meisten von uns, ich schließe mich da gar nicht aus. Meine Frau ist ein bewunderungswürdiger Mensch.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Pia, obwohl sie diese Charakterisierung eines Ehepartners befremdlich fand. Wer wollte schon bewunderungswürdig sein? Nicht zum ersten Mal spürte sie Mitleid mit der forsch auftretenden Marion Burmeister. Die zusammengesunkene Gestalt ihres Ehemannes, die Särge im Hintergrund, die Trauer und Last, die regelmäßig in dieses Haus hineingetragen wurden – Pia hatte plötzlich das Gefühl, fliehen zu müssen. Sie packte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich von Simon Burmeister. Als sie wieder an der Hauptsraße stand, der Geruch der Abgase sie in der Nase kitzelte und ein heftiger Windstoß ihr das Haar zerraufte, atmete Pia auf.