Stadtbummel, Schrumpfköpfe, erotische Kunst!«, deklamierte Gabler. »Lisanne Olsen und Jan Dettendorf haben sich einen bunten Nachmittag gemacht, und damit hat es sich.«
»Lisanne Olsen hatte aber auch einen Termin bei der Hapag-Lloyd, wenn wir Herrn Dettendorfs Aufzeichnungen Glauben schenken wollen«, wandte Broders ein. Er warf Pia am anderen Ende des Tisches einen verschwörerischen Blick zu. Ihr gemeinsames Interesse an Studentenverbindungen schien ihre Beziehung verbessert zu haben.
»Dettendorf könnte uns aber genauso gut auf eine falsche Spur locken. Ein Ablenkungsmanöver. Außerdem ist uns nur dann geholfen, wenn wir die Kontaktperson in der Reederei finden und herausbekommen, was Frau Olsen dort überhaupt recherchiert hat. Es kann auch sein, dass das überhaupt nichts mit dem Zeitungsartikel von Henriette Mühlberg zu tun hat.«
Broders starrte den Chef missmutig an. Pia musterte ihren Kollegen über die papierübersäten Schreibtischplatten hinweg. Wie sehr er sich verändert hatte! Schon diese Bräune war im November ungewöhnlich. Legte er sich auf die Sonnenbank? Was trieb den Guten dazu, neuerdings seine Haut zu Markte zu tragen? Wer oder was steckte dahinter? Sie schüttelte den Kopf, um die ablenkenden Gedanken zu vertreiben. »Wir sollten all diejenigen, die mit dieser Ermittlung zu tun haben, mit unseren neuen Erkenntnissen konfrontieren. Dass der Mann auf dem Foto Arnold Plessow sein könnte, dass er mit Simon Burmeister zur selben Zeit auf einem Verbindungshaus gewohnt hat. Die Reaktionen darauf könnten ganz aufschlussreich sein«, sagte Pia.
»Ja. Das werden wir tun müssen«, antwortete Gabler und machte sich eine Notiz. »Aber die Zeit arbeitet gegen uns. Ich habe nachher noch eine Pressekonferenz …«
»Und das Erotische Museum, die Schrumpfköpfe?«, fragte Gerlach interessiert. Er hatte mit einer Literflasche Cola Position auf der Fensterbank bezogen.
»Ich werde Jan Dettendorf noch einmal direkt danach fragen. Er hat zwar aufgezählt, was er am Samstag alles mit Lisanne unternommen hat, aber er ist nicht ins Detail gegangen«, sagte Pia, die verärgert war, weil sie Dettendorf nicht schon längst danach gefragt hatte. »Es ist gut möglich, dass er weiß, warum ihn seine Freundin ausgerechnet dorthin geführt hat. Was sie zum Beispiel an diesen Schrumpfköpfen interessiert hat. Sie wird sich ihm gegenüber ja geäußert haben.«
»Gute Idee. Erledigen Sie das, Frau Korittki, aber nehmen Sie jemanden mit, wenn Sie heute Abend noch losfahren.«
Pia zog überrascht die Augenbrauen hoch. Gabler winkte zerstreut mit dem Kugelschreiber, als Zeichen dafür, dass die Besprechung beendet war. Broders sprang auf und eilte zur Tür. Vielleicht wollte er draußen auf dem Flur ein paar vertrauliche Worte mit dem Leiter wechseln. Gerlach und Pia sahen ihm nach, wie er mit Gabler aus dem Raum verschwand.
»Verkehrte Welt, oder?«, sagte Gerlach. »Hast du bemerkt, wie schick er heute wieder angezogen ist?«
»Gleiches Recht für alle«, antwortete Pia. Gerlach sah schließlich jeden Tag aus wie ein Verkäufer in einer Herrenboutique.
»Ich komme mit dir nach Kirchhagen, wenn du nichts dagegen hast. Ich brauche noch ein bisschen frische Luft.«
Pia nickte zerstreut, während sie versuchte, ihren Besuch in Kirchhagen telefonisch anzukündigen. »Jan Dettendorf geht nicht ans Telefon.«
»Wir fahren trotzdem«, sagte Gerlach. »Vielleicht ist er gerade im Stall.«
Pia zögerte, doch dann nickte sie. Die Zeit drängte. Irgendwann an diesem Abend würden sie Dettendorf schon zu Hause erwischen.
Als sie vom Parkdeck fuhren, schaffte es die Tanknadel des Passats noch bis knapp oberhalb des roten Bereichs. Sie fuhren einen Schlenker, um zu tanken, und dann einen zweiten, weil Pias Magen vernehmlich knurrte. Es gelang ihr, Gerlach zu einem kurzen Zwischenstopp bei ihrem Lieblingsasiaten zu überreden, wo sie, einer alten Wette zufolge, die Getränke stets frei hatte, wenn sie es schaffte, ihre extrascharfe Portion aufzuessen. Der Koch guckte wie jedes Mal interessiert aus der Durchreiche und zwinkerte ihr zu.
Während der Fahrt nach Kirchhagen war Nebel über den Feldern und Wiesen aufgestiegen, und als sie kurz vor acht Uhr abends in den Ort hineinfuhren, war er bereits so dicht, dass sie kaum noch etwas sehen konnten. Pia hatte Mühe, die Dettendorfsche Hofeinfahrt zu finden. Das Wohnhaus sah stockfinster aus. Als sie auf den Hofplatz fuhren, sprang eine kleine Laterne an und tauchte das gepflasterte Areal in ein milchiges Licht.
»Wir haben wohl Pech, er scheint wirklich nicht zu Hause zu sein.« Pia schaffte es, jegliche Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhalten. Einen Moment lang saßen sie unschlüssig im dunklen Wagen. Im Motorraum tickerte und knackte es leise. »Komm, ein Versuch schadet nicht«, sagte sie dann.
»Es ist keiner da, das sieht man doch.«
Pia stieg trotzdem aus. Sollte Gerlach doch dort drinnen schmollen und Wurzeln schlagen. Als sie auf die Haustür zuging, sah sie, dass das kleine Fenster neben der Eingangstür gekippt war. Sie wertete das als gutes Zeichen dafür, dass Dettendorf nicht allzu weit weg sein konnte. Vielleicht war er in der Dorfkneipe auf ein Bier oder bei seinen Nachbarn?
Sie klingelte, und der Hund schlug an. Er klang nicht drohend, eher verhalten, und Pia hörte Kratzgeräusche und ein Schnüffeln am unteren Spalt der Haustür. Sie wartete einen Moment, dann klingelte sie noch einmal. Wieder bellte der Hund kurz auf, dann winselte er leise. Pia zog ihr Telefon hervor und wählte erneut Dettendorfs Nummer. Kurz darauf hörte sie das leise Klingeln eines Telefons irgendwo im Haus.
Hinter ihr wurde eine Autotür zugeschlagen, und Gerlach trat durch den Nebel zu ihr an die Tür. »Keiner da, sag’ ich doch.«
»Sieh doch bitte mal nach, ob du Dettendorfs Auto irgendwo finden kannst«, forderte Pia ihn auf.
»Okay«, sagte Gerlach gedehnt und war Sekunden später wieder von Nebel und Dunkelheit verschluckt.
Pia versuchte, ihr stärker werdendes Unbehagen abzuschütteln. Sie musste an den Überfall auf Dettendorf vor ein paar Tagen denken, an den hässlichen Draht im Wald …
Der Hund bellte wieder auf und kratzte weiter an der Tür. Pia hämmerte gegen das Holz, lauschte, klingelte noch einmal. Wahrscheinlich war es kompletter Blödsinn, aber sie musste irgendetwas tun. Nach kurzem Nachdenken rief sie bei den Burmeisters an und erkundigte sich nach Dettendorfs Verbleib. Simon Burmeister teilte ihr mit, dass Jan Dettendorf heute nach Wilhelmshaven gefahren sei, um ein Fohlen zu verkaufen.
»Wie viele Pferdehänger hat er?«, fragte Pia. Einen Hänger hatte sie auf dem Hofplatz gesehen.
»Tut mir leid, das weiß ich nicht«, kam es von Simon Burmeister zurück. Er klang so emotionslos wie ein Sprachcomputer.
»Wissen Sie, wann er zurück sein wollte?«
»Nein. Auch das weiß ich nicht.«
Herrgott noch mal!
»Frag ihn, ob Dettendorf einen dunkelblauen Mercedes fährt«, raunte ihr Gerlach zu. Er hatte seinen Rundgang beendet und stand wieder hinter ihr. Der Nebel schien nicht nur die Sicht zu nehmen, sondern auch jegliche Geräusche zu verschlucken.
»Fährt Herr Dettendorf einen dunkelblauen Mercedes?«
»Einen blauen Mercedes, ja, den fährt er.«
Pia beendete das Gespräch beunruhigter, als sie es begonnen hatte. Jan Dettendorfs Auto war da, ebenso sein Hund. Pia klopfte so hartnäckig an die Tür, dass das Tier drinnen aufheulte und immer hektischer am Holz kratzte. Warum öffnete Dettendorf nicht? »Wir müssen rein!«
Gerlach beobachtete sie mit gekrauster Stirn.
»Findest du nicht, dass du übertreibst? Er ist nicht da. Pech gehabt! Du hattest recht, wir hätten uns vorher anmelden sollen, aber was soll’s. Lass uns zurückfahren und morgen wiederkommen. Jemand, dem so was hier gehört«, er machte eine ausladende Armbewegung, »der haut nicht einfach ab.«
»Der Hund spielt verrückt. Da stimmt was nicht! Entweder wir machen die Tür selbst auf, oder wir lassen einen Streifenwagen kommen.«
»Ohne Beschluss?«
Pia seufzte. »Ich gehe mal ums Haus rum. Vielleicht kann ich irgendwas sehen.« Mit etwas Glück stand ein Fenster offen, oder es gab einen unverschlossenen Seiteneingang.
»Ich frag’ die Nachbarn, ob sie einen Schlüssel haben. Vielleicht helfen die uns, nachzusehen, ob bei Dettendorf alles in Ordnung ist«, schlug Gerlach vor und wandte sich zum Gehen.
Pia sah ihm erleichtert nach. Dann tastete sie den Rahmen über der Haustür nach einem Schlüssel ab. Als sie damit keinen Erfolg hatte, holte sie ihre Taschenlampe, zog gewissenhaft Schutzweste und Handschuhe über und umrundete das Haus.
Sie leuchtete in jedes Fenster im Erdgeschoss und versuchte, durch die grobmaschigen, vergilbten Tüllgardinen und die staubigen Fliegengitter in die Wohnräume zu spähen. Alles sah leer und verlassen aus. Am Küchenfenster war es etwas einfacher, weil keine Gardinen die Sicht behinderten. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe glitt über den Terrazzoboden und die Küchenzeile, streifte die zerfledderte Zeitung auf dem Küchentisch und das dunkle Rechteck der offen stehenden Tür zum Flur. Etwas Dunkles huschte auf sie zu – Pias Herz machte einen Satz, doch es war nur Dettendorfs Hund, der sie bemerkt hatte. Er schlug aber nicht an, sondern schnüffelte an etwas Dunklem herum, das im Durchgang zum Flur auf dem Fußboden lag. Es sah aus … wie ein menschlicher Körper. Lag dort Jan Dettendorf?
Pia klopfte gegen die Fensterscheibe. Der Hund fing wieder an zu bellen, aber die Person auf dem Fußboden reagierte nicht.
Sie musste ins Haus. Unbedingt. Der Hund würde sie schon nicht beißen … Die Fenster waren nur einfach verglast. Pia schlug die Scheibe mit der Taschenlampe ein. Sie brach die Scherben neben dem Fenstergriff heraus und öffnete den Fensterflügel. Ein paar Topfpflanzen fielen zu Boden. Gerlach würde sie für verrückt erklären. Wo blieb der Kerl nur so lange?
Sie stemmte sich an der Fensterbank hoch und kletterte hinein. Der Hund kam sofort näher, kläffte und knurrte aber nicht. Vielleicht erkannte er sie wieder.
Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe sah sie, dass die Gestalt auf dem Fußboden Jan Dettendorf war. Sie knipste das Deckenlicht an und kniete sich neben ihn. Pia sprach ihn an, berührte ihn am Arm, doch er reagierte nicht: Er war bewusstlos, aber er atmete. Es roch nach Erbrochenem, jedoch nicht nach Alkohol, wie sie zunächst vermutet hatte. Ein Mann allein zu Hause, die Freundin tot – ermordet. Wer wollte es ihm verdenken? Als sie an seinem Handgelenk nach dem Puls fühlen wollte, sah sie die Schwellung. Er hatte sich am Arm verletzt! Sein Puls ging schnell, viel zu schnell, seine Haut fühlte sich feucht an. Pia stellte sicher, dass seine Atemwege frei waren, und brachte ihn in eine stabile Seitenlage. Dann rief sie über ihr Mobiltelefon die Rettungsleitstelle an.
Nachdem sie wusste, dass Hilfe unterwegs war, fühlte sie sich etwas ruhiger. Was war Dettendorf zugestoßen? Er trug Jeans und einen grob gestrickten Pullover, dessen Ärmel bis über die Ellbogen hochgeschoben waren. An den Füßen hatte er dicke Wollsocken, keine Schuhe. Eine Verletzung wie die an seinem Handgelenk hatte Pia noch nie gesehen. Es war eine rötliche, entzündlich aussehende Schwellung mit zwei punktförmigen Blutungen in der Mitte, die an Einstiche erinnerten.
Da Jan Dettendorf offensichtlich eine Art Schock erlitten hatte, deckte sie ihn mit ihrer Jacke zu und redete, beruhigend wie sie hoffte, auf ihn ein. Was war passiert? Der Hund hatte sich in den Flur gelegt und beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Die Minuten dehnten sich endlos, und der Fußboden war eiskalt. Das leere Haus wirkte finster, fast bedrohlich auf sie. Wenn nur der Rettungswagen käme …
Und wo blieb Gerlach so lange? Sie fühlte sich hilflos, weil sie nicht wusste, was Dettendorf zugestoßen war. Einer spontanen Eingebung folgend, wählte sie Hinnerks Nummer. Mit Situationen wie dieser hatte er als Rettungsassistent schließlich jeden Tag zu tun. Hinnerk war sofort am Apparat. Mit knappen Worten berichtete sie, was los war.
»Ist der Mann verletzt? Hast du ihn untersucht?«, fragte er.
»Ich … Da ist nur diese seltsame Verletzung am Handgelenk …«
»Du musst nachsehen. Vielleicht verliert er irgendwo Blut.«
Pia tastete Dettendorf ab, konnte aber keine weiteren Verletzungen finden.
»Beschreib mir die Stelle am Arm, wie sieht sie aus? Hat er versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden?«
»Nein, glaub’ ich nicht. Hinnerk, er blutet nicht! Die Stelle ist rot und geschwollen. Ich sehe zwei rote Stellen, keine Einschnitte. Es sieht eher so aus, als hätte er sich gestochen.«
»Liegen irgendwo Kanülen herum? Pass auf, dass du dich nicht verletzt!«
»Hier liegt nichts.«
Jan Dettendorf fühlte sich so an, als bekäme er Fieber. Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
»Hinnerk, ich kann hier nichts für ihn tun. Wo bleibt nur der Rettungswagen?«
»Die Zeit kommt einem immer unendlich lang vor. Wichtig ist, dass du bei ihm bist. Sag ihm, dass Hilfe kommt.«
Jemand hämmerte gegen die Haustür. »Jetzt höre ich was. Ich leg’ auf.«
»Bis später, Pia.«
Pia rappelte sich hoch, ging den Flur hinunter und riss die Tür auf.
Gerlach starrte sie verwundert an. »Was ist los? Ich habe mit einem Mal Licht drinnen gesehen. Wo ist Dettendorf?«
»Ich habe ihn hier drinnen gefunden. Er ist bewusstlos. Ich musste einen Rettungswagen anfordern. Kannst du die Rettungskräfte einweisen, wenn sie kommen? Nicht, dass sie vorbeifahren bei diesem Nebel und der Dunkelheit. Sie müssten jeden Augenblick hier sein.« Rasch ging sie zu Dettendorf zurück.
Das Nächste, was sie wahrnahm, war das Blaulicht im Hof und dann den Notarzt und den Rettungsassistenten, die das Haus betraten. Sie stand auf und brachte den aufgeregt winselnden Hund in das Arbeitszimmer am anderen Ende des Flures, damit die Rettungskräfte ungestört arbeiten konnten. Als sie wieder zurückkam, wurde Jan Dettendorf schon mit routinierten Handgriffen untersucht.
»Was hat er da am Handgelenk?«, fragte der Notarzt verwundert.
»Seltsam. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen …« Der Rettungsassistent runzelte die Stirn.
»Ein entzündeter Insektenstich?«
»Es sieht eher aus wie ein Schlangenbiss«, sagte der Rettungsassistent verwundert. »Ich hab’ das schon mal gesehen, als ich in Kenia war.«
»Sind Sie sicher?«
»Es sieht aus wie die Bissmarke einer Schlange.«
»Wissen Sie, ob der Verletzte Schlangen hält?«, wandte sich der Notarzt an Pia.
Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich habe ihn so hier gefunden.«
»Können Sie vielleicht nachsehen, ob Sie im Haus ein Terrarium finden? Wenn er tatsächlich von einer Giftschlange gebissen worden sein sollte, müssen wir wissen, um was für eine Art es sich handelt. Wir bringen ihn am besten sofort in die Bernhard-Nocht-Klinik im UKE. Vielleicht braucht er ein Antiserum.«
Gerlach kam in die Küche. »Was hat Dettendorf?«
»Er ist immer noch bewusstlos. Sie vermuten, dass er von einer Schlange gebissen wurde. Komm, wir müssen nachsehen, ob er ein Terrarium hat.«
»Was sagst du? Von einer Schlange gebissen? Und was mache ich, wenn mir so eine Schlange über den Weg läuft?«
»Lass dich nicht beißen.«
Pia und Gerlach durchsuchten das weitläufige Haus vom Keller bis zum Dachboden. Oben angekommen, hörten sie, wie sich ein Hubschrauber dem Haus näherte.
»So eilig ist es also«, sagte Gerlach.
»Aber ein Schlangenbiss? Und wo bitte ist die Schlange?«, fragte Pia. »Es gibt im ganzen Haus nicht die geringste Spur von exotischen Tieren, überhaupt von Tieren, wenn man vom Hund, den Pferdefotos im Büro und dem ausgestopften Marderkopf an der Wand einmal absieht.«
»Komm, das hat doch keinen Sinn«, sagte Gerlach entnervt. »Vielleicht hat ihn sein Hund oder einer der Gäule gebissen, und der Dreck hat sich entzündet. Ich sehe hier keine Schlangen.«
Pia zog wieder ihr Telefon hervor. Dieses Mal erwischte sie Marion Burmeister. Sie fragte sie, ob Jan Dettendorf Schlangen hielt. Die Burmeister verneinte und schlug vor, es bei Henriette Mühlberg zu versuchen. Die würde sich bestimmt mit solchem Getier auskennen. Pia notierte sich die Rufnummer der Mühlberg und versuchte dort ihr Glück. Aber bei Henriette Mühlberg ging niemand ans Telefon.
Als sie wieder das Erdgeschoss erreicht hatten, lag Dettendorf auf einer Trage und sollte gerade zum Hubschrauber transportiert werden. Ein Infusionsschlauch hing aus seinem linken Arm. Er schien wieder bei Bewusstsein zu sein.
»Sehen Sie mal in seinem Bad nach, er hat was vom Badezimmer gesagt«, rief der Rettungsassistent Pia über die Schulter hinweg zu. »Er benötigt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Antiserum, und dafür brauchen wir die Schlange … egal, ob tot oder lebendig. Aber seien Sie um Gottes willen vorsichtig!«
»Die spinnen doch«, knurrte Gerlach, dem eine feuchte Haarsträhne an der Stirn klebte. In das einzige Badezimmer des Hauses, das im Erdgeschoss lag, direkt neben der Eingangstür, hatten Pia und er bisher nur einen kurzen Blick geworfen.
»Ich mach’s, solange der Hubschrauber noch da ist«, sagte Pia und streifte wieder ihre Handschuhe über.
»Und wie fängt man eine Schlange?« Gerlach sah alles andere als mutig aus.
»Wir brauchen einen Stock und ein Gefäß. Gib mir den Regenschirm da vorn an der Garderobe, und nimm du den Schirmständer, diese alte Milchkanne. Ein wunderbares Schlangetransportmittel, nur beim Deckel musst du improvisieren.«
»Kann ich sie nicht einfach erschießen?«, fragte Gerlach gezwungen scherzhaft.
Pia zog fragend eine Augenbraue hoch. Sie nahm den Schirm am unteren Ende fest in die Hand und betrat das Badezimmer. Gerlach blieb im Flur stehen. Eine einzelne Glühbirne an der Decke verbreitete gelbliches Licht auf den lindgrünen Kacheln. Der Fußboden war in schwarz-weißem Pepitamuster gefliest, einzelne Fliesen waren gesprungen und verkalkt. In einer Ecke stand das Klo mit einem Wasserkasten darüber und einer altmodischen Kette zum Ziehen. Eine Dusche mit stockfleckigem Vorhang befand sich rechts davon, ein Waschbecken hing an der linken Wand. Die Schlange, die sich hier versteckt hielt, tat Pia fast leid. Aber wo steckte das Tier, und wie sah es aus?
Sie hörte, wie sich der Hubschrauber wieder in die Luft erhob. Jetzt war sie mit Gerlach allein.
Aufmerksam suchten ihre Augen den spärlich möblierten Raum ab. Ein wackeliges Regal, mit Fön, Gästehandtüchern und ein paar Rattankörbchen bestückt, bot sich vielleicht als Schlangenversteck an. Pia stocherte mit dem Griff des Regenschirms vorsichtig in Dettendorfs Habseligkeiten, doch es rührte sich nichts.
In Pulli, Jeans, Schutzweste, Stiefeln und dicken Handschuhen fühlte sie sich einigermaßen geschützt, aber es war viel zu warm. Ihr Rücken und ihre Beine waren inzwischen klitschnass. Sie konnte ihren eigenen Angstschweiß riechen. Unter dem gekippten Badezimmerfenster befand sich ein altmodischer Rippenheizkörper, über dem ein paar Socken hingen. Dunkelgrün und … Da war noch etwas Grünliches …
»Ich glaube, ich habe sie entdeckt«, sagte Pia angespannt. Sie erinnerte sich, dass Schlangen nicht hören, nicht gut sehen, dafür aber hervorragend riechen und Wärme erspüren konnten. Und sie waren wechselwarm, deshalb vielleicht das Versteck hinter dem Heizkörper? Das Heizungsventil stand auf 3 – wahrscheinlich gerade richtig kuschelig für ein heimatloses Reptil.
In einem Film, den Pia einmal über Schlangen gesehen hatte, hatte der Schlangenexperte die Giftschlange mit einem Schlangenstock hinter dem Kopf fixiert, damit sie nicht beißen konnte. Aber sie sah keinen Kopf, nur einen langen Schlangenkörper, grün, mit braunen Flecken gemustert.
»Kriegst du sie zu fassen?«, fragte Gerlach, der sie durch den Türspalt beobachtete.
»Ich weiß nicht einmal, wo der Anfang und wo das Ende ist. Sie ist ziemlich groß. Irgendwelche Vorschläge?«
»Aber nur, wenn du erkennen kannst, wo der Kopf ist. Und was ist, wenn du nicht richtig triffst? Dann springt sie mir ins Gesicht.«
»Dann mach du …«
»Die Ärzte können Dettendorf nur helfen, wenn sie wissen, um was für eine Giftschlange es sich handelt.«
»Hast du eine Digitalkamera im Wagen? Dann könnten wir ein paar Fotos machen«, schlug Gerlach vor.
»Ja, und vorher überreden wir die Schlange, dass sie sich in Positur legt. Ich sehe nur ein verschwommenes Muster …«
Pia streckte den Arm aus und berührte die Schlange mit dem Griff des Regenschirms. Zuerst rührte sich nichts, dann zuckte unterhalb der Heizrippen eine Schwanzspitze. Ihr Herzschlag erinnerte Pia an den Trommelwirbel im Zirkus, kurz bevor sich der Artist von Trapez zu Trapez stürzt. Ein kleiner, dreieckiger Kopf tauchte unter dem Heizkörper auf, direkt neben der vibrierenden Schwanzspitze. Lidlose Augen mit senkrecht geschlitzten Pupillen schienen sie zu fixieren. Sie hörte Gerlach hinter sich heftig ausatmen.
»Komm raus hier …«
»Warte. Hol die Milchkanne an die Tür!«
Der Griff des Schirms war noch etwa zehn Zentimeter vom Kopf der Giftschlange entfernt. Pia sah die Zunge hervorschnellen.
»Pass auf, die sind blitzschnell!«, kommentierte Gerlach aus dem Hintergrund.
Die Schlange hatte ihre Witterung aufgenommen.