Die Muskeln in dem langen Körper bewegten sich, der Kopf der Schlange näherte sich dem Fußboden. Als er unten war, stieß Pia den Griff des Schirms nach vorn, um die Schlange kurz hinter ihrem Kopf zu fixieren. Aber das Tier war schneller als sie. Pia erwischte sie nicht direkt hinter dem Kopf, sondern nur ein Stück weiter hinten, und versuchte, den kräftigen Schlangenkörper nach unten zu drücken. Das Tier schnellte mit dem Kopf hoch und attackierte den Stock. Pia konnte die gefährlich aussehenden Zähne sehen, die gegen den Griff des Schirms prallten. Gerlachs Arm tauchte neben ihr auf, zwei Schüsse hallten laut, viel zu laut, zwischen den gekachelten Wänden wider, und die Patronenhülsen flogen direkt an Pias Gesicht vorbei. Sie sah die Schlange zucken, Blut spritzen und lindgrüne Kacheln bersten – der zerfetzte Schlangenkörper sackte zu Boden.
Pia ließ den Schirm fallen und ging ein paar Schritte rückwärts. Gerlach senkte die Waffe und atmete aus.
»Ist sie tot?«, fragte er.
»Sieht so aus. War das nötig? Ich hatte sie doch.«
»Sie hätte dich beinahe gebissen!«, rechtfertigte sich Gerlach. »Sei bloß vorsichtig, manche haben sogar noch ihren Bissreflex, wenn sie tot sind.«
Pia nahm den Schirm wieder auf und tippte den Schlangenkörper an. Als sich nichts rührte, machte sie sich daran, die tote Schlange in die bereitstehende Milchkanne zu bugsieren. Anschließend verschloss sie das Gefäß, indem sie ein Handtuch in die Öffnung stopfte.
»Falls sie wieder aufersteht«, kommentierte Gerlach ihre Vorsichtsmaßnahme mit düsterer Stimme.
An die halsbrecherische Fahrt durch dichten Nebel zur Bernhard-Nocht-Klinik erinnerte Pia sich später nur noch bruchstückhaft.
»Du willst schon weg?«
Henriette Mühlberg fuhr erschocken zusammen. Ihre Freundin Gerda stand im Türrahmen zu ihrem Schlafzimmer und sah sie mit müden Augen an. Henriette ärgerte sich: Sie fühlte sich ertappt, so wie sie in Schal und Mantel im Flur stand, ihren Koffer in der Hand und im Begriff, ohne ein Wort des Abschieds aus dem Haus zu schleichen.
»Ich muss abreisen! Ich habe hier auf einmal keine Ruhe mehr. Es liegt ein Brief für dich auf dem Küchentisch, der alles erklärt …«
»Henri, es ist erst kurz vor halb fünf!«
»Ich wollte zu Fuß zum Bahnhof gehen. Der erste Zug geht um Viertel vor sechs.«
»Du musst es ja wirklich bemerkenswert eilig haben, meine Liebe. Und ich bezweifle, dass du es irgendwie erklären kannst.« Gerdas Gesicht sah zerknittert aus, ein geblümter Morgenmantel hing schlaff an ihrem dürren Körper herunter. Ihr weißes Haar trug sie nachts zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr fast bis auf die Hüften reichten.
»Ich muss dringend nach Hause. Die Katzen …«
»Deine kleinen Monster kommen gut ohne dich zurecht, Henriette. Aber ich habe dich schreien gehört. Hattest du einen Albtraum?« Gerda machte ein paar Schritte auf Henriette zu und streckte den Arm nach ihr aus. »Komm. Ich mache uns einen heißen Kakao. Einschlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr. Und du ziehst deinen Mantel wieder aus und erzählst mir alles …«
Einen Augenblick war Henriette versucht, nachzugeben. Es war verlockend, sich jemandem mitzuteilen. Doch wie sollte sie Gerda, deren Probleme sich darauf beschränkten, die passende Bluse für den Bridgeabend auszuwählen, ihre Befürchtungen begreiflich machen? Henriette hatte sich noch nie anderen Menschen anvertrauen können, und je älter sie wurde, desto mehr fürchtete sie ihr altes Schreckgespenst: Dass man ihre Exzentrik für eine Gemütskrankheit halten könnte. Sie schüttelte so nachdrücklich den Kopf, dass ihr alter Wollschal an ihrem Hals kratzte. »Ich muss los, Gerda. Vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Aber mein Zug …«
Sie gab ihrer überraschten Freundin noch einen freundschaftlichen Knuff gegen die Schulter und eilte in die Dunkelheit hinaus. Nur weg. Zurück nach Kirchhagen. Sie glaubte weder an Geister noch an Visionen. Aber sie glaubte an ihr Unterbewusstsein, und wenn Moquimbo ihr im Traum erschien und sich vor ihren Augen in eine Anaconda verwandelte, dann war das ein Hinweis auf drohendes Unheil. Sie hatte keine Zeit zu verlieren!
»Hey, hast du unsere Begegnung mit der Giftschlange gut überstanden?« Nach einer etwas hektischen Frühbesprechung im Kommissariat waren Pia Korittki und Michael Gerlach wieder unterwegs in Richtung Kirchhagen.
»Bestens. Und du?« Er wirkte entspannter als sonst in ihrer Gegenwart. Es geht doch nichts über gemeinsam bewältigte Gefahren, wenn man eine Beziehung verbessern will, dachte Pia belustigt. Vielleicht sollte sie mit Hinnerk ein Überlebenstraining absolvieren, anstatt in den Schweizer Alpen zu kuscheln.
Während der Besprechung hatten sie erfahren, dass Jan Dettendorfs Zustand seit dem frühen Morgen stabil war. Bei dem von Gerlach erlegten Tier handelte es sich um eine in Südmexiko, Venezuela und Ecuador heimische Greifschwanzlanzenotter. Ein Biss dieser Schlangenart konnte tödlich sein. Jan Dettendorf hatte Glück gehabt, dass er über eine gute Konstitution verfügte und schnell medizinisch versorgt worden war. Des Weiteren hatte Gabler nun auch das Ergebnis der DNA-Analyse der Knochenfunde aus Kirchhagen vorliegen, die von Pia angeregt worden war. Sie würden Meta Stoppe heute noch einen Besuch abstatten müssen.
Die neuen Entwicklungen im Fall Lisanne Olsen hatten Gabler dazu bewogen, ihre gesamten Kräfte vor Ort zu konzentrieren. Broders und Kürschner, Gablers Stellvertreter, waren ebenfalls auf dem Weg nach Kirchhagen.
Die Burmeisters standen als Erste auf Pias und Gerlachs Liste. Als Pia in die schmale Einfahrt zum Bestattungsinstitut einbog, überfiel sie ein Frösteln. Sie hatte kaum vier Stunden im Bett verbracht, von Schlaf gar nicht zu reden. Aufgrund ihrer streikenden Gastherme hatte sie nur kalt duschen können und außerdem noch nicht gefrühstückt.
Die schmale Rasenfläche vor dem Haus der Burmeisters, die entlaubten Zweige der Büsche und Bäume waren mit Raureif überzogen. Der Bodennebel, der zwischen Lübeck und Kirchhagen über den Feldern und Wiesen lag, streckte seine feuchtkalten Finger bis ins Innere des Dorfes.
Pia zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und stellte den Kragen hoch, bevor sie aus dem gut beheizten Auto stieg. Auf der Fußmatte vor der Haustür entdeckte Sie den Kopf und den Schwanz einer kleinen Spitzmaus. Die musste sich zumindest keine Gedanken mehr über den bevorstehenden Winter mit Frost und Nahrungsmangel machen, dachte Pia und drückte auf die Klingel.
»Keiner zu Hause«, murmelte Gerlach, nachdem Pia es zum zweiten Mal vergeblich versucht hatte.
»Wir gehen hinten rum«, verkündete sie. Es war, als führten sie das gleiche Stück zum zweiten Mal auf. Kurz danach hörten sie das Singen einer Kreissäge. Hinter dem Haus befand sich ein lang gezogener Anbau, durch dessen staubige Fensterscheiben Neonlicht fiel: die Tischlerwerkstatt. Die Arbeitsgeräusche drinnen waren so laut, dass es wenig Sinn machte, zu klopfen. Pia drückte die Klinke der Tür hinunter, und sie und Gerlach traten ein. Der Geruch nach frisch aufgesägtem Holz und Leim schlug ihnen entgegen. In einer Ecke entdeckten sie Simon Burmeister im blauen Arbeitsanzug mit einem Paar Mickeymäuse als Lärmschutz auf den Ohren. Er bediente mit konzentrierten Bewegungen eine Bandsäge. Als er die Polizeibeamten erblickte, trat ein verwirrter Ausdruck in sein Gesicht. Er beendete seine Arbeit, schaltete die Säge aus und wischte sich die Handflächen an seiner Arbeitshose ab.
»Oh – Sie sind es. Ich … Es tut mir leid, dass ich Ihnen gestern Abend nicht weiterhelfen konnte. Ich … Wollen Sie zu meiner Frau? Sie ist weggefahren.«
»Wir würden gern zuerst mit Ihnen reden«, erklärte Pia. »Ihre Frau können wir später sprechen.«
»Marion ist sehr besorgt wegen Jan. Ich meine, ich natürlich auch. Sie müssen also entschuldigen, wenn ich … Wollen Sie sich vielleicht setzen?« Er hüstelte und sah sich suchend um. Pia schüttelte den Kopf. Simon Burmeister zu befragen kam ihr fast ein wenig vor, wie kleinen Kindern ihren Lutscher zu klauen – unfair.
»Es gibt zwei Dinge, weswegen wir Sie sprechen müssen: zum einen der Unfall gestern Abend. Jan Dettendorf ist in seinem Haus von einer … Giftschlange, einer Greifschwanzlanzenotter, gebissen und lebensgefährlich verletzt worden.« Das klang blöd, so nach Sherlock Holmes und »Das gefleckte Band«, dachte sie. Eine Schlange, die an einer Klingelschnur hinuntergleitet …
Burmeister knetete seine roten Hände. »Ein Schlangenbiss? Was hatte Jan mit Schlangen zu tun? Die gibt es hier bei uns doch nur im Zoo.«
»Hat er vielleicht mal erwähnt, dass er sich ein Terrarium zulegen möchte? Hat er je von Schlangen erzählt?«
»Nein. Nichts dergleichen. Ich glaube nicht, dass ein Mensch wie Jan sich für Schlangen erwärmen könnte. Nein. Wo war die Schlange überhaupt, dass sie ihn beißen konnte?«
»Im Badezimmer«, sagte Gerlach. »Wir nehmen an, dass sie durch das gekippte Badezimmerfenster ins Haus befördert worden ist.«
Burmeister riss die Augen auf. Sein Mund öffnete sich und schloss sich wieder, ohne dass er einen Laut von sich gegeben hatte.
»Kennen Sie jemanden, der Schlangen hält?«
Burmeisters Blick wanderte ziellos durch seine Werkstatt, als vermutete er, jeden Moment einen züngelnden Schlangenkopf auf den offenen Dachbalken zu entdecken.
Pia hätte ihn gern ein wenig wachgerüttelt. »Hat mal jemand hier im Ort oder in ihrem Bekanntenkreis über Schlangen gesprochen? Versuchen Sie sich zu erinnern.«
»Nein. Da war nichts. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Dann zum zweiten Punkt: Existieren noch Aufzeichnungen über die Aufträge des Bestattungsinstituts aus der Zeit ihres Vorgängers?«
»Von Marions Vater? Das ist lange her. Vielleicht auf dem Dachboden, aber ich bin mir nicht sicher. Meine Frau sortiert viel aus. Sie ist sehr ordentlich, wissen Sie, sie bewahrt nichts Überflüssiges auf.«
»Wir benötigen Unterlagen über das Jahr 1972. Die Beisetzung von Erich Stoppe, erinnern Sie sich daran?«
»Nein. Wir bewahren die Akten nur zehn Jahre auf. Außerdem lief schon damals alles immer genau so ab, wie es sich gehört. Dieser Betrieb existiert seit über fünfzig Jahren und genießt das Vertrauen der Menschen bis weit über Kirchhagen hinaus. Glauben Sie anständigen Menschen, oder glauben Sie, was eine Meta Stoppe herumerzählt? Seit sie ihren Vater zu Tode gepflegt hat, ist sie etwas wunderlich geworden.«
Simon Burmeister richtete sich plötzlich kampfeslustig auf. Nun sah Pia, dass er größer war als sie mit ihren einsachtzig. Er war auch größer als Gerlach, wenn auch nur halb so breit im Kreuz. Burmeister hatte sich einen herumliegenden Holzkeil gegriffen und schlug ihn mehrmals in seine Handfläche. Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn. Pia hatte sich geirrt: Nichts erinnerte mehr an das Kind mit dem Lolli, jetzt wirkte er eher wie ein in die Enge gedrängtes Tier.
»Was haben Sie gestern gemacht?«, fragte sie.
»Gearbeitet, was denn sonst?«
»Waren Sie den ganzen Tag über hier?«
»Ja, die ganze Zeit. Im Büro und in der Werkstatt.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
Simon Burmeister verzog seinen Mund zu einem verächtlichen Grinsen. »Wissen Sie, mein Haus«, er machte mit seinem Arm eine ausladende Geste, »lädt nicht gerade zu spontanen Besuchen ein. Die meisten Leute kommen nur hierher, wenn sie es müssen. Vielleicht liegt es an mir, vielleicht an dem Gewerbe, wer weiß? Sie sind da eine Ausnahme.«
Der Temperamentsausbruch endete so jäh, wie er begonnen hatte. Als sich Pia und Gerlach von ihm verabschiedeten, richtete sich sein Blick wieder nach innen. Seine Augen sahen so leblos aus wie Glasmurmeln.
»Wann kommt Ihre Frau voraussichtlich wieder?«, fragte Gerlach beim Hinausgehen.
»Das weiß ich leider nie so genau. Leben Sie wohl«, sagte Simon Burmeister betont förmlich. »Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg bei Ihren Ermittlungen. Lisanne Olsen und Jan Dettendorf haben es verdient, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«
Broders und Kürschner starrten auf die Schlange, die es sich in Leo Körtings beringter Hand bequem gemacht hatte.
Sie hatten ihre Befragungen im Dorfkrug begonnen und waren von einem frühen Gast bereitwillig darüber informiert worden, dass Leo Körting angeblich Schlangen hielt. Der Mann hatte ihnen sogar den Weg zu Körtings Hotel beschrieben. Manchmal brauchte man einfach ein Quäntchen Glück für die Ermittlungen.
Leo Körting hatte sie äußerst entgegenkommend in seine Wohnung geführt, die direkt an das Hotel grenzte. Er genießt es ganz offensichtlich, neuen Besuchern sein exquisites Heim zu zeigen, dachte Broders.
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«, fragte Körting, während er sie durch die Diele ins Wohnzimmer führte. »Nein, lassen Sie mich raten: Anke Loss hat geplaudert.«
»Nein.«
»Dann Frank Reuter – neuerdings hängt er manchmal vormittags schon im Dorfkrug herum, habe ich gehört. Der Alkohol und die Einsamkeit, das kann einen Mann kaputt machen … Wenn die Leute neidisch sind, fangen sie an zu reden. Irgendwann trauen Sie einem einfach alles zu …« Er sonnte sich in seinem schlechten Ruf, wie sonst unter der Sonnenbank, wie seine frisch gebräunte Haut verriet. Seine Brust, die unter dem weit offen stehenden Hemd zu sehen war, sah so glatt und braun aus wie Karamellpudding. Ob er sie rasiert?, schoss es Broders durch den Kopf. Er räusperte sich und richtete seine Konzentration wieder auf die Befragung.
»Wir suchen nach dem Halter einer grünen Greifschwanzlanzenotter«, sagte er. »Bothriechis schlegelii«, ergänzte Kürschner, als hätte er tagtäglich damit zu tun.
Leo Körting pfiff anerkennend durch die Zähne. »Nicht schlecht, der Specht, die hat nicht jeder. Da sind Sie bei mir an der völlig falschen Adresse. Ich halte ausschließlich Köpis, und in meinem Bekanntenkreis besitzt auch niemand solche Greifschwanzlanzenottern.«
»Köpis?« Das klang mehr nach Bier.
»Königsphytons. Würgeschlangen. Die können zwar auch beißen, aber sie sind nicht giftig. Und diese hier, meine kleine Shakira, die ist ganz zutraulich. Wenn Sie nicht gerade nach Nagetier riechen, kann ich sie Ihnen bedenkenlos in die Hand geben.«
»Nein, danke.« Broders war sich zwar sicher, dass er nicht nach Nagetier roch, aber er verzichtete trotzdem nachdrücklich. Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und musterte die Einrichtung. »Dürfen wir uns umschauen, nur um sicherzugehen …«
»Klar, ich führe Sie rum, auch ohne Beschluss.« Körting grinste überheblich. Während er sie einen Flur mit etlichen Zimmertüren entlangführte, die er nacheinander aufstieß, sagte er über seine Schulter hinweg: »Ihr Problem ist nur: Wie wollen Sie überhaupt feststellen, ob ich bis gestern nicht vielleicht eine Greifschwanzlanzenotter besessen habe?«
»Wie beschafft man sich solche Tiere? Im Zoohandel?«, fragte Broders und warf einen Blick in ein Schlafzimmer mit einem zerwühlten runden Doppelbett.
»Schlangen, die man legal kaufen und halten darf, bekommt man im Fachhandel. Im Zweifelsfall bestellt der nach Wunsch. Bei Tieren, die unter den Anhang B des Tierschutzgesetzes fallen, wird es schon komplizierter. Da brauchen Sie Papiere, die belegen, dass die Schlangen in Deutschland nachgezüchtet wurden. Hier in Schleswig-Holstein sind giftige Schlangen meldepflichtig.«
»Das haben wir bereits geprüft. In Kirchhagen und Umgebung sind keine gemeldet«, sagte Kürschner. »In Hamburg, wo keine Meldepflicht besteht, wimmelt es wahrscheinlich nur so von giftigen Tieren. In Hamburg-Ottensen ist neulich ein Mann von seiner eigenen Klapperschlange gebissen worden. Die Kollegen haben anschließend in seiner Dreizimmerwohnung in dreizehn Terrarien einundzwanzig Giftschlangen gefunden. Ach ja, und eine Wolfsspinne.«
»Menschen, die den Hals nicht voll genug bekommen können, gibt es überall«, bemerkte Körting, während er die Tür zu seinem dritten Badezimmer aufstieß. »Sehen Sie, alles Marmor, aber auch hier keine Giftschlangen!«
»Wie kommt man eigentlich noch in den Besitz einer Giftschlange?«
»Zum Beispiel über das Internet. Gegen entsprechende Bezahlung bekommen Sie jedes gewünschte Exemplar per Post zugeschickt. Aus Polen oder Tschechien beispielsweise.«
»Das ist also kein Problem?«
Körting grinste breit. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Ich hab’s doch gewusst!« Im ersten Augenblick dominierte bei Meta Stoppe die Befriedigung darüber, dass sie das Übel erahnt hatte. Unmittelbar darauf folgten die Wut und das Unbehagen darüber, dass die sterblichen Überreste ihres Vaters sich nicht dort befanden, wo sie hingehörten: in seinem Grab.
Meta Stoppe saß mit den Überbringern der schlechten Nachricht, Pia Korittki und Michael Gerlach, in ihrer Küche. Zu dritt war es klaustrophobisch eng, und Pia bezweifelte inzwischen, dass es in dem schmalen Häuschen überhaupt noch andere bewohnbare Zimmer gab. Sie klemmte Meta Stoppe gegenüber auf dem Klappstuhl am Küchentisch, während Gerlach halb auf dem Gasherd hockte. Neben ihm im Spülbecken badete gerade ein Wirsingkohl.
»Bei der DNA-Analyse wurde lediglich geprüft, ob zwischen Ihnen und der Person, deren Knochen gefunden wurden, ein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Das Labor hat nun ein nahes Verwandtschaftsverhältnis zwischen Ihnen und der Person nachgewiesen, deren Skelett gefunden wurde. Bei der großen Übereinstimmung, wie sie sich hier gezeigt hat, kommen nur ein Elternteil, leibliche Kinder oder Geschwister in Frage. Gibt es noch jemanden außer ihrem Vater, dessen Knochen dort eventuell hätten gefunden werden können?«
Meta Stoppe schürzte nachdenklich die Lippen. »Es müssen Vaters Knochen sein. Ich habe außer meinen Eltern keine nahen Verwandten, seit Vaters Tod bin ich allein. Und dass die ganze Beerdigung damals sehr merkwürdig ablief, das habe ich ja schon immer gesagt. Nun haben wir den Beweis: Es sind bestimmt die Knochen von meinem Vater!«
»Wir versuchen herauszufinden, was damals passiert ist. Wer an seiner statt beerdigt worden ist. Wir sind allerdings auf die Hilfe von Leuten angewiesen, die sich an Vorkommnisse erinnern, die sich vor etwa dreißig Jahren hier zugetragen haben.«
»Ihren Optimismus möchte ich haben, junge Frau. Egal, ich glaube nicht, dass Sie noch viel aus den Leuten rausbringen. Ist viel zu lange her. Viel zu lange!« Meta Stoppe fingerte mit ihren rauen Händen an einer Schüssel herum, die vor ihr auf dem Tisch stand. Ihr Blick wanderte zur Spüle.
»Erinnern Sie sich an das Schützenfest in Kirchhagen in dem Jahr, als Ihr Vater starb?«
»1972? Komisch, dass Sie danach fragen. Mein Vater wollte unbedingt noch einmal den Spielmannszug morgens um fünf hören, wenn sie den Schützenkönig abholen. Ich musste ihm schwören, dass ich ihn rechtzeitig wecke. Er war selbst mal Schützenkönig gewesen, ein guter Schütze und vor allem ein guter Säufer! Sei’s drum. Er ist ganz kurz bevor es losging gestorben. Ironie des Schicksals.«
»Waren Sie auf dem Schützenfest, Frau Stoppe?«, fragte Gerlach.
Sie schnaubte, dass ihre Nasenflügel bebten. »Wohl kaum. Wenn mein Vater kurz vorher gestorben ist, geh’ ich doch nicht zum Tanz!«
»Wir vermuten, dass das Schützenfest 1972 mit dem Toten zu tun haben könnte, der unrechtmäßig im Grab Ihres Vaters beigesetzt wurde.«
»Es hat aber zu der Zeit keine weiteren Todesfälle in Kirchhagen gegeben. Mir ist das damals richtiggehend aufgefallen. Auf den Dörfern hieß es zu der Zeit noch, es gibt immer drei! Wenn einer stirbt, bangen schon die Nächsten, weil der Tod sich niemals nur einen holt. Immer drei Tote! Nie davon gehört? Sie kommen wohl aus der Stadt …«
»Und als Ihr Vater starb, gab es keine weiteren Todesfälle in der Umgebung?«, fragte Pia interessiert.
»Nix.«
Gerlach beugte sich vor. »Haben Sie damals etwas Ungewöhnliches gehört, beispielsweise über Simon Burmeister, die heutige Bürgermeisterin oder Henriette Mühlberg?«
»Was soll ich gehört haben? Damals wurde noch anständig gefeiert. Zwischen dem Simon und der Marion hat sich wohl schon etwas angebahnt. Aber war Henriette auch da? Ich dachte, die hätte sich noch in Südamerika rumgetrieben. Nicht der richtige Aufenthaltsort für eine junge Frau aus gutem Hause, wenn Sie mich fragen. Damals waren die Mühlbergs noch wer. Aber heute … Da stinkt es überall nach Katzenpisse.«
»Arbeiten Sie auch für Frau Mühlberg?«
»Nein, Kindchen. Die Zeiten haben sich geändert. Die könnte heute besser für mich arbeiten, um über die Runden zu kommen.«
»Kennen Sie jemanden namens Arnold Plessow?«
»Nie gehört.«
»Wir fahren noch mal zu Henriette Mühlberg«, sagte Pia, als sie am frühen Abend mit ihren Befragungen in Kirchhagen durch waren. Sie hatten im Laufe des Tages ein paar Mal versucht, Frau Mühlberg telefonisch zu erreichen – ohne Erfolg. Gerlach wählte erneut ihre Nummer und wartete ab.
»Geht sie immer noch nicht ans Telefon?«, fragte Pia.
»Sie ist bestimmt nicht da«, vermutete Gerlach. Er hatte ganz offensichtlich wenig Lust, jetzt noch hinaus zum Mühlbergschen Haus zu fahren.
»Lass uns irgendwo einen Happen essen gehen, anschließend fahren wir zu ihr rüber«, schlug Pia vor.
»Also gut, wir essen im Dorfkrug. Das geht am schnellsten«, sagte Gerlach. Er musste sehr hungrig sein.
Bei Heinrich war kaum Betrieb. Die wenigen Gäste schienen sie misstrauisch zu mustern, als sie sich an den Ecktisch setzten. Es waren keine bekannten Gesichter darunter. Nachdem sie beide eine Currywurst und etwas zu trinken bestellt hatten, wandten sich die anderen Gäste wieder eigenen Gesprächsthemen zu.
Gegen halb acht Uhr abends bogen Pia und Gerlach in die Tiefe Trift ein, die zum Haus von Henriette Mühlberg führte. Zwischen den Bäumen, die die schmale Straße säumten, war es stockdunkel. Im Licht der Scheinwerfer sahen die moosigen Baumstämme graugrün und tot aus. Erster feiner Pulverschnee ließ die jenseits der Straße liegenden Äcker wie mit Puderzucker bestäubt aussehen. Über der Tür des Mühlbergschen Hauses brannte ein einsames Licht. Die Nacht würde bitterkalt werden.
Als sie näher kamen, sahen sie auch im Erdgeschoss hinter einem der Fenster einen schwachen Lichtschein. Henriette Mühlberg schien also wieder zu Hause zu sein. Gerlach parkte den Wagen neben dem Haus unter einem ausladenden Busch. Pia und er stiegen aus und gingen die Stufen zur Eingangstür hoch. Auf ihr Klopfen hin tauchte Henriette Mühlbergs kräftige Gestalt im Türrahmen auf. »Ach, Sie sind es, Frau Korittki. Dieses Mal mit Verstärkung. Kommen Sie rein. Ich muss schnell die Tür wieder zumachen. Behalten Sie ihre Jacken an. Es ist kalt hier drinnen. Ich bin selbst erst vor Kurzem nach Hause gekommen.«
»Wo waren Sie denn?«
»Zu Besuch bei einer alten Freundin. Sie wohnt in einem kleinen Kaff in der Nähe von Mannheim. Ich war fast den ganzen Tag unterwegs.«
»Was machen Sie mit Ihren Tieren, wenn Sie weg sind?«, fragte Pia, die sich von mindestens drei gelben Augenpaaren beobachtet fühlte. Die Katzen saßen auf der Truhe neben der Treppe, auf der schmalen Fensterbank, und oben zwischen den Geländerstäben der Galerie vermeinte sie auch einen schwarzen Katzenkopf zu sehen.
»Marion Burmeister kümmert sich dann immer um meine Katzen. Etwas Futter hinstellen, für Wasser sorgen, mehr ist es ja nicht.«
»Sind Sie mit Marion Burmeister gut befreundet?«, fragte Gerlach.
»Wir kennen uns seit Ewigkeiten. Sie kann mit meinen Macken umgehen, ich weiß über die ihren Bescheid. Wir sehen uns regelmäßig und helfen uns, wenn nötig. Aber Marion gehört nicht zu den Menschen, die ich auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde, wenn Sie verstehen, was ich meine …«
»Wen würden Sie denn mitnehmen?«
»Ha, ertappt. Da habe ich mich wohl selbst reingeritten. Wenn man so lange allein lebt wie ich, verlernt man den verbalen Schlagabtausch. Ich würde niemanden mitnehmen. Nur … Gegenstände.«
Sie führte Pia und Gerlach in die Küche, steckte den Stecker des Heizstrahlers in die Steckdose und bot ihnen einen Platz am Tisch an. »Soll ich Teewasser aufsetzen? Ich habe nichts anderes zu trinken da.«
»Nein. Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
Henriette Mühlberg griff trotzdem zum Teekessel und füllte ihn mit Wasser. Der Wasserhahn ächzte und gurgelte. Der Rücken der Mühlberg mit dem ausladenden Poncho über den Schultern sah massiv und kräftig aus.
»Ich brauche jetzt etwas Warmes. In den modernen Zügen zieht es fürchterlich. Früher gab es Fenster zum Auf- und Zumachen, heute ist man den Launen der Klimaanlage ausgeliefert.«
»Haben Sie gehört, was Jan Dettendorf passiert ist?«
Die Mühlberg fuhr herum, den Teekessel noch in beiden Händen haltend, während das Wasser hinter ihr in den Spülstein plätscherte. »Nein. Nicht schon wieder ein … Todesfall?«
»Wir gehen davon aus, dass es ein Mordanschlag war. Aber er lebt. Er ist allerdings noch im Krankenhaus.«
»Was hat er? Was ist passiert?«
Pia zog es vor, diese Frage nicht direkt zu beantworten. Information gegen Information. »Wir suchen jemanden aus Jan Dettendorfs oder Lisanne Olsens Umfeld, der Giftschlangen hält oder sie sich beschaffen könnte.« Sie beobachtete Henriette Mühlbergs Reaktion. Deren Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Selbstsicherheit schwand, stattdessen presste sie die Lippen zusammen und zog die Schultern hoch.
»Ist er … Er ist doch nicht etwa von einer Giftschlange gebissen worden?«, fragte die Mühlberg mit rauer Stimme.
»Kennen Sie sich mit so etwas aus?«
»Hören Sie: Ich habe die Hälfte meines Lebens in den Tropen verbracht. Ich habe mal einen erwachsenen Mann am Biss einer Buschmeister sterben sehen. Aber das ist etwas, das man nicht in Kirchhagen erwartet, nicht wahr?«
»Nein. Wir hatten das auch nicht erwartet, als wir Herrn Dettendorf gestern bewusstlos in seinem Haus aufgefunden haben. Es ging ihm sehr schlecht, ohne dass ich gleich feststellen konnte, was geschehen war. Glücklicherweise hat der Rettungsassistent an der Bissmarke erkannt, womit er es zu tun hatte. Dettendorf ist mit dem Rettungshubschrauber abgeholt worden. Er ist immer noch im Krankenhaus in Behandlung … Es sieht sehr ernst aus.«
Gerlach warf Pia einen überraschten Blick zu.
Die Mühlberg war sichtlich erschüttert. »Oh nein, nicht Dettendorf, nicht das!« Langsam drehte sie sich um, stellte den Kessel weg und drehte – endlich – den Wasserhahn zu. Als sie sich wieder umwandte, wirkte sie nachdenklich.
»Zum Glück haben wir die Schlange sicherstellen können, sodass er ein Antiserum bekommen hat, aber es war knapp. Irgendjemand hat es ernst gemeint mit seinem Versuch, Jan Dettendorf zu schaden. Schwere Körperverletzung oder versuchter Mord.«
»Was für eine Schlange hat ihn gebissen?«
»Tut das etwas zur Sache? Kennen Sie Leute, die giftige Schlangen halten?«
»Sagen Sie mir, was für eine!« Es klang heiser.
»Wen kennen Sie, der mit Schlangen zu tun hat?«
Sie hob resigniert die massigen Schultern. »Leo Körting hält ein paar Würgeschlangen, soweit ich informiert bin. Vor Giftschlangen hat er den nötigen Respekt. Er ist im Amphibienclub.«
»Sonst noch jemand?« Pia hatte Mühe, ruhig zu bleiben.
»Giftschlangen kann sich jeder beschaffen. Es ist ganz einfach.«
»Das ist es nicht, was wir von Ihnen wissen wollen, Frau Mühlberg. Wir wollen von Ihnen wissen, wer in Ihrem Umfeld Giftschlangen besitzt.«
»Ich halte Schlangen.«
Pia war nicht wirklich überrascht. Wer lange in den Tropen gelebt hatte …
»Tatsächlich? Was für Schlangen?«, hakte Gerlach sofort nach.
»Greifschwanzlanzenottern. Bothriechis schlegelii – wunderschöne Tiere. Aber sie sind sicher weggeschlossenen in ihrem Terrarium. Es ist völlig unmöglich …«
»Wie bitte? Dettendorf wurde von genau so einer Schlange gebissen.«
»Aber bestimmt nicht von einer meiner Schlangen!«
Statt in sich zusammenzusinken, straffte sich die Mühlberg. »Kommen Sie mit. Ich beweise es Ihnen. Niemand kann das Terrarium öffnen. Den einzigen Schlüssel dazu besitze ich.«
Sie eilte voraus. Gerlach warf Pia einen beunruhigten Blick zu, dann folgten sie ihr. Henriette Mühlberg führte sie quer durch die Halle zu einer verschlossenen Tür. Umständlich hantierte sie mit einem riesigen Schlüsselbund, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Vor ihnen öffnete sich ein länglicher Raum, der von einem großen gläsernen Terrarium beherrscht wurde. Pinkfarbenes Licht verlieh ihm eine geheimnisvolle Aura.
Pia trat näher heran, konnte aber nur tropische Pflanzen mit Kletterästen und ein Wasserbecken darin erkennen. Der Deckel des Terrariums war mit einem Vorhängeschloss gesichert – gewesen.
»Nein!«, stieß die Mühlberg hervor, als sie sah, dass der Bügel durchtrennt und das Schloss aufgebrochen worden war. »Wer kann das gewesen sein?«
»Jeder. Dazu reicht ein Seitenschneider aus«, kommentierte Gerlach aus dem Hintergrund. Er hielt vorsichtshalber Abstand zu dem Glaskasten. Der Deckel lag fest auf.
»Wann haben Sie das Terrarium zuletzt kontrolliert?«
»Bevor ich zu Gerda gefahren bin. Als ich vorhin zurückkam, habe ich nur einen kurzen Blick ins Büro geworfen und mich dann einen Augenblick hingelegt. Es ging mir nicht besonders gut. Wenn ich hier aus den Latschen kippe, merkt das kein Mensch …«, verteidigte sich die Mühlberg.
Pia beugte sich hinunter und spähte durch die Scheibe in das Terrarium. »Da ist eine gelbe Schlange, unter der Borke«, sagte sie. »Die Schlange, die Dettendorf gebissen hat, war aber eher grünlich …«
»Bothriechis schlegelii gibt es in verschiedenen Farben, aber die gelben sind die schönsten. Die zweite gelbe liegt auf ihrem Lieblingsplatz auf der Astgabel«, sagte die Mühlberg. Dann verstummte sie.
»Und die dritte? Gibt es eine dritte?«, fragte Pia. Es musste eine dritte gegeben haben. Warum sonst hätte sich jemand die Mühe machen sollen, das Schloss des Terrariums aufzubrechen?
»Sie muss auch da sein«, beharrte Henriette Mühlberg. Unter ihrem dünnen grauen Pony bildeten sich dicke Schweißtropfen.