Die Tiefe Trift, die auf die baumbestandene Anhöhe zwischen den Wiesen und Knicks zuführte, wirkte fremd und vertraut zugleich. Einzelne Wolken standen als weiße Tupfer am strahlend blauen Himmel und gaukelten dem unwissenden Betrachter den Beginn eines wunderbaren Herbsttages vor.
Allein der Geruch kündigte die Katastrophe an, die Henriette Mühlberg erwartete. Ihr Haus war abgebrannt, bis auf die Außenmauern zerstört. Als sie die Auffahrt hochfuhr, sah sie schon, wo der Rauch durch die Fensteröffnungen gequollen war und die verputzte Fassade des Hauses geschwärzt hatte. Der Dachstuhl war teilweise eingestürzt, der Rest wirkte wie ein schwarzes Gerippe. Ich muss mir keine Gedanken mehr über die Kosten für ein neues Dach machen, dachte sie grimmig.
Zögernd stieg sie vom Fahrrad. Nun war das Haus nur noch für den Abriss bestimmt. Sie seufzte, und ihre Augen brannten, was nicht nur an dem scharfen Geruch nach verkohltem Holz liegen mochte. Dieses Haus war nicht nur ihre Heimat, ihr Zufluchtsort gewesen, sondern auch das einzige Erbe, das zu hüten sie sich verpflichtet gefühlt hatte.
Die Polizei hatte ihr eingeschärft, die Brandruine keinesfalls zu betreten, denn es bestand Einsturzgefahr, und auch die Spurensicherung war noch nicht abgeschlossen. Sie hatte auch gar kein Verlangen danach, hineinzugehen. Sie wusste, dass es keine besonderen Gegenstände gab, die sie retten wollte.
Was nicht vom Feuer zerstört worden war, war mit schmierigem schwarzen Ruß bedeckt oder dem Löschwasser zum Opfer gefallen. Auch die Schlangen waren tot, daran bestand kein Zweifel.
Henriette Mühlberg war hergekommen, um nach ihren Katzen zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis drei ihrer Schützlinge sie entdeckt hatten und um ihre Beine strichen. Henriette bückte sich mühsam, um sie zu streicheln, und schüttete das mitgebrachte Trockenfutter auf einen flachen Stein. Sogar die kleine Rotgetigerte tauchte nach einer Weile auf, und sie schüttete ihr eine Extraration hin. Die Katze war augenscheinlich genau wie sie, sie kam auch nicht mit ihren Artgenossen zurecht.
Das Geräusch eines sich nähernden Autos ließ Henriette Mühlberg aufmerken. Kurz darauf hörte sie, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Sie richtete sich mit einem Stöhnen auf und sah die Kommissarin von der Lübecker Kripo auf sich zukommen. Im hellen Licht des Spätherbstmorgens sah sie strahlend und frisch aus mit ihren blonden Haaren und der hellen Haut. Sie trug eine Daunenjacke in Pistaziengrün, die fröhlich und frühlingshaft wirkte vor den fast kahlen Bäumen und der ausgebrannten Ruine. Ein Anflug von Neid fuhr Henriette Mühlberg wie eine Nadelspitze in die Brust, doch sie riss sich zusammen und lächelte.
»Frau Korittki, was führt Sie an den Ort der Feuersbrunst zurück? Ich dachte, es sind immer nur die Täter, die an den Tatort zurückkehren.«
»Sie sind ja auch hier, wie ich sehe.«
»Was bleibt mir anderes übrig? Ich bestaune die Überreste von dem, was einmal mein Leben war.«
»Das Haus ist wohl nicht mehr zu retten?«
»Nein.« Sie runzelte die Stirn. »Wie geht es Marion?«
»Sie hat alles gestanden, die ganze Geschichte, von Anfang an. Wir brauchen Ihre Version der Ereignisse aber auch noch. Ich wollte Sie mitnehmen ins Kommissariat, um Ihre Aussage aufzunehmen.«
»Mir bleibt wohl nichts erspart, oder?«, fragte sie.
»Nein.«
Die Kommissarin ging in die Hocke und kraulte der Rotgetigerten das Fell. Henriette sah ihr zu.
»Ich verstehe nicht, warum Sie bei all dem mitgemacht haben«, sagte Pia. »Sie hatten doch gar nichts damit zu tun. Warum haben Sie dieses Verbrechen verheimlicht?«
»Ich habe Simon geliebt«, sagte Henriette schlicht.
Pia schwieg.
»Wir waren in Berlin ein Liebespaar. Ein altmodischer Ausdruck, das sagt man heute wohl gar nicht mehr. Ich dachte, wir bleiben zusammen, aber für ihn war es nur ein unbedeutendes Techtelmechtel. Er hat mir das einfach so ins Gesicht gesagt, und auch, dass er und Marion füreinander bestimmt wären. Ich habe mich daraufhin entschlossen, nie wieder jemanden so zu lieben. Das war im Sommer 72, kurz bevor Arnold Plessow unverhofft in Kirchhagen auftauchte. Als ich ihn sah, wusste ich gleich, dass es Ärger geben würde.«
»Inwiefern?«
»Arnold war der Typ Mann, den man früher als Haudegen bezeichnet hätte. Er war nicht dumm, bestimmt nicht, aber wenn Alkohol ins Spiel kam, wurde er zum Primaten. Und er bildete sich ein, dass er Marion Simon ausspannen müsste. Er machte seine Sache auch nicht schlecht. Immerhin war er ein gewandter und gut aussehender Bursche. Marion gefielen seine Avancen ganz ausgezeichnet, aber aus irgendeinem Grund hatte sie es auf Simon abgesehen. Vielleicht war es ihr Traum, die perfekte Arztfrau zu werden … Auf dem Schützenfest muss es dann zum Streit gekommen sein. Zu viel Alkohol, eine Marion, die nicht wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, ein in seiner Ehre gekränkter Simon. Ich bin schon früh nach Hause gegangen an dem Abend. Wohl, um meine Wunden zu lecken, denn Simon beachtete mich überhaupt nicht mehr, und wenn, dann auf diese kumpelhafte Art, die noch verletzender ist, als wenn man ignoriert wird.«
»Ich verstehe.«
»Jedenfalls hörte ich spät in der Nacht draußen Geräusche. Erst ein Auto, dann Schritte, dann, wie sich jemand an meinem Ofen zu schaffen machte. Ich habe Simon einen Riesenschrecken eingejagt, als ich in den Schuppen trat, das Gewehr meines Onkels im Anschlag. Er wollte gerade etwas in den Ofen werfen, ein Bündel, ein weiteres lag auf dem Fußboden. Und dann hat er mir erzählt, was passiert war.«
»Und was hat er Ihnen erzählt?«
»Von einem Kampf zwischen Arnold und ihm. Dass er Marions Ehre retten musste. Als ob es da noch etwas zu retten gegeben hätte! Lächerlich. Aber Arnold war tot, und Simon versuchte, einen Kopf in meinem Ofen zu verbrennen. Arnolds Sachen, die in einem Seesack steckten, sollten danach in den Ofen.«
»Er sprach von Arnold Plessows Kopf?«
»Ich hatte ihn so verstanden, ja. Aber später habe ich das blutige Bündel ausgewickelt und mir dann den Rest der Geschichte zusammengereimt. Es war einfach grauenhaft! Ich habe Simon weggejagt und ihm zu verstehen gegeben, dass er es nicht wagen solle, Arzt zu werden – Mörder und Feigling, der er war. Sonst würde ich alles verraten.«
»Das war Ihre Rache?«
»Ich habe es damals nicht als Rache verstanden. Ich dachte, ich würde ihn schützen vor der Polizei, vor einem Prozess und all dem.«
»Sie haben ihm bestimmt nicht geholfen. Sein Leben scheint nicht gerade glücklich verlaufen zu sein.«
»Ich weiß. Aber Marions auch nicht.«
»Sie wollten sich an Marion rächen?«
Die Mühlberg zuckte mit den Schultern. »Es war eher so, dass ich ihr die Schwierigkeiten gegönnt habe. Sie hat zwar alles bekommen, was sie wollte, aber glücklich war sie trotzdem nicht. Manchmal hat sie mir fast ein bisschen leidgetan.«
»Weil Simon in Depressionen versank?«
»Weil sie dachte, ich hätte den Kopf präpariert und würde ihn als Schrumpfkopf irgendwo aufbewahren. Das muss ihr Albträume verursacht haben, und Simon auch.«
»Was haben Sie denn mit dem Kopf des Toten getan, um Gottes willen? Ihn doch noch verbrannt?«
»Nein. Ich wollte ihn behalten, nur zur Sicherheit. Ich habe ihn im Garten begraben, fast so, wie es sich gehört.«
»Und was hatte es mit dem Schrumpfkopf auf sich, den sie Lisanne Olsen und uns gezeigt haben?«
»Ich hatte ihn von einer meiner ersten Reisen aus Ecuador mitgebracht. Eine Fälschung aus Ziegenhaut natürlich … Ich glaube, das Ding hat Lisanne Olsen das Leben gekostet, und das macht mir sehr zu schaffen, wirklich. Ich war so eitel und froh, endlich mal wieder jemanden beeindrucken zu können, dass ich ihn ihr unter die Nase gehalten habe, als sie mich interviewt hat.«
»Lisanne Olsen dachte, es wäre Arnold Plessows Kopf! Sie hatte das Foto vom Schützenfest gesehen und angefangen, Nachforschungen über den unbekannten Mann anzustellen. Er war kurz nach dem Schützenfest verschwunden.«
»Ich habe ihr aber gesagt, dass der Kopf ein Mitbringsel aus Ecuador ist! Wie ist sie bloß darauf gekommen, dass es Plessows Kopf sein könnte?«
»Wegen der Knochenfunde, Frau Mühlberg. Ein paar Monate vorher waren in Kirchhagen menschliche Knochen gefunden worden, und zwar ohne Kopf. Das hat sie auf die Idee gebracht. Und Lisanne Olsen war auf der Suche nach einer Story, genau genommen nach der Story, die sie als Journalistin bekannt machen würde.«
»Sie war ehrgeizig, das stimmt.«
»Lisanne Olsen hat auch Marion nach dem Foto vom Schützenfest befragt. Immerhin war sie ja mit abgelichtet. Das allein war schon gefährlich, denn Marion musste immer noch befürchten, dass dieses Verbrechen irgendwann herauskommen würde. Was für ein Skandal, in den sie als Bürgermeisterin dann verwickelt worden wäre.«
»Der äußere Schein ging Marion über alles. Sie wollte immer gut dastehen in den Augen der anderen.«
»Aber das allein hat nicht den Ausschlag gegeben. Lisanne Olsen hat Marion Burmeister auch von dem Schrumpfkopf erzählt, den sie bei Ihnen gesehen hat. Darum musste sie nach Marion Burmeisters Ansicht sterben.«
»Es ist grauenhaft«, sagte Henriette Mühlberg, während sie auf die Ruine ihres Hauses starrte. »Das habe ich alles nicht gewollt.«
»Warum hat Marion Burmeister Sie so lange leben lassen, wenn sie doch sonst scheinbar keinerlei Hemmungen hatte, für ihre Ziele Menschen zu töten?«, fragte Pia und blinzelte gegen das Sonnenlicht.
»Ich habe mich geschützt. Ich wusste natürlich, dass Marion, immer wenn ich verreist war, alles versucht hat, um den Kopf zu finden. Sie hat sogar meine Aussteuertruhe durchwühlt, mein Sofa aufgeschlitzt und den Garten umgegraben. Lächerlich! Nach meinem Tod wird mein Nachlassverwalter ein Papier von mir in die Hände bekommen, in dem ich alles erkläre. Das war meine Lebensversicherung, und ich habe es Marion natürlich wissen lassen.«
»Warum hat sie Ihnen dann das Haus über dem Kopf angezündet?«, fragte Pia.
»Sie muss verzweifelt gewesen sein, nachdem sie entdeckt hatte, dass Simon sich das Leben genommen hat. Ich glaube, sie hat ihn doch die ganze Zeit über geliebt, auf ihre Weise … In ihren Augen war alles Unglück allein meine Schuld. Sie wollte mich töten, und das verhasste Haus mit seinem Beweismaterial vernichten. Fast hätte es geklappt …«
»Ja«, sagte Pia leise, »fast hätte es geklappt.«
Langsam gingen sie zum Wagen, den Pia vor dem Eingang abgestellt hatte. Henriettes Fahrrad lehnte an einem Baum.
»Wo wohnen Sie jetzt?«, fragte Pia.
»Im Hotel.«
»In Kirchhagen?«
»Das Leben hält immer wieder Überraschungen bereit. Leo Körting hat mich bei sich aufgenommen. Ich bewohne ein wunderbares Zimmer in seinem Romantik-Hotel. Um diese Jahreszeit sind sowieso nicht viele Gäste da.«
»Das könnte teuer werden.«
»Ach was. Ich bekomme einen Sonderpreis, wenn ich mich ein wenig um seine Schlangen kümmere«, sagte sie forsch. »Ich habe Körting nie besonders leiden können, aber …«
»Aber was?«
»Er scheint ein Herz zu haben. Wissen Sie, was er getan hat? Er hat Gina Arzberg-Wenning, eine seiner Mitstreiterinnen in Sachen Umgehungsstraße, zu Frank Reuter geschickt. Angeblich, um ihm wegen der geplanten Linienführung auf den Zahn zu fühlen. Ich glaube, der Verlauf der Ortsumgehung ist Gina Arzberg-Wenning inzwischen vollkommen egal …«
»Sie ist vorgestern bei Frank Reuter eingezogen. Große Liebe! Leo hat sich köstlich amüsiert, als Anke Loss zum Hotel gefahren kam und auf ihn losgegangen ist. Ausdrücke kennt diese Frau! Sie hat ihn beschuldigt, den armen, unschuldigen Frank Reuter einer Frau auf Männerfang in die Arme getrieben zu haben. Obwohl Anke Loss das Schicksal von Frank Reuter bestimmt herzlich egal ist. Ich vermute, sie erträgt es nur nicht, wenn eine Nachbarin besseren Sex haben könnte als sie.«
»Was für ein Chaos! Mischt sich hier jeder in die Angelegenheiten seiner Nachbarn ein?«
»Das hat Vor- und Nachteile, Frau Korittki, wie alles im Leben. Sie sollten nicht immer gleich schlecht von Ihren Mitmenschen denken«, sagte die Mühlberg in tadelndem Tonfall, »aber das macht der Beruf, nicht wahr?«
»Was hatte es eigentlich mit den Grablichtern auf sich?«, fragte Pia hartnäckig weiter.
»Sehen Sie? Sie können gar nicht anders! Aber woher wissen Sie von den Grablichtern? Hat Marion …«
»Nein. Meta Stoppe hat mir erzählt, dass sie auf dem Grab ihres Vaters mehrmals ausgebrannte Grablichter gefunden hat.«
»Ja, das war ich. Nicht gerade eine meiner ruhmreichsten Taten. Ich habe die Kerzen für Arnold dort angezündet, immer an Allerheiligen, weil er doch aus Paderborn kam und wahrscheinlich katholisch war. Außerdem wusste ich, dass Marions Schlafzimmerfenster zum Friedhof rausging. Sie sollte die Lichter sehen.«
»Warum? Um sie zu terrorisieren?«
»Nein. Damit sie nicht vergisst.«
»Meinen Sie, die Gefahr hat je bestanden?«
»Nein. Aber sie war immer sehr von sich überzeugt. Das hat mich geärgert.«
Pia schloss den Wagen auf und öffnete Henriette Mühlberg wortlos die Beifahrertür. Sie stiegen ein. Als der Wagen langsam die Tiefe Trift hinunterfuhr, drehte sich Henriette Mühlberg noch einmal um. Hinter ihr hob sich der rauchgeschwärzte Turm ihres Hauses wie ein Mahnmal vom hellblauen Herbsthimmel ab.