Kapitel 4

 

Forschungseinrichtung CERN
Genf, Schweiz
Am selben Tag, 14:18 Uhr Ortszeit

 

Ásbjörn Bosshart war einer der leitenden Wissenschaftler des Schweizer CERN-Laboratoriums, wo man mithilfe eines Teilchenbeschleunigers versuchte, hinter den Ursprung jener Kräfte zu kommen, die für den Urknall und die Geburt des Universums verantwortlich waren.

Als einer der führenden Techniker war Bosshart von durchschnittlicher Körpergröße, zu dessen wesentlichsten Merkmalen sein buschiges Haar, welches seine Stirnglatze umgab, und seine obsidianschwarzen Augen gehörten, die keine Pupillen zu besitzen schienen und immer die Farbe von Mitternacht trugen. Und trotz seines wissenschaftlichen Rufs wirkte Ásbjörn Bosshart immer etwas ungepflegt in seinen schlecht sitzenden und stets zerknitterten Kleidungsstücken.

Etwa drei Stunden vor Ende seiner Schicht befand sich Bosshart mit einem Koffer auf dem Weg zur Sicherheitsstation. Der Mann schien kränklich blass, beinahe grau im Gesicht, und die Schweißflecken auf seinem Hemd, unter seinen Achselhöhlen und am Rücken, unidentifizierbare nasse Formen, erinnerten an Rohrschach-Flecken. Als er sich der Station des Wachmannes näherte, fuhr er sich mit einer Zunge so trocken wie ein Teppich über noch trockenere Lippen.

Der Wachmann begrüßte Bosshart mit einem Grinsen, dann sah er auf die Uhr. Eigentlich für seine Überstunden bekannt, verließ Ásbjörn Bosshart drei Minuten vor Ende seiner Schicht die Einrichtung, was ungewöhnlich für ihn war, verbrachte er doch normalerweise im CERN mehr Zeit als zu Hause. Der Wachmann, ein hochgewachsener, schlanker Mann, bedachte Bosshart mit einem Nicken. »Doktor«, sagte er. »Heute geht es aber früh nach Hause, oder?«

Seine Bemerkung war als scherzhafte Bemerkung gedacht, aber dann bemerkte der Wachmann Bossharts blasse Gesichtsfarbe und den Schweiß, der ihm von der Stirn rann. Er neigte prüfend den Kopf zur Seite und fragte: »Geht es Ihnen gut, Doktor Bosshart?«

Bosshart schluckte und versuchte erneut erfolglos, seine Lippen mit seiner Zunge zu befeuchten. »Ich fürchte, ich habe etwas Falsches gegessen und nicht vertragen«, erklärte er.

»Sie sehen auch nicht gut aus.«

»Bitte«, sagte Bosshart, »ich möchte schnell einen Arzt aufsuchen.« Er hielt dem Wachmann seinen Koffer hin, der ihn entgegennahm, ihn auf den Tisch legte und die Verschlüsse öffnete.

Darin befanden sich ein paar Dokumente und eine Thermoskanne. Als der Wachmann diese prüfend schüttelte, sog Bosshart kurz die Luft durch die Vorderzähne ein, was ein leises, pfeifendes Geräusch verursachte.

Der Wachmann sah ihn an. »Stimmt etwas nicht, Doktor?«

Bosshart schüttelte zu hastig den Kopf, was den Wachmann noch misstrauischer werden ließ. »Mir geht es gut.« Dann deutete er auf den Thermobehälter. »Bitte, tun Sie Ihre Arbeit. Ich muss gehen.«

Ásbjörn Bosshart war eigentlich ein geselliger Mann, stets freundlich und hatte immer einen trockenen Witz auf den Lippen, den zumeist nur er selbst witzig fand. Aber dieser Ásbjörn Bosshart hier war kurz angebunden und abweisend.

Der Wachmann schüttelte erneut die Thermosflasche, was die Sorgenfalten in Bossharts Gesicht noch vertiefte. Dann fragte er, die Flasche in der Hand haltend: »Gibt es etwas, das ich wissen sollte, Doktor?«

»Meine Güte, mir ist schlecht. Ich möchte zu einem Arzt, um herauszufinden, was mit mir los ist.«

Der Wachmann nickte. »Natürlich.« Dann begann er, den Deckel der Thermosflasche aufzuschrauben, während er dabei Bossharts Reaktion beobachte, der bei jeder Drehung zusammenzuzucken schien. Nachdem er die Kappe abgeschraubt hatte, sah er hinein. Die Flasche war trocken und leer. Er schraubte die Kappe wieder auf die Flasche, legte sie in den Koffer, schloss ihn und klappte die Verschlüsse zu. Als er damit fertig war, winkte er Bosshart durch den Metalldetektor, den dieser ohne ihn auszulösen passierte.

Der Wachmann reichte ihm den Koffer und sagte: »Ich hoffe, es geht Ihnen bald wieder besser, Doktor.«

Bosshart nahm ihm wortlos den Koffer ab und verließ die CERN-Forschungseinrichtung mit den eiligen Schritten eines Mannes, der ein Ziel zu haben schien.