Lagerhaus 47
Am Rand vom Zürich, Schweiz
Yeong Che arbeitete als Topagent für das im Verborgenen operierende ›Generalbüro für Aufklärung‹, dem nordkoreanischen Geheimdienst, der formell dem Militär unterstellt war, aber oft mit der Trainingseinheit für Agenten, genannt ›Büro 35‹, in Verbindung gebracht wurde.
Seine Aufgaben bestanden hauptsächlich darin, Geheimoperationen für das Wohl Nordkoreas und Kim Jong-un zu planen und durchzuführen, die von militanten Elementen durchgeführt wurden. Dieser Tag aber markierte den letzten Tag der Operation ›Herrschaft des Zepters‹.
Nach seiner Unterhaltung mit Bosshart legte er das Tablet beiseite, nahm sich die Skimaske ab und warf sie oben auf das Gerät. Hinter sich konnte er das Schluchzen von Bossharts Frau und seiner Tochter hören, das sich jedoch mehr nach einem Schluckauf anhörte. Dann schrie er sie an, damit aufzuhören, was sie zumindest zu einem gewissen Grad auch taten. Die Geräusche verebbten zu einem leisen, verzweifelten Jammern.
Che, der mit einem schwarzen Overall bekleidet war, lief zu den Gefangenen und blickte zu ihnen hinab. »Seht mich an«, forderte er im Tonfall eines drakonischen Kommandanten.
Das taten sie, mit von den vielen Tränen rotgeweinten Augen, die schließlich auf den Mann mit mandelförmigen Augen und hohen Wangenknochen fielen. Seine Lippen waren schmal, eine grimmige Linie, die sich, wenn er sprach, nur wenig öffnete und dabei zwei Reihen wie mit dem Lineal gezogener Zähne offenbarte. Und trotz seines barschen Tons blieb sein Gesichtsausdruck neutral, und seine schlanke Statur zeugte von den Jahren militärischen Trainings.
»Ihr Ehemann hat bewundernswerte Arbeit bei der Beschaffung dessen geleistet, worum wir ihn gebeten haben«, ließ er sie wissen. »Sobald wir im Besitz der Materialien sind, die er aus dem CERN veruntreute, werden wir Sie wie versprochen freilassen.«
Bossharts Frau, deren Augen immer leicht zugekniffen wirkten, sah zu ihm auf und flehte: »Bitte, tun Sie uns nicht weh.«
Es war ihr Mantra gewesen, seit sie sie in Genf in ihre Gewalt gebracht hatten: Bitte, tun Sie uns nicht weh . Sechs Worte, deren unablässige Wiederholung ihm zunehmend auf die Nerven ging. Chen, der sich eine giftige Antwort verkniff, drehte sich um und lief mit hinter dem Rücken verschränkten Händen davon.
Chen folgte gedankenverloren und von seinen Instinkten geleitet den verschlungenen Korridoren des Lagerhauses. Er hatte sich bis zu einem führenden Mitglied des ›Büros 35‹ hochgearbeitet. Die Informationen, die er als Agent auf dem Gebiet der Spionage nicht nur in Missionen in Südkorea, sondern von deren bekanntesten Verbündeten wie den Vereinigten Staaten erbeutet hatte, waren auch mit China und Russland geteilt worden. Nun, wo Kim Jong-un das Kommando über den Geheimdienst und das ›Büro 35‹ besaß, ließ Nordkorea seine Muskeln auf dem Gebiet der Spionage spielen, um das Land zu größeren Weihen zu führen. Und die Operation ›Herrschaft des Zepters‹ war ihr bislang größtes Unterfangen. Die Dinge, die Ásbjörn Bosshart herstellte, erforschte und kontrollierte, wurden für die Implementierung in militärische Anwendungen benötigt. Und wer dieses besondere Element kontrollierte, so hieß es, kontrollierte auch das Zepter. Yeong Che stand nun kurz davor, eine Macht zu besitzen, die der des Dreizacks des Poseidon gleich kam, eine Macht, die die Welt verändern konnte.
Alles, was er jetzt noch tun musste, war, sie Ásbjörn Bosshart abzunehmen, einem schwächlichen Mann mit dem Verstand eines Giganten. Wenn Che die Macht, Welten zu zerstören, endlich in seiner Hand hielt, würde er Bosshart und seine Familie an die Entscheider innerhalb des Kim-Jong-Un-Regimes überstellen, die Bossharts Verstand weiter ausbeuten würden, so lange, bis man alles aus ihm herausgequetscht und alles bis ins kleinste Detail verstanden haben würde. Danach würde Ásbjörn Bosshart spurlos verschwinden.
In einem Raum im Inneren des Lagerhauses, hinter Wänden aus dickem Glas und mit Maschendraht verstärkt, standen Mitglieder der Militäreinheit des Generalbüros und legten ihre Kampfkleidung an. Die Teammitglieder überprüften die an ihren Kevlarhelmen angebrachten Nachtsichtgeräte, unter denen sich ein halbrund gebogenes, gelbliches Plastiksichtfenster befand. Ihre Uniformen erinnerten aufgrund der eigens dafür entworfenen Schienbein- und Unterarmschoner an ›Robocop‹.
Als Che den Raum betrat, nahmen die Mitglieder sofort Haltung an, nachdem der zweite Befehlshaber der Einheit den entsprechenden Befehl gebrüllt hatte. Chen gab ihnen ein Zeichen, sich wieder zu rühren.
Er lief zu seinem zweiten Befehlshaber, Kwan Ma, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Bosshart hat die Elemente beschafft«, ließ er ihn wissen.
»Alles?«
»Alles, worum wir ihn gebeten hatten.«
Ma nickte. »Wir treffen gerade die letzten Vorbereitungen. Das Team wird in zwanzig Minuten startklar sein.«
Che ließ seinen Blick über die Ausrüstung schweifen, die man ihm über einige der Kisten verteilt bereitgelegt hatte: ein Kevlar-Helm, Kleidungsstücke mit Protektoren, ein Kampfmesser, welches jenes, das sich bereits in seinem Besitz befand, komplettieren würde, und eine MP7.
Dann wandte er sich wieder Ma zu. »Er befindet sich in diesem Augenblick in einem Zug«, erklärte er, »der jeden Moment seinen Bahnhof verlassen wird. Er sitzt in Abteil G-22 und wurde instruiert, sich dort so lange aufzuhalten, bis er seinen Zielort erreicht hat.«
Ma nickte.
»Die Türen des Zugs sind während der Fahrt verriegelt. Deshalb müssen wir zuerst das Haupt-Smart-Panel im vorderen Teil des Zuges außer Kraft setzen, um die Verriegelungen zu entsperren und damit vollen Zugriff auf den Zug zu erhalten. Aber um das zu schaffen, braucht es zwei Dinge. Sobald wir auf dem Dach landen, müssen wir zuerst die Telekommunikationseinheiten auf den Zügen deaktivieren. Diese arbeiten unabhängig von dem Haupt-Panel. Wenn das geschafft ist, können wir in den Zug über die Wartungsluken entern, die in die Wartungsräume darunter führen, und uns von dort aus zu dem Smart-Panel bewegen, um das Programm zu deaktivieren. Wenn die Programmierung der Türverriegelung überschrieben wurde, werden wir binnen weniger Minuten imstande sein, den Zug in unsere Hand zu bringen.« Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Wir haben uns lange auf diesen Moment vorbereitet, Ma, und dürfen uns keinen Fehler erlauben. Zu scheitern würde bedeuten, Kim Jong-un und ganz Nordkorea zu enttäuschen. Und wir beide wissen, was das bedeutet.«
Es hing immer von der Art des Scheiterns ab, überlegte Ma. Manchmal zog es den Tod nach sich, manchmal harte Arbeit in Arbeitslagern, als mahnendes Beispiel an die anderen, dass Scheitern nie belohnt wurde, egal, welchen Rang man in den Hierarchien des nordkoreanischen Regimes innehatte. In keinem Fall aber war der Ausgang erstrebenswert.
»Wir werden nicht scheitern«, versicherte er Che. »Wir haben dieses Szenario so oft geübt, bis wir die Abläufe im Schlaf beherrschen würden.«
Und das stimmte. In Nordkorea hatten sie eigens dafür ein Testgelände errichtet, um die Operation so lange einzustudieren, bis sich jede Bewegung und Handlung tief in ihren Verstand eingebrannt hatte und jeder Muskel nur noch aus Instinkt heraus agierte. Ihnen würde keine Zeit bleiben, um nachzudenken, sondern nur, um jedem möglichen Widerstand mit Gewalt zu begegnen.
Dann fügte Ma noch hinzu: »Wir werden deinem Kommando folgen, Che. Ich vertraue dir. Das ganze Team vertraut dir. Fünf Minuten rein, fünf Minuten wieder raus. Zehn Minuten insgesamt, um unser Ziel zu erreichen. Morgen schon wird uns Kim Jong-un danken.«
Che lächelte ein wenig. »Es ist gut, zuversichtlich zu sein, Ma. Aber es ist nie ratsam, zu optimistisch zu sein. Haltet die Augen und Ohren nach etwas Ungeplantem offen. Pläne mögen auf dem Papier perfekt erscheinen, aber es kommt immer etwas dazwischen.«
Nun war es Ma, der lächelte. »Entspann dich, Che. Wir reden hier über einen Mann in einem Zug voller Menschen, die keinerlei militärische Ausbildung genossen haben. Überhaupt keine. Sollte einer von ihnen beschließen, einzugreifen, werden wir uns entsprechend um ihn kümmern. Zehn Minuten, Che, dann wird alles vorbei sein.«
Zehn Minuten , dachte Che. Es hörte sich so einfach an. Ein Kampfszenario, das bis zur Perfektion einstudiert worden war, mit jedem möglichen Twist, um darauf entsprechend reagieren zu können. Aber Yeong Che war mehr als nur ein erfahrener Soldat und Geheimagent. Seine Kampfinstinkte waren in einem Maße geschärft worden, dass manch einer sie Paranoia genannt hätte. In seinem Hinterkopf lauerte immer eine gewisse Vorsicht, eine Warnung, dass nie etwas nach Plan verlief. Aber alles, was sein Team benötigte, waren zehn Minuten Perfektion.
Zehn … Minuten.
Und doch nagten Zweifel an ihm, die unablässige Warnung, dass sie nicht gut genug vorbereitet waren. Wieder und wieder hatten sie das Szenario einstudiert und sich durch Unvorhergesehenes wie Ladehemmungen, Fehltritte oder neue Wendungen gearbeitet und waren stets siegreich gewesen, ganz egal, welche Widrigkeiten man ihnen in den Weg stellte.
Aber dieses Mal …
Che ließ den Gedanken in der Luft hängen. Ma unterbrach ihn und hieb ihm auf die Schulter.
»Du bist ein guter Soldat, Che. Du hast für jede Eventualität vorgesorgt. Ich sehe es deinen Augen an, dass du deinem Team nicht völlig vertraust.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte er. »Diese Einheit gehört zu den besten der Besten. Das weiß ich.«
»Aber?«
Che schüttelte etwas den Kopf, als wollte er damit das ungute Gefühl vertreiben, dass nicht alles in bester Ordnung war. »Nur das Bauchgefühl eines Soldaten, dass wir etwas übersehen haben.«
»Che, nichts kann völlig geplant oder vollständig umgesetzt werden. Wir können allenfalls annähernd Perfektion erwarten. Aber das wird genügen, um unser Ziel zu erreichen.«
Che erkannte, dass Ma recht hatte. Was Ma jedoch nicht verstand, war, dass man sich manchmal Mächten gegenübersah, die man nicht überwinden konnte. Mächte, die sich nicht dem Handeln anderer beugen würden.
Und was keiner der beiden Männer ahnte, war ein bevorstehender Kampf gegen einen mächtigen Gegner, der nicht selten eine Spur aus Leichen nach sich zog, die sich meilenweit erstreckte.
An Bord dieses Zuges sollte sich noch etwas anderes als ein unterwürfiger Wissenschaftler befinden, der das Geheimnis der Weltherrschaft mit sich führte. An Bord des Zuges würde sich eine gefährliche Person befinden, mit der keiner von ihnen rechnete.
Ein einziger Mann, der in der Dunkelheit lebte, um dem Licht zu dienen.
Ein Mann, von dem es hieß, dass er immer dann, wenn Unrecht geschah, aus den Schatten des Petersdoms trat, um dieses zu berichtigen. Ein Mann, den einige für einen Engel, andere für einen Dämon hielten.
Und der Name dieses Mannes lautete Kimball Hayden.