Bahnhof Genf
Genf, Schweiz
»Warten Sie … was sagten Sie da?« Kimball schien völlig verwirrt angesichts der Bemerkung des alten Mannes zu sein. Frederik Becher tätschelte die Akte vor sich.
»Das ist meine Akte«, erklärte er Kimball. »Die Geschichte meines Lebens, die auf vielerlei Art Ihrer sehr ähnlich ist.« Dann fuhr seine Hand zu einem Foto neben der Akte, seinem einzigen Besitz, und er hob es an, damit Kimball es betrachten konnte. Das Foto war über die Jahre vergilbt, die Ränder eingerissen. Die Aufnahme selbst aber war noch gut zu erkennen – Aufnahme des jungen Frederik Becher in einer Naziuniform und mit einem Gewehr in der Hand. Vor ihm stand ein junges jüdisches Mädchen mit kohlrabenschwarzem Haar und ausnehmend schönen Gesichtszügen – obwohl sie eine trotzige Pose einzunehmen schien – die man gezwungen hatte, die gestreifte Kleidung der Auschwitzer Gefangenen zu tragen.
»Ihr Name war Ayana Berkowitz«, fuhr Becher fort. »Sie wurde meine Offenbarung. Ich, ein Deutscher, der ein Nazi geworden war, verliebte mich in eine Jüdin. Eine Sünde, die uns beide zum Tod verdammt hätte, wenn die Wahrheit herausgekommen wäre.« Becher legte das Foto beiseite. »Als Jüngling, der in Hitlers Jungvolk aufgewachsen war und dann Mitglied der Hitlerjugend wurde, brachte man uns bei, die Juden zu hassen und sie als minderwertig anzusehen, als Volk eines niederen Gottes.«
»Und?«
»Als ich sah, wie sie die Tore von Auschwitz passierte, musste ich mitansehen, wie Mengele ihre Familie in die Gaskammern schickte, Ayana aber verschonte. Vielleicht sah er die gleiche Stärke und atemberaubende Schönheit in ihr wie ich … und verschonte sie deshalb.«
Kimball sah, wie Bechers Unterkiefer zu beben begann, als wäre er kurz davor, aufgrund der Erinnerungen einen emotionalen Zusammenbruch zu erleiden, aber dann fing er sich wieder.
»Mit der Zeit lernte ich sie besser kennen und verliebte mich in sie. Sie war mein erster Gedanke, wenn ich morgens erwachte, und der letzte in der Nacht, bevor ich einschlief. Sie bedeutete mir alles. Also begann ich, ihr heimlich Essen zuzustecken, etwas Brot oder eine Kartoffel, damit sie nicht verhungerte. Später fand ich heraus, dass sie es mit anderen teilte, um deren Leben zu retten. Aber das störte mich nicht, denn in meinen Augen konnte sie nichts falsch machen.«
»Kam Ihnen nie der Gedanke, dass sie Sie vielleicht nur ausnutzte?«
Becher nickte. »Doch, anfangs schon. Aber bei Ayana war das nicht der Fall. Sie war so schön, wie sie mutig war, und sie scheute sich nie, die Dinge beim Namen zu nennen. Ihr Mut überstieg den vieler anderer, und sie fürchtete nie die Konsequenzen. Sie half denen, die sich nicht selbst helfen konnten. Und bis zu ihrer Befreiung aus Auschwitz blieb Ayana stets freundlich und stark und vor allem … loyal.« Bechers Augen bekamen plötzlich einen abwesenden Blick, als würde er seine Erinnerungen wie einen Film an der Wand hinter Kimball ablaufen sehen. Einen Moment darauf sagte er: »Aber erst, als ich sie kennenlernte, wurde mir klar, dass alles, was ich im Jungvolk und der Hitlerjugend beigebracht bekam, eine Lüge war.«
»Aber was hat das mit mir zu tun und damit, ein Vatikanritter zu werden?«
Becher hob seinen Zeigefinger und bedeutete Kimball damit zu schweigen. »Bevor die russischen Truppen Auschwitz befreiten, war ich immer noch ein Soldat, der die Befehle seiner Vorgesetzten zu befolgen hatte, egal, wie verabscheuungswürdig diese auch sein mochten.«
Kimball horchte auf.
»Eines Tages im Dezember wurde mir befohlen, vor den Augen meiner lieblichen Ayana einen Juden aus der Reihe beim Morgenappell zu zerren und vor den anderen zu erschießen, als Zeichen unserer Macht.«
»Und?«
»Ich konnte sehen, wie Ayana mich musterte, sich fragte, ob ich ihre Stärke besaß, mich gegen das, woran ich nicht mehr glaubte, aufzulehnen.« Becher schloss die Augen, um gegen die in ihm aufsteigenden Tränen anzukämpfen. »Und ich enttäuschte sie. Ich enttäuschte mich selbst«, sagte er. »Ich tat, was man mir befahl. Ich ließ den Mann wie befohlen aus der Reihe heraustreten. Dann zwang ich ihn in die Knie und zog meine Pistole. Ich zielte mit dem Lauf auf seine Stirn … und konnte Ayanas Blick auf mir spüren, wie sie darauf wartete, das Maß meines Mutes zu erkennen.«
Becher öffnete seine Augen, die nun rotgerändert waren.
Kimball wartete geduldig, auch wenn er das innerlich nicht war.
»Und dann sah ich in die Augen des jungen Mannes. Er war nicht älter als ich, erst siebzehn. Wahrscheinlich hatte er noch nie seine Hand gegenüber einem anderen Menschen erhoben. Vielleicht war er ein freundlicher, gütiger Mensch. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur, dass seine Augen voller Unschuld waren.«
»Und, was haben Sie getan?«
»Ich erschoss ihn«, sagte Becher. »Ich drückte den Abzug … und sah zu, wie von Zauberhand ein Loch in seiner Stirn erschien.«
Kimball betrachtete den Mann völlig vorurteilsfrei, weil er diesen Moment unter ganz ähnlichen Umständen schon selbst durchlebt hatte. Er hatte ebenfalls ohne Reue getötet, wenn auch unter anderer Flagge und zu anderen Zeiten.
»Als ich wieder aufsah und zu Ayana blickte, merkte ich, dass sie mich anders ansah. Enttäuschung lag in ihrem Blick, und dieser Blick, Kimball, tötete mich wieder und wieder. Der Schmerz war einfach zu groß. In den folgenden Tagen strafte sie mich mit Gleichgültigkeit, distanzierte sich von mir, sprach nur dann, wenn sie etwas gefragt wurde, und behandelte mich wie jeden anderen Soldaten in dem Lager, mit der gleichen unterschwelligen Abscheu.«
»Und das war Ihr Moment der Erleuchtung?«
Becher nickte. »So wie bei Ihnen, als Sie diese beiden Jungen im Irak töteten, die Ihre Mission hätten verraten können. Eine Situation, die Ihnen die Augen öffnete und Ihnen deutlich machte, dass sich von nun an Ihr Leben verändern würde – die Sie auf den Weg der Suche nach Erlösung schickte, ob nun religiöser oder anderer Natur.«
»Was führte Sie dann in den Vatikan?«
»Ich gab Ayana, die mich nicht mehr in ihrem Herzen trug, ein Versprechen. Ich versprach ihr, dass ich mich ändern würde. Ich versprach ihr, dass ich mir eher eine Kugel in den Kopf jagen würde, als so etwas noch einmal jemand anderem anzutun, selbst wenn ich den Befehl dafür bekommen würde. Aber ich konnte in ihren Augen sehen, dass das nicht reichen würde. Also ergriff ich eines Nachts die Flucht. Allein darauf stand die Todesstrafe. Andere Soldaten hatten das Gleiche getan, als sie die von ihnen begangenen Gräueltaten nicht mehr ertrugen. Aber sie wurden von den Hunden gejagt und endeten vor einem Erschießungskommando, als warnendes Beispiel für andere.«
Kimball sah aus dem Fenster, wo sich der Bahnsteig langsam leerte, als die letzten Passagiere den Zug bestiegen. Dann wandte er sich wieder Becher zu, dessen Blick noch immer seltsam leer schien, als würde er in eine andere Zeit sehen.
Dann fuhr er fort. »Und so ergriff ich eines Nachts die Flucht, nachdem ich Ayana versprochen hatte, zu ihr zurückzukehren. Ich versprach ihr, der Welt über diese Lager zu berichten und dann Hilfe zu holen, um sie und die anderen zu befreien.«
Kimball erkannte, dass dieser Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, nicht mehr als das klägliche Bemühen einer Person basierend auf seiner angeblichen Liebe zu einem anderen Menschen, das Versprechen der Errettung einer geliebten Person, die jenseits der eigenen Möglichkeiten lag, auch wenn die Absicht dahinter durchaus nobel war.
»Nachdem ich mir ein kleines Säckchen mit Juckpulver gefüllt hatte, welches ich aus Ahornsamen gewann«, fuhr Becher fort, »bedeckte ich damit den Boden, um meine Spuren zu verwischen. Die Hunde, nachdem sie an meiner Fährte geschnüffelt hatten, wurden von dem Pulver außer Gefecht gesetzt. Es vernebelte ihnen die Sinne. Und ich lief weiter. Alles, woran ich mich noch erinnern kann, ist, dass es kalt und ich hungrig war. Das Wetter machte mir zu schaffen, als versuchte es, mich zum Aufgeben zu überreden. Ich aber erinnerte mich an meine Ayana – an ihr hübsches Gesicht, ihr Lächeln. Aber am meisten haftete mir im Gedächtnis, dass sie weiter unter diesen furchtbaren Bedingungen in Auschwitz leben musste. Also trieb ich mich weiter an, indem ich tief in mich hinein horchte und dort eine Willensstärke vorfand, von der ich keine Ahnung hatte, dass ich sie besaß. Aber sie existierte.«
Er sah Kimball an, bis sich ihre Blicke trafen, und nun schien der Mann nicht mehr an einem weit entfernten Ort zu weilen. »Aber so schnell und so weit ich auch rannte – schließlich entdeckte mich eine Nazi-Patrouille. Sie wussten, dass ich geflohen war. Und dann, Kimball, traf mich eine Kugel in die Schulter. Tagelang rannte ich weiter, mit Schmerzen. Und ich redete mit Ayana, ohne zu merken, dass mich bereits ein Fieber gepackt hatte. Sie sagte mir, dass ich weiterlaufen soll, dass mein Schicksal beinahe erfüllt sei. Und so schleppte ich mich weiter, bis mich das Fieber schließlich an der Schwelle einer Kirche zusammenbrechen ließ. Als ich irgendwann den Kopf drehte, erblickte ich einen jungen Mann etwa in meinem Alter, etwa siebzehn Jahre alt, im Gewand eines Priesters. Er gab mir Kleidung, etwas zu essen, Obdach und Wasser. Und er kümmerte sich um mich, bis das Fieber abklang. Mit der Zeit wurde er wie ein Bruder für mich. Und dieser Mann, der mich rettete, Kimball, der Mann, der mir eine zweite Chance im Auge Gottes bot, der Mann, der in mir das Gute sah, so wie er es auch in Ihnen sah, war Bonasero Vessucci, der Vater der Ritter des Vatikan.«