Bahnhof Genf
Genf, Schweiz
»Bonasero Vessucci wurde an diesem Tag zu meinem Retter«, informierte Becher Kimball. »Und mit der Zeit wurde er auch zum Retter meines Lebens, so wie er auch Ihrer wurde.«
Kimball erinnerte sich an den Moment, als er Bonasero das erste Mal in einer kleinen Bar in Venedig traf. Er war damals noch ein Kardinal gewesen. Ohne dazu eingeladen worden zu sein, hatte er sich Kimball gegenübergesetzt und dem ehemaligen Attentäter das Angebot unterbreitet, die Erlösung für seine Sünden zu suchen. Kimball hatte eingewilligt. Aber die Reise ins Licht der Vergebung war schwer gewesen, denn Kimball hatte sich nie ganz dem reinigenden Licht hingeben können. Er blieb stets das Bindeglied zwischen Heiligem und Sünder, bewegte sich in den Graubereichen.
Aber was immer an dunklen Dingen Kimball in seinem Leben auch widerfuhr, Bonasero war immer da, um ihn aufzurichten, wenn ihm der Wille dazu fehlte. Bonasero war ihm immer ein Leitstern gewesen, eine Stütze, und nun war er von ihnen gegangen und hatte in Kimball eine Leere hinterlassen, die sich nie mehr füllen ließ.
»Damals war Bonasero erst siebzehn Jahre alt gewesen«, erklärte Becher. »Aber bereits da war er ein vielversprechender Mann. Die Kirche hatte zu dieser Zeit noch mit den Auswirkungen des Krieges zu kämpfen, aber Bonasero arbeitete sich schrittweise nach oben, wurde ein Kardinal und dann schließlich Papst. Als ich blutend auf seiner Türschwelle auftauchte, erzählte ich ihm von dem Lager. Den Gräueltaten, die sich dort abgespielt hatten. Und ich erzählte ihm von Ayana, dem jüdischen Mädchen, das so viel Mut und innere Stärke besaß, wie ich nur hoffen konnte, es selbst einmal zu besitzen.«
An diesem Moment zögerte Becher und musste einen Kloß in seinem Hals herunterschlucken. Einen Moment später, als er sich wieder gefangen hatte, fuhr er fort. »Später, als ich wusste, dass mich Bonasero nicht für die Dinge verdammen würde, die ich getan hatte, gestand ich ihm alles. Ich erzählte ihm von den Juden, die ich getötet hatte, und von denen Ayana nichts wusste. Ich erzählte ihm von dem Blick in ihren Augen, wenn ich ihnen am Galgen die Bank unter den Füßen wegtrat … oder wie ich anderen befahl, die Leichen in den Öfen zu verbrennen.« Seiner Mimik schien die Beherrschung verloren zu gehen. Die Gefühle schienen ihn erneut übermannen zu wollen, ausgelöst von Gedanken an eine grässliche Vergangenheit, deren Bilder er nie vergessen würde.
»Ist schon okay«, versicherte ihm Kimball.
Becher nickte und sprach weiter. »Dann erzählte ich ihm, wie der Boden zu einem Mantel aus grauer Asche wurde, und von den zahllosen Urnen, die in den Kellergeschossen der Ziegelgebäude aufbewahrt wurden. Ich erzählte ihm alles. Und wissen Sie, was er daraufhin tat?«
Kimball wusste es. »Er verzieh Ihnen.«
»So wie Ihnen. Sehen Sie, Kimball, wir beide sind uns in vielen Dingen sehr ähnlich. Wir beide suchen nach dem Licht, um die Sünden unserer Vergangenheit vergeben zu bekommen. Und wir beide fragen uns, ob das, was wir getan haben, genügt, um dieses Recht zu erhalten.«
In diesem Moment ging ein Ruck durch den Zug, als dieser anfuhr, sich langsam von dem Bahnsteig entfernte und seine Reise gen Süden nach Rom begann.
Becher sah aus dem Fenster. In seinen Augen schimmerten Tränen.
»Und wie wurden Sie zu einem Ritter des Vatikan?«, hakte Kimball leise nach.
Becher bedachte ihn mit einem Lächeln. Das schien eine schöne Erinnerung zu sein. »Ich erzählte Bonasero, dass die Juden in diesem Lager gute Menschen waren, die sich nicht selbst helfen konnten. Ich erzählte ihm, dass ich bereit wäre, zurückzugehen, um Ayana und die anderen zu befreien. Bonasero hörte mir mit der Geduld eines Heiligen zu, während ich wie ein Kind schluchzte. Und er willigte ein. Er erklärte mir, dass selbst Gott der Ansicht sei, dass gute Menschen ein Recht haben sollten, sich selbst zu beschützen … oder dass es guter Menschen bedürfe, jene zu beschützen, die dazu nicht selbst in der Lage wären. Und auch Papst Pius stimmte dem Plan zu, denn er verabscheute Hitlerdeutschland.«
»Und so wurden Sie zum ersten päpstlichen Streiter.«
Becher nickte. »Um für das Gute jenseits der Grenzen der Vatikanstadt zu kämpfen. Ich wurde zum Kommandeur der ersten Einheit, die sich aus einem Dutzend Mitglieder der Schweizergarde zusammensetzte. Ich trainierte hart, trieb mich an. Aber trotz der vielen Stunden, die wir in unsere Ausbildung steckten, waren wir noch weit davon entfernt, eine Eliteeinheit zu sein. Als wir bereit waren, eine Mission in Auschwitz durchzuführen, war das Lager bereits von den Russen befreit worden. Wir brachen trotzdem auf, weil vielleicht noch jemand unsere Hilfe benötigen würde. Aber das Lager war verlassen und Ayana verschwunden.«
»Haben Sie sie je wiedergesehen?«
Becher nahm wieder das Foto in die Hand. Ein jüdisches Mädchen und ein Nazi-Soldat, verliebt und verdammt von einer Kultur, die knietief in Hass watete. »Nein«, sagte er schließlich. »Nie wieder. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt.« Dann sah er Kimball an und rang sich ein schmales Lächeln ab. »Aber vielleicht werden wir bald wieder vereint sein?«
Glauben Sie wirklich, das Recht dafür erworben zu haben? , wollte Kimball ihn am liebsten fragen.
Aber Becher schien die Frage zu erahnen. »Ja, ich glaube, dass ich als Vatikanritter genug getan habe, um ins Licht gehen zu können. Und ich glaube fest daran, dass meine Ayana dort auf mich warten wird.«
Kimball wollte ihm gern glauben, aber er spürte, dass Becher selbst nicht völlig von seinem Glauben überzeugt war. Er sah, dass der alte Mann noch immer Zweifel hegte, dass seine Vergangenheit, so wie die Kimballs, vergeben werden könnte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen beide Männer das Töten genossen hatten, und vielleicht war das in den Augen Gottes eine unverzeihliche Sünde.
»Nun«, sagte Becher und lächelte, »zumindest werden meine Fragen über das Wesen des Jenseits bald beantwortet werden. Dunkelheit oder Licht. Ich wählte meinen Weg und blieb ihm treu, Kimball. Und nun ist es an Ihnen zu glauben, dass der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ebenfalls der Weg der Rechtschaffenheit ist. Glauben Sie daran, Kimball, und empfangen Sie das Licht.«
»Leichter gesagt als getan«, antwortete Kimball. »Als Sie ein Vatikanritter wurden, blieben Sie auf Ihrem Kurs und befolgten die Richtlinien. Das tat ich nie. Stets umging ich die Einsatzregeln, weil ich die Dinge anders sah.«
»Wie das?«
Kimball beugte sich nach vorn, als würde er ihm ein Geheimnis verraten wollen. »Weil ich meine eigenen Regeln habe«, erklärte er ihm.
»Und die wären?«
»Ich töte Menschen. Das ist es, was ich tue. Was ich kann.«
Stille senkte sich über sie, eine Pause, die schließlich von Kimball wieder gebrochen wurde.
»Manchmal ist das Böse am Ende einer Mission noch nicht ausgemerzt worden«, fuhr er fort. »Wie ich schon sagte, einen Teil des Krebsgeschwürs herauszuschneiden, löst nicht immer das Problem. Manchmal kehrt der Krebs zurück. Wuchert, und dann ist das Problem wieder da. Ich sorge dafür, dass dies nicht geschieht. Denn wozu sonst all die Mühe?«
»Und genau das, Kimball, ist etwas, das uns unterscheidet. Die Fähigkeit, die Regeln des Vatikan zu missachten und sich damit selbst zu verdammen.«
Kimball lehnte sich zurück. »So ticke ich nun einmal.«
»Und weil Sie so ticken , glauben Sie, Sie könnten sich nicht ändern. Und wenn Sie sich nicht ändern, wird Ihnen die Erlösung auf ewig versagt bleiben. Habe ich recht?«
Kimball schwieg.
»Aber das ist falsch«, sagte Becher. »Glauben Sie an Bonaseros Worte: Selbst Gott ist der Ansicht, dass gute Menschen ein Recht haben sollten, sich selbst zu beschützen. Manchmal, Kimball, muss man sich der Dunkelheit andienen, um dem Licht zum Sieg zu verhelfen. Sie umgehen oder brechen die Regeln, indem Sie die Ihrer Meinung nach notwendigen Mittel ergreifen, um alles Böse zu vernichten, anstatt nur seine Pläne zu vereiteln.«
Kimball sah aus dem Fenster, und hatte das Gefühl, als wäre er an diesem Punkt bereits in seinen Sitzungen beim Monsignore, seinem Psychologen, angelangt gewesen. Beide Männer traten als Stimme der Vernunft auf. Aber es lief immer auf das Gleiche hinaus: Kimball musste an sich selbst glauben. Und das tat er nicht. Das Licht der Erlösung war nur ein unerreichbarer, schwacher Funke, der, andere Menschen zu töten, war schlicht ein Teil von ihm.
»Glauben Sie, Kimball … und Sie werden erhört werden.«
»Bei allem nötigen Respekt, Mr. Becher, aber glauben Sie wirklich, Sie wären so wie ich?«
»Wir haben einiges gemeinsam, ja.«
Das mochte stimmen, aber teilte Kimball nicht auch Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen? Er dachte darüber nach, während der Zug langsam Fahrt aufnahm. »Ich weiß Ihre Dienste für den Vatikan zu schätzen«, sagte Kimball. »Und ich habe Ehrfurcht vor der Person, zu der Sie über die Jahre wurden. Aber glauben Sie nicht auch nur für eine Sekunde, dass Sie irgendetwas mit mir gemein hätten. Sie hielten sich an die Regeln, und das steht Ihnen frei. Aber für mich stellen diese Regeln Restriktionen dar, denen ich mich nicht fügen kann. Und wenn ich mich nicht den Regeln der Kirche beugen kann … dann befolge ich nicht den Willen Gottes. Und wenn ich den Willen Gottes nicht befolge, kann ich keine Erlösung finden.«
Kimball sah, dass Becher zu einem Seufzer ansetzen wollte. Der Mann gab es auf, Kimball davon überzeugen zu wollen, dass er das Licht schon vor langer Zeit erreicht hatte, sich aber nur weigerte, es sehen zu wollen.
»Sie hier bei mir zu haben«, sagte Becher, »war eine Chance, dass zwei Männer mit zweifelhafter Vergangenheit gemeinsam den Weg ins Licht finden würden. Es tut mir leid, dass ich sie enttäuscht habe. Und es tut mir leid, dass ich den Vatikan enttäuscht habe.«
»Sie haben niemanden enttäuscht«, erwiderte Kimball. »Wenn überhaupt, habe ich mich selbst enttäuscht.«
Kimball blickte wieder aus dem Fenster. Es würde eine lange Fahrt werden, dachte er, und eine schweigsame. Aber dafür bot sich die Gelegenheit, die Schönheit der Landschaft zu würdigen, die an ihnen vorbeihuschte. Wenn es so etwas wie das Paradies wirklich gab, sagte er sich, dann würde es so aussehen, mit schneebedeckten Gipfeln vor violetten Bergmassiven und saftigen grünen Auen voller roter und gelber Wildblumen. Nichts ließ sich damit vergleichen.
Und dann dämmerte ihm, dass er dem Himmel niemals näherkommen würde.