Bahnhof Genf
Genf, Schweiz
Als der Zug anfuhr, wurde Ásbjörn Bosshart bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie seine Zukunft aussehen würde. Alles, was er wusste, war, dass er ein Spielball einer Geheimorganisation war, die ihn gezwungen hatte, sie in ihrer Suche nach einer neuartigen Waffe zu unterstützen. Er sollte einen Zug besteigen, sich in ein bestimmtes Abteil setzen, keine Fragen stellen und warten.
Sie würden sich um den Rest kümmern.
Alles, was er wusste, war, dass sich der Zug auf der Fahrt nach Rom befand, einer achtstündigen Reise.
Alles, was sich danach ereignen würde, blieb weiterhin ein Mysterium. Wie würden sie ihn kontaktieren? Wie würde der Austausch stattfinden? Deshalb blickte er immer wieder mit einem Auge auf sein Tablet, in der Hoffnung, es würde erneut zum Leben erwachen.
Aber das tat es nicht.
Jenseits des Fensters, und nachdem der Zug Fahrt aufgenommen hatte, war das Stadtbild Genfs der Schönheit der Natur gewichen. Er konnte daran jedoch keinen Gefallen finden, weil seine Gedanken ausschließlich bei seiner Frau und seiner Tochter weilten. Anstelle der grünen Felder sah er ihre vor Angst verzerrten Gesichter vor sich.
Dann ergriffen ihn überwältigende Schuldgefühle, weil er nicht bei seiner Familie gewesen war, als man sie entführte. Das Gefühl der Machtlosigkeit lähmte ihn. Er weinte, und seine Brust hob und senkte sich, während er unkontrolliert schluchzte.
Dann fiel sein Blick auf den blauen Himmel, an dem ein paar vereinzelte Wolken vorüberzogen, und er versuchte, seine Gedanken zu fokussieren. Er hatte bereits zu Gott gebetet und ihn um Beistand gebeten. Nun konnte er nichts weiter tun, als abzuwarten und sich zu fragen, ob er seine Bitte erhören würde.
Aber das Warten sollte ihm endlos vorkommen, denn die Zeit schien wie in Zeitlupe zu vergehen. Und er wusste, dass nichts schlimmer war, als nicht zu wissen, wie es um seine Frau und sein Kind bestellt war.
Er presste seine Stirn an die kalte Fensterscheibe und schloss die Augen, um die Tränen zurückzudrängen.
Da zirpte das Tablet. Eine Nachricht war eingegangen. Bosshart griff eilig nach dem Gerät und erweckte es zum Leben. »Ja«, meldete er sich hastig.
Der Mann auf dem Display trug eine Sturmhaube, aber die Stimme war die gleiche. »Doktor Bosshart.«
»Ich bin hier.«
»Ist der Zug unterwegs?« Die Stimme des Mannes trug einen starken Akzent. Asiatisch, allem Anschein nach.
Bosshart nickte. »Ja, wir fahren.«
»Dann verläuft alles nach Plan.«
»Was soll ich jetzt tun?«
»Nichts. Bleiben Sie einfach, wo Sie sind, Doktor. In drei Stunden werden Sie den Zug verlassen und sich in unsere Obhut begeben.«
»Den Zug verlassen? Der nächste Halt ist doch erst in sieben Stunden!«
»Für alle anderen, aber nicht für Sie, Doktor Bosshart. Ihre Fahrt wird nur drei Stunden dauern. Nicht mehr, nicht weniger.«
»Ich verstehe nicht …«
»Das müssen Sie auch nicht. Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.«
In drei Stunden würde der Zug schmale Pässe und tiefe Schluchten überqueren. Ausgeschlossen, dass der Zug dort anhalten würde.
»Ich bin diese Strecke schon oft gefahren«, widersprach Bosshart. »Er wird nicht anhalten.«
Aber der Bildschirm verdunkelte sich bereits wieder. Die Übertragung war beendet. In drei Stunden sollte sich Ásbjörn Bosshart den Entführern stellen, in einem Zug, der sich mit einhundertvierzig Kilometern in der Stunde über tiefste Schluchten und schmale Bergkämme wand.
Wie er das anstellen sollte, war Bosshart schleierhaft – genauso wie die Feinheiten, mit denen es vielleicht möglich gemacht werden könnte.
Schluchten.
Verschlungene Bergkämme.
In drei Stunden würde Ásbjörn Bosshart seine Antwort bekommen.