Kapitel 20

 

Nach einer Weile des Schweigens, welches so lange schwelte, bis es sich scheinbar nicht mehr aushalten ließ, erklärte Kimball schließlich: »Hören Sie … ich weiß es zu schätzen, was Sie im Auftrag des Vatikan für mich tun wollten, und ich weiß, dass auch der Vatikan Ihr Bemühen zu schätzen weiß. Was Sie auf Ihrem Weg zur Erlösung durchmachen mussten, geschah innerhalb der Regeln, welche die Kirche vorgibt. Ich suche meine Erlösung auf Basis meiner Regeln, und das unterscheidet uns voneinander. Der Einzige, der mir die Sünden meiner Vergangenheit vergeben kann, bin ich selbst.«

»Nein, Kimball. Sie vergessen, dass auch Gott Ihnen vergeben kann.«

Kimball hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Der Kerl wollte es einfach nicht kapieren. Jeder – der Monsignore, der Papst und alle anderen dazwischen, konnten ihm Absolution erteilen. Aber der Einzige, von dem diese Absolution wirkliches Gewicht haben würde, war er selbst. Kimball hatte immer in den Grauzonen gelebt und war im Dienste des Lichts um die Dunkelheit herumgeschlichen. Aber erst, wenn er an einen Punkt gelangt sein würde, an dem das Grau ihn verlassen würde und die Dunkelheit weit entfernt war, würde er sich imstande fühlen, das Licht der Vergebung zu empfangen.

Und bis dahin …

Kimball stand auf. »Ich werde mir ein wenig die Beine vertreten«, sagte er. »Kommen Sie so lange allein zurecht?«

Becher nickte. »Natürlich. Wieso nicht?« Er deutete aus dem Fenster. »Das ist ein wunderbarer Moment in meinem Leben. Diese Landschaft. Diese makellose Schönheit. Ich denke, es könnte ein Ausblick sein auf das, was mich erwartet.« Dann wandte er sich wieder Kimball zu. »Meinen Sie nicht auch?«

Kimball nickte. Der Ausblick war in der Tat fantastisch.

»Kimball, ich sterbe. Ich habe lange genug in der Dunkelheit gelebt. Wenn Sie sich entscheiden, das weiterhin zu tun, dann kann ich nichts dagegen tun, egal, was ich Ihnen auch erzähle. Aber Sie sollten eines wissen: Seit Sie ein Ritter des Vatikan wurden, sind Sie nie von einer Regel abgewichen, die einen wahren Soldaten des Vatikan ausmacht.«

»Und die wäre?«

»Treue über alles … alles außer der Ehre.«

Kimball blieb in der Tür zwischen dem Abteil und dem Korridor stehen und sah auf den alten Mann hinab.

»Denken Sie darüber nach, Kimball. Sie haben nichts Unehrenhaftes getan, ganz egal, welche apostolischen Regeln Sie dabei missachten mussten, um Ihrer Meinung nach der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Sie haben niemals Schande über sich oder die Kirche gebracht. Denken Sie darüber nach.«

Das tat Kimball. Becher versuchte offenbar immer noch, ihn von etwas zu überzeugen, wovon er sich selbst nicht überzeugen konnte – dass er ein guter Mann war, der niemals Schande über die Kirche gebracht hatte. Und wenn er nie eine Schande für die Kirche war, wie konnte er dann eine Schande für Gott sein?

Kimball seufzte. Netter Versuch .

Ohne ein weiteres Wort verließ Kimball das Abteil und überließ Becher seinem Blick aus dem Fenster.

 

***

 

Frederik Becher hatte alles versucht, Kimball Hayden davon zu überzeugen, dass er nicht die einzige gequälte Seele auf dieser Welt war. Becher hatte versucht, Kimball an einen Ort zu führen, an den Kimball nicht gehen wollte, zumindest noch nicht. Kimball befand sich einer Komfortzone, die Becher nicht ganz verstand. Wieso im Grau verharren, wenn das Licht doch greifbar nah ist? Was war an dem Grau so reizvoll, dass er sich daran festklammerte wie an einem Sicherheitsnetz? Und wieso riskierte er lieber die Verdammnis, als zu versuchen, die Erlösung zu finden?

Becher starrte weiter auf die immer weiter aufragende Bergwelt hinaus und grübelte.

Unser Werdegang ähnelt sich, sagte er zu sich selbst, aber wir sind verschieden. Kimball ist ein Fall für sich, der instinktiv handelt, ohne die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken. Es kümmert ihn nicht, ob er dafür das Gewicht des Satans auf seinen Schultern oder aber die Vergebung Gottes in seiner Seele tragen muss. Kimball Hayden hatte mit beiden Möglichkeiten seinen Frieden gemacht, weil er ein Mann war, der aufgrund seiner Überzeugungen handelte, ganz egal, ob diese nun richtig oder falsch waren. Er tötete, weil das seine Art war, und weil er gut darin war. Und vielleicht, so dachte Becher, waren Himmel und Hölle für Kimball das Gleiche: Gut gegen Böse, Seite an Seite, für alle Ewigkeit.

 

***

 

Kimball durchquerte die Gänge des Zugs. Er brauchte etwas Abstand von Becher. Und obwohl er ihn als einen guten Menschen sah, der nur das Beste wollte, war Kimball der pausenlosen Ratschläge und des Psychogequatsches überdrüssig geworden, mit dem dieser versuchte, ihn wieder eins mit sich selbst werden zu lassen. Aber so etwas gab es für Menschen wie ihn nicht. Es würden sich immer wieder neue Löcher in ihm öffnen, wenn andere geschlossen wurden, manche von ihnen so tief wie klaffende Wunden. Und um ehrlich zu sein, hätte er gar nicht gewusst, wie er ohne den Widerstreit der Emotionen in ihm hätte leben sollen. Denn so fühlte er sich schon immer. Das war es, was ihn ausmachte – ein Mann, der tat, was er fühlte, und fühlte, was er tat, ganz egal, ob es ihm im Endeffekt mit überwältigenden Schuldgefühlen überschüttete oder kathartisch wirkte.

Während er durch die Gänge wanderte, tastete Kimball Hayden nach seinem Handy und fand es. Aber er starrte es nur an, denn er wusste, dass er keinen Empfang haben würde. Mit einer Daumenbewegung rief er den Adressspeicher des Handys und einen bestimmten Eintrag darin auf.

Shari Cohen .

Sie war kürzlich das Opfer eines Attentatsversuches geworden, bei dem auch ihre Familie unglücklicherweise ins Fadenkreuz geraten war. Nun, da sie das Krankenhaus in D. C. bald verlassen würde, wollte Kimball mit ihr in Kontakt treten. Das war ein weiteres Gefühl der Leere in seinem Leben, ein klaffendes Loch, welches niemals gefüllt werden würde. Sosehr er sich auch um sie sorgte und sie liebte, so oft er auch an sie dachte und sich sogar erträumte, mit ihr zusammenzuleben, wusste er doch, dass sie ihn aufgrund seiner ungezügelten Natur niemals akzeptieren würde.

Kimball schloss die Augen und fühlte die unendliche Leere in sich. Er wusste, dass er sich niemals ändern würde, denn er war dazu geformt worden, ein bestimmtes Leben zu führen, auf eine bestimmte Art. Seine Brutalität war wie eine Tätowierung in seine Seele eingebrannt, wie ein unauslöschlicher Schandfleck. Und ganz egal, wie sehr er auch versuchen würde, diesen Fleck auszuradieren, wusste er doch, dass er nie gänzlich verschwinden würde.

Er legte sich das erleuchtete Display an die Stirn, um sich Sharis Namen in die Haut zu pressen, als würde sie das näher zusammenbringen. Wenn die Zeit gekommen war, würde er sie anrufen und sich erkundigen, wie es ihr geht. Aber im Moment blieb ihm nur die Hoffnung, dass diese Situation am Ende etwas Gutes mit sich bringen würde, vielleicht eine Art Bindung, die sie näher zusammenbrachte. Es war ein kleiner Anflug von Optimismus, eine vage Hoffnung. Denn außer dieser besaß Kimball nichts. Aber im Moment spürte er dieses Gefühl jenseits der Leere in sich, etwas Fremdartiges und gleichzeitig Vertrautes. Ein Hoffnungsschimmer, kaum mehr als ein schwacher Funke des Verlangens. Aber er wurde nicht größer. Dafür gab es auch keinen Grund, denn am Ende würde sie Kimball als einen Mann der Gewalt erkennen.

Er schaltete das Handy aus, schob es sich in seine Tasche und lief weiter durch die Gänge des Zuges.