Kapitel 53

 

Als Kimball den Führerstand verließ, erspähte er Kae und Tang, die auf dem Weg nach vorn die Passagiere musterten und sie anherrschten, ihren Befehlen Folge zu leisten.

Sie wissen es, dachte Kimball. Sie suchen nach mir.

Kimball verfolgte, wie sie sich seiner Position näherten. Die Soldaten waren gründlich. Sie versuchen, mich in die Zange zu nehmen .

Kimball wich von dem Fenster zurück und dachte nach. Er konnte aufs Dach steigen, auf diesem Weg hinter sie gelangen und sie dann überrumpeln. Die Chancen standen nicht besonders gut, aber es schien seine einzige Option zu sein.

Der Vatikanritter stieg die Leiter hinauf, wohl wissend, dass er sich diesen Männern würde stellen müssen. Als er auf dem Dach angekommen war, schob ihn der Fahrtwind voran, was seinen Tritt weniger sicher machte. Ein weiteres Risiko dieser Ausflüge auf das Dach eines Zuges.

Kimball trottete voran, versuchte, hinter die Gegner zu gelangen, während die Kräfte an ihm zerrten. Dann verlor er das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Der Aufprall war so laut zu hören, als hätte jemand an die Tür geklopft.

Kimball fluchte.

 

***

 

Kae und Tang bewegten sich von Abteil zu Abteil und suchten nach ihrem Gegner. Aber alles, was sie bislang gefunden hatten, waren verängstigte Passagiere, die keinerlei Gefahr darstellten. Auf ihrer Suche bellten sie auf Koreanisch Befehle, aber der aggressive Ton und ihre Körpersprache sorgten dafür, dass die Passagiere sie verstanden.

Dann hörten sie über sich ein Geräusch, ein lautes Poltern.

Tang drehte sich zu Kae um. Kae sah Tang in die Augen. Sofort wussten beide, was der andere dachte. Tang deutete nach oben.

»Er ist über uns«, sagte er.

Gleichzeitig richteten sie ihre Waffen an die Decke und gaben eine Gewehrsalve ab. Die Kugeln durchschlugen die Decke.

 

***

 

Einschusslöcher durchbohrten das Dach und hielten auf Kimball zu. Kimball harrte kniend aus und sah zu, wie um ihn herum weitere Löcher aufbrachen und die Kugeln mit einem wespenartigen Summen nur wenige Zentimeter an ihm vorbeisurrten.

Doch dann traf eine davon ins Ziel. Die Kugel durchbohrte brennend heiß seine Seite. Das Gefühl erinnerte an eine heiße Nähnadel, die man durch sein Fleisch stach, dann wuchs es sich zu einem quälenden, grellweißen Schmerz aus. Die Wunde war nicht tödlich, aber auch nicht oberflächlich. Es war hauptsächlich nur weiches Gewebe verletzt worden. Die Schmerzen aber ließen nicht nach.

Kimball kippte auf das Dach, während um ihn herum Teile des Zugdaches explodierten. Einige Splitter bohrten sich in sein Gesicht und er biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen.

Da ebbte das Gewehrfeuer ab. Kimball ahnte, dass es daran lag, dass sie die Magazine wechseln musste. Also rappelte er sich auf, presste sich eine Hand an seine Seite, überzeugte sich noch einmal, dass immer noch seine Waffe um seine Schulter hing, und dann taumelte er auf das Ende des Waggons zu.

Dann begann alles von Neuem. Eine zweite Gewehrsalve. Das Dach wurde von den Kugeln derart durchlöchert, dass es wie ein Sieb auszusehen begann. Kimball lief weiter. Noch fünf Meter vor ihm, dann drei. Kugeln stoben um seine Füße herum aus dem Dach, schlugen Löcher hinein. Die Koreaner schossen sich auf ihr Ziel ein. Dann warf sich Kimball der Länge nach auf das Dach und rutschte zu der Leiter. Mit einer Hand packte er die oberste Sprosse, während ihn der Schwung über den Rand beförderte und er hart gegen die Leiter knallte. Nur sein eiserner Griff hielt ihn an der Leiter.

Nachdem beide seiner Stiefel Halt auf den Sprossen gefunden hatten, überprüfte er seine Wunde. Es war ein Cent-Stück-großer Durchschuss an der Stelle, an der viele Menschen ihren Hüftspeck mit sich herumschleppten. Die Verletzung aber war weit davon entfernt, ihn stark einzuschränken.

Er stieg auf die Plattform hinunter, spähte durch das Glas in den Waggon und sah die mit schwarzen Kampfuniformen bekleideten Koreaner. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Einen Augenblick später richteten die Soldaten ihr Feuer auf die Tür und gaben weitere Schüsse ab. Das Fenster vor Kimball zerbarst in tausend Splitter aus Sicherheitsglas, die an Diamanten erinnerten.

Kimball brachte sich in Deckung und holte sich das Gewehr von der Schulter.

Die Schüsse aber hielten an, während die Koreaner durch den Gang des Zuges auf ihn zueilten.

Kugeln schlugen in die Tür hinter Kimball und ließen noch mehr von dem Glas zersplittern.

Dann verstummten die Schüsse für einen kurzen Moment und verschafften Kimball eine Chance. In der kurzen Zeit, die die Männer brauchten, um ihre Magazine zu wechseln, langte Kimball um die Ecke herum, zielte mit der MP7 durch das zersplitterte Fenster und gab selbst eine Reihe von Schüssen ab.

Die Kugeln waren gut gezielt, und eine von ihnen traf Chul Kae direkt ins Gesicht. Ein Kopfschuss. Der Treffer schlug ein blutiges Loch in die Sturmhaube und zertrümmerte die Nase und die linke Seite seines Gesichts. Der Koreaner bog den Rücken durch und ließ die Waffe fallen. Der Mann blieb länger stehen, als es ihm angesichts seiner Verletzung hätte möglich sein sollen, doch dann ergab er sich schließlich seinem Schicksal und sackte zu Boden.

Der zweite Mann brachte sich in einem der Abteile in Deckung, indem er sich durch die Glastür warf und dort zusammen mit einem älteren Ehepaar Schutz suchte.

Dann konzentrierte er sich wieder auf seine Aufgabe, schob seine Waffe um den Türrahmen herum und feuerte blindlings ein paar Schüsse ab. Als seine Salve nicht erwidert wurde, trat Tang in den Gang hinaus und spähte zu der Plattform.

Der Mann war verschwunden.

 

***

 

Auf Kimball Hayden warteten eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht war, dass er die Zahl der Gegner um eins verringert hatte. Die schlechte war, dass ihm die Munition ausgegangen war. Nachdem seine Waffe nur noch ein trockenes Klicken von sich gegeben hatte, untersuchte er sie kurz und warf die MP7 dann kurzerhand aus dem Fenster. Das Gewehr fiel trudelnd in die Tiefe, während der Zug begann, die Brücke zu überqueren, die über die dreihundertfünfundsechzig Meter tiefe Schlucht führte.

Dann öffnete er die Tür zu dem nächsten Waggon und floh vor dem schwer bewaffneten Tang. Aber er lief nicht weit, denn er wusste, dass auch in dieser Richtung Gegner auf ihn warten würden. Ihm blieb nur wenig Raum, um sich darin frei zu bewegen. Aber ein Vatikanritter verstand es stets, die Umgebung zu seinem Vorteil zu nutzen, die Schatten als Verbündeten anzusehen. Und da ein Vatikanritter niemals gejagt wurde, wartete er auf Tang.

 

***

 

Kwang Tang war außer sich. Chul Kae war tot. Pae und Sobong wahrscheinlich ebenfalls. Und Hu war bereits bei der missglückten Landung auf dem Zugdach gestorben, war in den Tod gestürzt, ohne auch nur für eine Sekunde in einen Kampf verwickelt worden zu sein.

Damit blieben nur noch drei Männer übrig: Che, Ma und er selbst.

Langsam und vorsichtig, den Lauf seines ausgestreckten Gewehrs voran, lief Tang den Gang hinunter und auf das Zwischensegment zu, das in den nächsten Waggon führte. Von dem Elitekämpfer fehlte jede Spur. Und selbst während des kurzen Kampfes hatte Tang ihn nur als einen schattenhaften Umriss wahrgenommen, der sich verteidigt hatte.

Tang näherte sich der Tür. Glassplitter knirschten unter seinen Stiefeln. Während er sein Gewehr mit der einen Hand fest umklammert hielt, griff er mit der anderen Hand nach dem Türgriff und zog sie auf. Das Einzige, was er hören konnte, war das Rattern der Zugräder auf den Schienen.

Als er die Plattform zwischen den Waggons betrat, sah er durch das kleine Seitenfenster, dass der Zug eine Brücke überquerte, die über eine tiefe Schlucht führte. Die Luft war kalt, und die Sonne schien hell vom Himmel. Dann richtete er seine Waffe auf das Dach, suchte nach einer Gefahr, einer Bedrohung, und als er dort keine erkennen konnte, betrat er den nächsten Waggon durch eine bereits geöffnete Tür. Vielleicht so etwas wie eine Einladung.

Mit der gleichen Vorsicht, mit der er sich bis hierher bewegt hatte, lief er weiter, setzte einen Schritt vor den anderen, den Lauf der Waffe vor sich gerichtet. Schritt für Schritt folgte er dem Gang, zu dessen beiden Seiten sich leere Sitze befanden.

Seine Nackenhaare richteten sich auf, wie bei einem Hund, der Gefahr witterte. Dann blieb er regungslos wie eine griechische Statue stehen und lauschte.

Keine Reaktion.

Und doch konnte er etwas ganz in seiner Nähe spüren, eine unmittelbare Gefahr.

Dann begann er, die umstehenden Sitze mit einer Gewehrsalve einzudecken, schwenkte die Mündung seines Gewehrs von links nach rechts und wieder nach links. Die Kugeln rissen den Stoff auseinander, Füllmaterial quoll aus den Löchern oder stob wie Federn in die Luft.

Als Tang sein Magazin leergeschossen hatte und mit einer fließenden Bewegung dazu ansetzte, es zu wechseln, sprang Kimball hinter den Sitzen derer hervor, die denen gegenüberlagen, auf die Tang seine ganze Aufmerksamkeit gelenkt hatte, und brachte Tang mit einem festen Hieb gegen den Hinterkopf aus dem Gleichgewicht.

Tang, der sofort Sterne sah, ließ sein Gewehr fallen. Aber er erholte sich schnell und zog sein Messer aus der Scheide an seinem Oberschenkel – ein KA-BAR. Eine Waffe, die für Kimball zu einer Art natürlichen Verlängerung seines Körpers geworden und in deren Handhabung er über die Jahre zu einem der Besten geworden war.

Das einzige Problem bestand nur darin, dass Tang diese Waffe in den Händen hielt.

Tang, der das Messer angriffsbereit in der Hand kreisen ließ, sah, dass sein Gegner den geistlichen Kragen eines Priesters trug. Aber er sah überhaupt nicht wie ein Priester aus. Seine Statur war vielmehr die eines Mannes, der sich aus einem bestimmten Grund fit hielt. Und in seiner Kleidung erschien er auch nur von der Hüfte aufwärts ein Geistlicher zu sein, denn seine Hose und seine Stiefel sahen militärisch aus. Für Tang bestand kein Zweifel, dass er es hier mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hatte.

Tang ließ das Messer vor- und zurückzucken und suchte nach einer Gelegenheit, zuzustechen. Während er sein Gegenüber aufmerksam musterte, fiel ihm die Wunde an dessen Seite auf. Offenbar hatte eine ihrer Kugeln ihn getroffen, auch wenn die Verletzung den Priester nicht wesentlich zu verlangsamen schien.

Tang grub seine Fußballen für einen sicheren Stand in den Boden und stürzte sich dann wie ein Fechter mit einem Decken mit einem geraden Stoß auf Kimball. Aber der Priester war schnell und wich zur Seite aus, packte Tang am Handgelenk, drehte es so weit herum, dass Tang gezwungen war, das Messer fallen zu lassen, und rammte dem Koreaner dann die Handfläche ins Gesicht, was diesen zu Boden schickte.

Als Tang wieder auf die Beine gesprungen war, griff Kimball nach ihm. Aber Tang hob das Bein und trat gegen die Schussverletzung an Kimballs Seite. Der Schmerz überlagerte alles andere und schoss wie ein Blitz durch seinen Körper. Der Aufprall trieb Kimball in den Gang zurück. Der Vatikanritter hielt sich die Seite.

Tang, der seine Chance witterte, sprang durch die Tür und holte zu zwei weiteren gezielten Tritten aus, einen gegen Kimballs Knie, der andere gegen sein Kinn. Er bewegte sich dabei so schnell, dass Kimball den Angriff nicht kommen sah. Die beiden Treffer trieben den Vatikanritter gegen einen der ergonomisch geformten Sitze.

Dann war Tang auch schon auf ihm und hieb mit blitzschnellen Schlägen auf Kimballs Wunde ein. Nach dem zweiten oder dritten Schlag glänzte seine Faust rot von dem Blut. Kimball holte zu einem Ellenbogenschlag aus, der seinen Gegner aus dem Gleichgewicht brachte und zurücktaumeln ließ. Tang verlor das Bewusstsein – seine Augen rollten bereits nach hinten.

Kimball stürmte mit einem Tritt auf den Mann zu. Sein Stiefel traf ihn mitten in der Brust. Tang flog rückwärts durch die Luft, krachte durch das Fenster des Abteils und stürzte die über dreihundertfünfzig Meter in den Abgrund.

Kimball trat ans Fenster und sah Tang hinterher, der in Richtung Talsohle segelte. Du bist nicht der Einzige, der einen Tritt landen kann, du Mistkerl.

Dann wich er von dem Fenster zurück und hielt sich wieder die Seite. Er blutete stark zwischen seinen zusammengepressten Fingern hervor. Tangs Schläge hatten die Wunde weiter aufgerissen. Kimball hob das von Tang zurückgelassene Messer auf und begab sich in den hinteren Teil des Zuges.

Jetzt waren nur noch zwei von ihnen übrig: Yeong Che und Kwan Ma – zwei der besten Elitekämpfer, die Nordkorea aufbieten konnte.

Kimball Hayden sollte schon sehr bald herausfinden, wie gut sie wirklich waren.