22

So muss der Untergang der Welt sein, dachte Martial, der das Gefühl hatte, in die Hölle zu stürzen. Nur ein Augenblick, und alles bleibt stehen, das Leben hat keinen Sinn, keinen Geschmack mehr. Es ist vorbei.

Édouard dagegen hatte einen erstaunlich klaren Kopf bewahrt.

»Von wem sprechen Sie, verdammt?«

»Von Yvonne. Yvonne Gresse. Sie ist getötet worden!«

Es war, als packten zwei starke Arme Martial am Kragen, um ihn aus dem Treibsand zu ziehen, in dem er zu versinken drohte. Nun war er wieder an der Luft, im Leben. Alles hatte plötzlich mehr Geschmack.

Das Erste, was er empfand, als er über den Tod von Yvonne Gresse informiert wurde, war Erleichterung.

Édouard bat Jean Guillard herein und forderte ihn auf, mehr Einzelheiten zu erzählen.

»Sie ist in der Hütte von Cassaïre gefunden worden, nicht weit weg von mir. Monsieur Guiraud und der Arzt sind vor Ort und haben mich geschickt, um Sie zu holen. Sie erwarten Sie.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Amélie hat Alarm geschlagen. Die arme Kleine! Im Augenblick bringt der Bürgermeister sie nach Hause und teilt ihrer Familie die traurige Neuigkeit mit.«

»Sind die Gendarmen informiert?«, fragte Martial.

»Monsieur Guiraud hat sie angerufen.«

Édouard und Martial gingen hinauf, um sich anzuziehen. Auf der Treppe fiel Martial zum ersten Mal Édouards ausgeprägtes Hinken auf. Oben blieb dieser stehen und wandte sich zu seinem Gast um.

»Sie hatten recht. Es war noch nicht zu Ende.«

»Das bedaure ich sehr, das können Sie mir glauben.«

»Einen Augenblick dachte ich … Na ja, ich habe an Camille gedacht.«

»Ich hatte auch große Angst, das gebe ich zu.«

»Es ist furchtbar, das zu sagen, aber deswegen lässt mich der Tod dieser armen Frau ein bisschen kalt.«

»Ich empfinde auch so, aber ich glaube nicht, dass das anhält. Leider wird uns in ein paar Minuten die Wirklichkeit um die Ohren fliegen. Und sie wird uns nicht gleichgültig lassen.«

Die Hütte von Cassaïre hatte ihren Namen von ihrem ehemaligen Besitzer, der seit Langem tot war. Sie war die letzte Spur eines kleinen Hofs, den es nicht mehr gab. Einst eine Art Schuppen, errichtet am Rand der zum Hof gehörigen Felder, stand die Hütte immer noch, war aber umschlossen von Wald. Niemand hatte daran gedacht, sie abzureißen oder das alte Werkzeug, das in ihr lagerte, fortzuschaffen. Solide stand sie da, wie ein Denkmal, das an die Vergangenheit erinnerte, an die Zeit vor der Landflucht.

Édouard und Martial waren Jean Guillard gefolgt. Sie hatten den Weiler Les Buissonniers durchquert und den Pfad genommen, der am Waldrand hinaufführte. Nach ein paar Dutzend Metern hatten sie den Weg verlassen, um in eine junge Buchenpflanzung einzudringen, die sanft abfiel. Und dort befand sich die Hütte.

Schon aus der Ferne hatten sie das Licht der Laternen wahrgenommen, das die Schatten der dünnen, geraden Stämme in die Länge zog. Vor dem Doppeltor, das einen Spalt offen stand, trafen sie Doktor Delcros und Antoine Guiraud, die offenbar Wache standen, wobei das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern zu lasten schien. Als die beiden sie kommen sahen, wirkten sie erleichtert.

»Sie liegt da drin«, sagte der ehemalige Bürgermeister mit zusammengepressten Kiefern. »Sie haben eine gute halbe Stunde, bevor die Gendarmerie eintrifft. Wir waren uns einig, dass Sie die ersten Feststellungen treffen sollten. Niemand hat etwas angerührt.«

»Sie ist ausgeblutet«, fügte der Arzt hinzu. »Ich bin nur hineingegangen, um den Tod zu bescheinigen. Auf den ersten Blick würde ich sagen, der Tod ist vor zwei, drei Stunden eingetreten, vielleicht höchstens vier.«

»Ihre Tochter hat sie gefunden«, fuhr Antoine Guiraud fort. »Anschließend ist sie zu Jean gelaufen, und die beiden haben den Bürgermeister geweckt.«

»Was hat sie hier gemacht?«, fragte Martial.

»Angeblich ist sie hier ihrer Gewohnheit nachgegangen, wenn Sie verstehen«, sagte Jean Guillard, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Sie hat sich hier mit anderen Männern getroffen, selbst zu der Zeit, als ihr Mann noch gelebt hat.«

»Ich meinte Amélie …«

»Ich fürchte sehr, diese junge Person kennt die Gewohnheiten ihrer Mutter, denn sie hat die gleichen«, fuhr Doktor Delcros fort. »Als sie gemerkt hat, dass Yvonne nicht nach Hause gekommen war, wusste sie, wo sie suchen musste …«

»Wie spät war es, als sie bei Ihnen geklopft hat, Jean?«

»Ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht. Etwas früher sogar.«

»Gut, also gehen wir hinein. Édouard, seien Sie so freundlich und begleiten mich. Und Sie werde ich auch brauchen, Doktor. Wegen Ihres Wissens, aber auch als Zeugen, damit die Gendarmerie uns anschließend nicht vorwerfen kann, wir hätten die wichtigsten Indizien manipuliert. Monsieur Guiraud und Monsieur Guillard bleiben draußen und sorgen dafür, dass niemand zu nahe herankommt. Sind Sie einverstanden?«

Alle vier stimmten zu.

Die Hütte hatte eine rechteckige Grundfläche, ungefähr sechs Meter lang und vier Meter breit. Die Wände bestanden aus dicken Tannenholzbrettern mit schmalen Zwischenräumen, der Boden aus gestampfter Erde. Verschiedene Gegenstände hingen an den Wänden oder waren zwischen Balken und Dach geklemmt: verrostete Sensenklingen und verrosteter Draht, zwei durchgerostete Rollen, ein auf ganzer Länge abgenutztes Seil, mehrere lange Stöcke aus Haselnussstrauchholz, ein Schaufelstiel, eine Feuerzange, die Reste einer Egge, deren Zinken sich abgelöst hatten. Ganz hinten links stand ein zweirädriger Karren, die Ladefläche zum hinteren Teil des Raums, die Arme, von denen einer zerbrochen war, genau gegenüber vom Eingang. Nicht weit davon brannte in einer Ecke eine Lampe, die auf einer groben Holzkiste stand. Martial sah den Leichnam nicht sofort. Er suchte im Licht seiner Laterne den Boden ab und sah mehrere Fußspuren, die er schnell als die des Doktors identifizieren konnte. Andere gab es nicht.

»Der Boden ist gefegt worden. Sehen Sie sich diese Spuren an und die kleinen Hügel aus Erde an den Seiten. Er hat erneut seine Spuren beseitigt.«

»Er will Gespenst spielen …«

»Sollte das der Fall sein, dann hat es nicht geklappt, Doktor. Indem er seine Fußspuren ausgelöscht hat, hat er, wie es scheint, auch die des Opfers ausgelöscht. Es fehlen auch die von Amélie …«

Langsam ging Martial weiter und schaute sich gründlich um. Schließlich sah er Yvonne Gresse, auf der Ladefläche des Karrens, der auf zwei Holzblöcken ruhte, damit er nicht zu stark geneigt war. Sie lag in einer Blutlache, die begonnen hatte zu gerinnen. Ihre Augen waren verdreht, der Mund in einem stummen, aber markerschütternden Schrei geöffnet, einem Schmerzens- und Todesschrei. Ihre blutige rechte Hand war noch in einen Zipfel ihres Kleides gekrallt, das bis zu den Oberschenkeln hochgeschoben war und eine urindurchtränkte Behaarung erkennen ließ. Der andere Arm lag da, als sei er leblos zurückgefallen, rechtwinklig zum Körper. Die Innenseite ihres rechten Oberschenkels wies ziemlich tiefe Schnitte auf und quer darüber einen einzelnen breiten und deutlichen Schnitt. Ein weiterer, tödlicher, Schnitt befand sich links an ihrem Hals. Dort war sie ausgeblutet.

»Wie lange hat es gedauert, bis sie tot war?«

»Vermutlich ist es ziemlich schnell gegangen. Die Halsschlagader ist durchtrennt worden. Ich würde sagen, höchstens fünf Minuten«, erwiderte der Arzt.

»Und was sagen Sie zu der Verletzung am Oberschenkel?«

»Die muss sehr schmerzhaft gewesen sein und hat sie bewegungsunfähig gemacht. Immer die gleiche Technik, wie es scheint.«

»Denken Sie an ein Messer?«

»Oder ein Rasiermesser. Jedenfalls eine sehr scharfe Klinge. Die Schnitte sind sauber und ohne Zögern ausgeführt.«

Édouard, die Laterne in der Hand, hielt sich etwas abseits. Er war sichtlich erschüttert. Sein Blick war starr auf das schmerz- und angstverzerrte Gesicht von Yvonne Gresse gerichtet.

»Ich werde versuchen festzustellen, was der Mörder uns hinterlassen hat«, sagte Martial.

»Hinterlassen?«, fragte Doktor Delcros überrascht.

»Man spricht vom Locard’schen Prinzip. Edmond Locard ist ein Kollege von Ihnen; er hat in Lyon ein Polizeilabor eingerichtet, in dem zu arbeiten ich ein paar Wochen vor dem Krieg das Glück hatte. Er war der Erste, der einen Beweis für die Theorie geliefert hat, der zufolge ein Mörder unwissentlich Spuren und Indizien hinterlässt und mitnimmt: Kopfhaare, Körperhaare, Blut, Staub … Ich bräuchte hier ein bisschen mehr Licht, Édouard …«

Während Camilles Verlobter widerstrebend näher kam, verrenkte sich Martial, um sich über den Leichnam zu beugen, ohne ihn zu berühren und seine Hand in das Blut zu tauchen.

»Ihr sind Haare ausgerissen worden, neben ihrem Kopf liegt eine gute Handvoll. Vermutlich hat er sie dort gepackt, um an ihren Hals heranzukommen. Er hat sie an den Haaren gehalten, und ihr mit der anderen Hand die linke Seite des Halses aufgeschlitzt. Wahrscheinlich ist er Rechtshänder. Die rechte Hand der armen Frau ist voller Blut; sie umklammert das Kleid und weist in Richtung der Verletzung am Oberschenkel. Sie hat ihn vermutlich mit der Linken gepackt … Die Nägel, ganz kurz geschnitten, sind kaputt. Ich sehe nichts, das sie unwissentlich herausgerissen haben könnte.«

Als Nächstes untersuchte er die Beine und die Holzschuhe, die beide auf dem Boden lagen.

»Wir haben die Gewissheit, dass es auf diesem Boden keine Fußspuren von der Frau gibt«, sagte er und zeigte das Muster der Sohle und die Größe, die einem Vergleich mit den Fußspuren des Doktors nicht standhielt. »Es muss überprüft werden, ob sexueller Verkehr stattgefunden hat. Sie hat sich hier mit jemandem getroffen. Wir müssen klären, ob der Mord vor oder nach dem Koitus stattgefunden hat.«

Stück für Stück wich er, weiterhin sehr langsam, zurück.

»Es gibt keine Kampfspuren. Ich glaube, die Person, die hereingekommen ist, hat diese Frau nicht im Geringsten erschreckt. Um sie so am Schenkel zu verletzen, muss er ihr sehr nahe gewesen sein … Er muss Blut an sich haben, nicht wahr?«

»Das ist sehr wahrscheinlich. An den Händen und an Teilen seiner Kleidung.«

»Meiner Meinung nach lag sie bereits auf der Ladefläche, als er sie verletzt hat. Anschließend hat er ihr den Hals aufgeschlitzt und ist zurückgetreten, um sie beim Sterben zu beobachten. Diesmal ist er schneller vorgegangen. Er hatte keine Zeit. Vielleicht hatte er Angst, überrascht zu werden. Doktor, ganz ehrlich, haben Sie eine Idee, mit wem Yvonne sich hier getroffen haben könnte?«

»Ich kenne die Gerüchte, Monsieur. Da kursieren mehrere Namen.«

»Nichts weist darauf hin, dass der Mann, den sie getroffen hat, der Mörder ist. Dieser kann vor oder nach dem Rendezvous gehandelt haben …«

»Vielleicht, nur finde ich das Spiel der Denunziation unerträglich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, im Dorf werden Sie viele Spieler finden …«

Martial fragte nicht weiter nach. Er sah sich noch einmal gründlich in der Hütte um und untersuchte jedes Detail. Dann stellte er sich wieder vor den Leichnam.

»Ich gehe hinauf zu den Gresses«, sagte er, ohne den Blick von Yvonne zu wenden. »Wenn die Gendarmen mich suchen, finden sie mich dort.«

»Und ich komme so schnell wie möglich nach«, erwiderte der Doktor. »Die Kleine hat einen ziemlichen Schock erlitten. Sie wird vermutlich Hilfe brauchen.«

»Kommen Sie, gehen wir hinaus.«

Sie kehrten zu Jean Guillard und Antoine Guiraud zurück.

»Und?«, fragte der alte Mann.

»Ich hatte recht mit meiner Ankündigung, dass es weitere Morde geben würde und dass es erneut die Familie Gresse treffen würde.«

Doch Martial ließ es nicht damit bewenden. Er nahm eine Laterne und begann, den Blick starr auf den Boden gerichtet, die Umgebung abzusuchen.

»Was suchen Sie denn?«

»Im Inneren sind die Fußspuren beseitigt worden. Als er wegging, konnte er das nicht mehr, und das, was er benutzt hat, um den Boden zu fegen, muss irgendwo sein … So etwas zum Beispiel.«

Hinter einem etwas kümmerlichen Strauch zwischen zwei Bäumen holte er den stark belaubten Ast einer Stechpalme hervor. Der Schnitt im Holz war weiß, also ziemlich frisch, und mehrere Blätter waren staubbedeckt. Er kehrte mit seiner Trophäe zu den vier Männern zurück.

»Das gebe ich Ihnen, Doktor. Ich weiß, dass Sie imstande sein werden, das alles den Gendarmen zu erklären.«

Dann stieg er mit Édouard den Hang hinauf, um zum oberen Weg zu gelangen. Auf dem Weg begegneten sie mehreren Dorfbewohnern, die sich dort zusammengefunden hatten. Gaston Fabre, Émile-der-Briefträger, Rémi Fieu, der hünenhafte Vorarbeiter, dessen Identität Édouard ihm erläuterte, und sogar der Fleischer, der noch nicht betrunken war. Martial wurde gefragt, ob die Nachricht, die sich im Dorf verbreitet hatte, wahr sei, doch allein schon seine Anwesenheit zu dieser nächtlichen Stunde lieferte die Antwort.

»Yvonne Gresse ist dort unten in der kleinen Hütte ermordet worden. Die Gendarmen werden in Kürze eintreffen, danke, dass Sie ihnen ihre Aufgabe erleichtern.«

Ohne ein weiteres Wort bahnte Martial sich einen Weg durch die kleine Gruppe und entfernte sich.

»Denken Sie, dass Camille davon Wind bekommen hat?«

»Vielleicht noch nicht«, erwiderte Édouard.

»Ich hätte vollstes Verständnis, wenn Sie zu ihr wollen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut geht. Schließlich sind das außergewöhnliche Umstände.«

»Ich begleite Sie zu den Gresses. Wenn sie es geschafft hat einzuschlafen, lassen wir sie besser ein paar Stunden in Ruhe. Es ist viel zu früh, um ihr das zu erzählen.«

Als sie wieder bei der Mühle waren, spannten sie gemeinsam das alte Pferd an. Dann machten sie sich auf den Weg zu dem von Trauer überschatteten Hof.

»Er hat nicht den geringsten Fehler gemacht«, sagte Martial, als dächte er laut. »Nicht das geringste Indiz hat er hinterlassen, nicht die kleinste Spur … Er geht methodisch vor und ist sehr scharfsichtig. Aber er scheint jetzt mehr in Eile zu sein. Yvonnes Tod folgt kurz auf den ihres Mannes. Er hat nicht einmal gewartet, bis die Aufmerksamkeit nach dem zweiten Mord nachlässt … Offenbar will er die Sache tatsächlich vor dem berühmten Geburtsdatum zu Ende bringen.«

»Oder er spürt, dass der Schraubstock sich um ihn schließt. Er weiß, dass, wenn er zu lange wartet, sein Vorsprung geringer wird.«

Im Hof der Gresses trafen sie neben seinem Wagen den Bürgermeister mit verschlossener Miene und müdem Blick.

»Und?«, fragte Christophe Maraval.

»Im Augenblick wissen wir nur, dass wir es mit einem dritten Mord zu tun haben. Wie geht es den Leuten dort drin?«

»Pierre ist außer sich vor Wut. Glaubt man ihm, so will er die ganze Welt töten.«

»Und Amélie?«

»Sie hat sich hingelegt, Mathilde ist bei ihr.«

»Wo ist der Hund?«

»Im Stall. Er hat die ganze Zeit gebellt, es war unerträglich, Pierre wollte ihn schon erschießen.«

»Diese Familie muss unter Schutz gestellt werden, Herr Bürgermeister.«

»Denken Sie, es ist noch immer nicht vorbei?«

»Das ist denkbar. Sie müssen mir helfen, die Gendarmerie zu überzeugen, dass sie so schnell wie möglich Männer hier postiert.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

Martial und Édouard gingen zur Tür.

»Bleiben Sie draußen?«

»Ja, ich brauche ein bisschen frische Luft.«

Ohne zu zögern und ohne zu klopfen, öffnete Martial die Tür. Pierre Gresse saß an dem großen Tisch, vor ihm lag das Gewehr. Aus dem Blick, mit dem er die beiden Ankömmlinge empfing, sprach tiefster Hass. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Martial die Bank heran und setzte sich ihm gegenüber.

»Die Gendarmerie wird in Kürze hier heraufkommen und Sie befragen. Aber wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen ebenfalls gern ein paar Fragen stellen.«

Der jüngste Sohn der Familie Gresse sagte kein Wort.

»Ich möchte nur verstehen, was heute Nacht passiert ist … Können Sie mir sagen, wann Ihre Schwägerin den Hof verlassen hat?«

Einen Augenblick lang glaubte Martial, Pierre Gresse würde ihm nicht antworten. Der starrte ihn nur feindselig an. Schließlich aber streckte er die Waffen.

»Ich weiß nicht genau, wann es war. Irgendwann nach dem Essen, als sie mit der Arbeit fertig war.«

»Haben Sie sie weggehen sehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen.«

»Und wann haben Sie angefangen, sich wegen ihrer Abwesenheit Sorgen zu machen?«

»Ich habe mir keine Sorgen gemacht. Es war meine Nichte, die bemerkt hat, dass sie nicht nach Hause gekommen war. Sie hat uns geweckt.«

»Und wie spät war es da?«

»Kurz vor Mitternacht. Die Uhr hat zwölf geschlagen, kurz nachdem ich aufgestanden war.«

»Und dann?«

»Dann nichts. Amélie ist losgegangen, um sie zu suchen. Wir haben uns nicht von hier weggerührt. Und dann haben wir sie zurückkommen sehen, mit dem Bürgermeister, und sie haben uns gesagt, dass Yvonne tot in der Hütte von Cassaïre liegt.«

»Und Sie wollten nicht nachschauen gehen?«

»Nein, das wollte ich nicht. Alle wissen, warum sie in diese verdammte Hütte gegangen ist. Selbst der Tod meines armen Bruders hat sie nicht für lange zur Ruhe gebracht, wie es aussieht. Aber das bedeutet nicht, dass der Dreckskerl, der das getan hat, einfach so davonkommt. Ich mache ihn kalt, das schwöre ich bei Gott.«

»Wussten Sie, mit wem Yvonne sich treffen wollte?«

»Verdammt noch mal! Die Liste ist so lang wie mein Arm. Sie hat das immer schon gemacht, hat sich jederzeit und von jedem bespringen lassen. Soll ich Ihnen was sagen? Auch ich hatte was mit ihr. Das war vor meiner Heirat. Sie wusste, wie man einen Kerl heißmacht.«

»War sie jeden Abend auf diese Weise unterwegs?«

»Soviel ich weiß, war das seit Michels Tod das erste Mal. Deswegen hatte ich ja gedacht, das hätte das Feuer, das sie unterm Hintern hatte, gelöscht.«

»Erlauben Sie mir, mit Ihrer Nichte zu sprechen, Monsieur Gresse.«

»Tun Sie das. Sie ist oben, mit meiner Frau. Anscheinend hat der Doktor gesagt, wir dürften sie nicht allein lassen, bis er kommt.«

»Und wo ist Ihre Mutter?«

»In ihrem Bett. Sie kann sowieso nichts anderes tun als warten. Sie hat nach dem Pfarrer verlangt. Mein Cousin Jules wird ihn heraufbringen. Also lassen Sie sie gefälligst in Ruhe.«

»Eine letzte Sache: Es wird nötig sein, dass wir den Schutz Ihrer Familie organisieren.«

»Mein Schutz liegt da auf dem Tisch.«

»Wir wissen noch immer nicht, wer das getan hat. Sie sind nicht allein in diesem Haus. Denken Sie an Ihre Mutter und Ihre Nichte. Sie können nicht alles gleichzeitig überwachen.«

Pierre Gresses Antwort bestand darin, seinen Tabaksbeutel hervorzuholen.

»Ich muss an die Arbeit. Ich habe einen Hof am Laufen zu halten.«

»Seien Sie vorsichtig, Monsieur Gresse.«

Nachdem er sich in aller Eile eine Zigarette gedreht hatte, stand er auf und nahm sein Gewehr. Dann öffnete er die Tür zum Stall und verschwand.

»Soll ich unten warten?«, fragte Édouard, der im Hintergrund stehen geblieben war.

»Keineswegs. Ich möchte unbedingt, dass Sie an meiner Seite sind, und wenn Sie eine Frage haben, zögern Sie nicht, sich einzumischen.«

Hintereinander gingen sie die steile und schmale Treppe hinauf. Die Stufen knarrten unter ihrem Gewicht. Schnell erreichten sie einen kleinen Treppenabsatz. Zwei Türen, zwei Zimmer, der Gang war dunkel. Hinter der Tür gegenüber der Treppe war ein Lichtstreifen zu erkennen. Die linke war zu einem quadratischen Zimmer hin geöffnet, dessen einziges Fenster nach hinten hinausging. Die Decke war niedrig, der alte Dielenboden verzogen. Zwei große, ziemlich hohe Betten standen einander gegenüber, und in einem dritten, kleineren Bett in der hinteren Ecke lag Amélie. Mathilde saß frisiert und angekleidet neben ihr. Vom nächststehenden Nachttisch her spendete eine kleine Öllampe schwaches Licht.

»Wie geht es ihr?«, fragte Martial leise, während er sich näherte.

»Sie schläft mit Unterbrechungen«, erwiderte die junge Frau, deren im Schatten liegendes Gesicht vor Müdigkeit eingefallen war. »Sie hat große Angst gehabt.«

»Hat sie etwas gesagt?«

»Seit sie hergebracht worden ist, kein Wort.«

Aus dem anderen Zimmer knurrte eine Stimme: »Was ist los, Mathilde?«

Mathilde stand auf, um nicht schreien zu müssen. Sie ging zur Tür.

»Das sind die beiden Herren, die die Untersuchung führen.«

Da keine Antwort zu kommen schien, setzte sich Mathilde wieder.

»Wir müssten ihr ein paar Fragen stellen.«

Mathilde hatte nicht die Absicht, sich dem zu widersetzen. Sie schien sich schon seit Jahren nichts mehr zu widersetzen.

»Fragen Sie, ich schlafe nicht.«

Amélie drehte sich zu ihnen um. Dann richtete sie sich ein wenig auf und kuschelte sich gegen ihr Kopfkissen.

»Was wollen Sie wissen?«

Martial zögerte ein paar Sekunden.

»Woran hast du gemerkt, dass deine Mutter nicht nach Hause gekommen war?«

»Als ich raufkam, habe ich gesehen, dass ihr Bett leer war.«

»Wie spät war es da?«

»Eine Viertelstunde vor Mitternacht.«

»Und wann war sie weggegangen?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin vor ihr weggegangen.«

»Gegen halb zehn ist sie weggegangen«, erwiderte Mathilde an ihrer Stelle.

»Und, ohne zu indiskret sein zu wollen, wo warst du?«

»Ich war draußen. Ich hatte Dinge zu erledigen …«

»Was für Dinge?«

»Dinge wie ein Rendezvous …«

»Mit deinem Geliebten?«

»Nein, einfach mit einem Mann«, sagte sie unverblümt. »Auch ich habe meine kleine Hütte, die von den Calabrais, die letztes Jahr zum Holzfällen da waren. Sie steht in der Nähe vom Steinbruch.«

»Und wer war dieser Mann?«

»Bernard Cousinié.«

Sie antwortete ohne Zögern und ohne jede Verlegenheit.

»Dann hast du also, als du zurückkamst, Alarm geschlagen?«

»Ja, ich habe alle geweckt, sogar die alte Ziege nebenan.«

»Woher wusstest du, dass sie in der Hütte von Cassaïre war?«

»Dort geht sie meistens hin. Ich bin ihr ein paar Mal gefolgt …«

»Und was hast du gesehen, als du heute Abend zu dieser Hütte gekommen bist?«

»Es brannte Licht. Ich bin näher herangegangen und einmal leise drum herum, um durch eins von den Löchern zwischen den Brettern zu gucken. Da habe ich meine Mutter gesehen, wie sie dalag, und überall war Blut. Da bin ich querfeldein gelaufen, bis zum ersten Haus, auf das ich gestoßen bin. Es war das von dem, der hinkt.«

»Hattest du eine Lampe dabei?«

»Brauchte ich nicht. Ich kenne die Wege hier wie meine Westentasche, ich käme auch mit geschlossenen Augen überall hin.«

»Und du hast niemanden gesehen?«

»Nein.«

»Wusstest du, dass deine Mutter ein Rendezvous hatte?«

»Es war derselbe wie die letzten Male. Ich schätze, sie hatte sich in ihn vernarrt.«

»Das heißt?«

»Der große Typ aus dem Sägewerk, der, der wie ein Gladiator aussieht.«

»Rémi Fieu?«, fragte Édouard.

»Ja.«

»Woher weißt du das?«, frage Martial.

»Ich weiß es, weil ich ein-, zweimal dort war, um zu sehen, was sie machen.«

Ungeachtet all dessen, was sie in den letzten Stunden durchgemacht haben musste, wich sie keiner Frage aus.

»Wussten Sie Bescheid?«, wandte Martial sich an Mathilde.

»Ich wusste, dass sie sich mit jemandem traf, aber mit wem, wusste ich nicht.«

»Ihr Mann behauptet, Ihre Schwägerin sei seit einer Woche nicht weggegangen.«

»Das stimmt. Seit dem Sonntag vor Michels Tod.«

»Und wenn sie wegging, um welche Zeit kam sie dann zurück?«

»Nie sehr spät, elf Uhr vielleicht. Jedenfalls die Male, die ich mitbekommen habe, weil ich nicht schlief.«

»Und heute Abend haben Sie geschlafen?«

»Ja. Wir haben viel Arbeit, und ich konnte nicht mehr.«

»Und Ihr Mann hat auch nicht gemerkt, dass sie nicht da war? Hat er auch geschlafen?«

»Das weiß ich nicht. Mein Mann schläft nicht mehr in diesem Zimmer. Er hat sich unten im Stall eine kleine Ecke eingerichtet.«

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, wandte Martial sich wieder Amélie zu.

»Hast du, angesichts all dessen, was in letzter Zeit passiert ist, keine Angst, nachts rauszugehen?«

»Warum sollte ich Angst haben? Sie wissen, warum sie Angst haben müssen, oder nicht? Ich war noch zu klein damals. Das gilt auch für Mathilde. Wir haben nichts getan. Bei Pierre ist es anders, oder bei der Alten, die seit einer Woche zweimal am Tag ihrem Pfarrer beichtet … Die haben, schon bevor Sie aufgetaucht sind und ihnen das alles erzählt haben, gewusst, dass sie Angst haben müssen. In dem Moment, als Michel mit aufgeschlitztem Bauch gefunden wurde, haben sie es gewusst. Sie haben gewusst, dass er zurückgekommen ist. Ganz ehrlich, warum sollte ich Angst vor meinem Vater haben?«

Diese Antwort überraschte Martial.

»Wenn deine Mutter Angst hatte, warum ist sie dann weggegangen?«

»Weil sie es brauchte. Ich wusste, dass sie heute Abend weggehen würde, weil ich gesehen habe, wie sie ihre Nachricht geschrieben hat.«

»Ihre Nachricht?«

»Ja, sie und dieser große Kerl haben eine Art Code, wenn sie sich treffen wollen. Sie legt ihm morgens eine Nachricht mit dem Zeitpunkt des Rendezvous unter einen der Steine von seinem Mäuerchen. Heute Morgen sah es so aus, als wollte sie das Grab ihres Mannes mit Blumen schmücken … Ich bin ihr mit Abstand gefolgt. Und ich habe gesehen, wie sie im Weiler Les Buissonniers haltgemacht hat.«

»Und heute Abend bist du ihr nicht gefolgt?«

»Ich wusste, dass sie mit ihm zusammen war. Da gab es nichts Neues zu sehen … Sie treffen sich seit Monaten. Davor war es der Fleischer, davor der Hufschmied. Sogar mit dem Direktor der Molkerei hatte sie letzten Sommer was. Außerdem hatte ich keine Zeit, ich wurde erwartet. Bernard muss spuren, wegen seiner Mutter, die nicht will, dass er sich mit mir trifft. Aber er ist ganz verrückt nach mir …«

»Ist er der Einzige, der verrückt nach dir ist?«

»Vielleicht nicht. Ich kann nichts dafür, dass ich die Herren verrückt mache …«

»Du solltest dich ausruhen, Amélie«, versuchte ihre Tante die Befragung zu beenden.

»Aber ich schäme mich nicht! Niemand zwingt mich, und es ist nett. Na ja, meistens. Ach, wissen Sie, woher ich weiß, dass sie Julien Pujol getötet haben? Sie haben es gebeichtet, meine Mutter und die alte Ziege. Und der dicke Pfarrer hat mir alles erzählt. Hätte ich das gewollt, hätte er mir alle Geheimnisse aller bigotten Leute im Dorf erzählt, so glücklich war er über das, was ich mit ihm gemacht habe.«

»Gut, Amélie, ich glaube, diese Herren haben die Antworten, die sie erwartet haben, bekommen. Vielleicht machen wir jetzt Schluss. Du solltest nicht so reden. Verdammt! Deine Mutter ist gerade getötet worden!«

»Du hast sie ja auch so geliebt! Sie hat dich behandelt wie einen Hund, genauso wie die anderen übrigens. Erzähl mir nicht, dass du ihr nachtrauerst!«

Mathilde blieb die Sprache weg.

»Deine Tante hat trotzdem recht, Amélie. Du musst dich ausruhen. Die Gendarmen werden auch dich befragen. Versuch ein bisschen zu schlafen.«

»Muss ich ihnen antworten, wie ich Ihnen geantwortet habe?«

»Hast du uns die Wahrheit gesagt?«

»Die ungeschminkte Wahrheit.«

»Dann antworte ihnen ganz genauso … Vielleicht lässt du die Sache mit Abbé Goussier weg …«

Martial erhob sich vom Bettrand, auf den er sich gesetzt hatte, doch da packte ihn das junge Mädchen am Arm und zwang ihn, sich zu ihr zu beugen.

»Von Ihnen und Mademoiselle Purseau werde ich auch nichts sagen, machen Sie sich keine Sorgen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Von Ihrem romantischen Sonntagsspaziergang und auch nicht, was Sie heute Abend vor der Tür ihrer Schule zu ihr gesagt haben …«

Dann vergrub sie sich, ohne Martials Verlegenheit zu beachten, unter ihren Decken und drehte sich zur Wand.

Mathilde, die zu dem Schluss gelangt war, dass das junge Mädchen allein bleiben konnte, begleitete Martial und Édouard nach unten, wo sie ihnen einen Kaffee anbot. Unterwegs durfte sie sich das Gekeife ihrer Schwiegermutter anhören.

»Du gehörst an die Arbeit! Mein Sohn kann schließlich nicht alles allein machen!«

»Ich muss auf Amélie aufpassen, bis der Doktor hier ist«, sagte sie durch die Tür. »Gleich, wenn er fertig ist, bringe ich Ihnen Ihren Kaffee herauf.«

Als sie etwas später zu dritt am Tisch saßen, wollte sie sich dafür rechtfertigen, dass sie nicht allzu betroffen wirkte.

»Ich habe es noch nicht wirklich begriffen. Ich kann sie mir nicht tot vorstellen.«

»Sie haben sich nicht besonders gut verstanden?«

»Ich bin als Letzte in die Familie gekommen. Sagen wir, dass sie mir das regelmäßig aufs Butterbrot schmieren, Yvonne immer als Erste. Amélie hat recht: Man hat sich nicht besonders geliebt.«

»Ihre Nichte hat ein ganz schönes Temperament.«

»Sie hatte kein sehr gutes Beispiel vor Augen … Aber Sie dürfen auf ihre Großsprecherei nicht allzu viel geben. Sie ist kein so schlechtes Mädchen, als das sie gern dastehen möchte. Als Bastard der Familie hat sie immer kämpfen müssen. Und sie benutzt die einzigen Waffen, die ihr zur Verfügung stehen.«

Der Kaffee schmeckte nach nicht viel, aber seine Wärme tat ihm ungeheuer gut.

»Im Grunde hat die Aufhebung des Banns nicht richtig funktioniert«, sagte sie, mit beiden Händen die heiße Schale umfassend.

»Ist es die Angst, die Ihren Mann dazu treibt, im Stall zu schlafen?«, fragte Martial ganz direkt.

Die Frage überraschte Mathilde. Sie hob abrupt den Kopf, aber sie protestierte nicht, sondern entschloss sich zu antworten.

»Er hat sich an der Kleinen vergangen«, gestand sie, überaus verlegen. »Hinten in der Scheune, ich habe ihn dabei überrascht … Amélie hat sich gewehrt und konnte allein wegrennen, aber das Wesentliche habe ich gesehen. Es war im November. Er hatte sich mal wieder mit seinem Bruder angelegt, und er hatte mehr getrunken als sonst. Aber es war nicht zu entschuldigen … Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm schlafen und mir eine Matratze in die Küche legen würde. Aber dann hat Amélie alles erzählt. Das Einzige, was sie dazu gesagt haben, war, dass sie selbst schuld sei. Und sie fanden, es wäre besser, wenn Pierre eine gewisse Zeit woanders schlafen würde als im gemeinsamen Schlafzimmer. Also ist er in den Stall gezogen, und ich brauchte nicht in die Küche auszuweichen.«

Draußen waren Geräusche zu hören. Martial stand auf und ging zum Fenster. Er sah, wie der Milchmann die Kanister austauschte. Ein Jagdgewehr lehnte am Rad seines Wagens.

»Gestern Abend hatte sie das Melken übernommen«, sagte Mathilde hinter ihm. »Das ist ihre letzte Milch, die er da mitnimmt …«

Gleichzeitig sahen sie, dass Antoine Guiraud sich auf die Außentreppe setzte, wohingegen der Bürgermeister und sein Gespann verschwunden waren.

Mathilde ging zur Anrichte und holte eine weitere Tasse heraus.

»Er ist eigentlich kein schlechter Kerl«, fuhr sie fort, als sei sie nicht unterbrochen worden. »Wenn da nicht seine Mutter gewesen wäre, wenn da nicht sein Bruder gewesen wäre und dieser Hof, den er hasst …«

Sie ging noch einmal zum Fenster und öffnete es.

»Kommen Sie doch herein. Sie wollen sich doch da draußen nicht den Tod holen. Ich habe Kaffee gemacht.«

Ohne die Antwort abzuwarten, schloss sie das Fenster und setzte sich wieder.

Kurz darauf öffnete sich die Eingangstür und schleifte über den Boden, der durch die Feuchtigkeit aufgequollen war. Langsam, wie immer auf seinen Stock gestützt, kam Antoine Guiraud in die Küche.

»Immer noch ohne Zucker?«, fragte Mathilde und goss Kaffee in die saubere Tasse.

»Immer noch.«

Er setzte sich und legte seinen Hut auf den Tisch.

»Christophe musste zurück«, erklärte er mit einer Stimme, die an Volumen verloren zu haben schien. »Ich bin mit Serge hergekommen, um ihn zu benachrichtigen … Konnten Sie mit der Kleinen sprechen?«

»Sie hat ein paar Fragen beantwortet. Wir müssen das noch überprüfen, aber möglicherweise wissen wir, mit wem Yvonne sich heute Abend getroffen hat.«

»Würden Sie mir seinen Namen nennen?«

»Es könnte sich um Ihren Vorarbeiter handeln.«

»Rémi? Bei Gott! Das hätte ich nicht gedacht!«

»Wir werden ihn bitten, uns das zu bestätigen.«

»Dadurch wird er zum Verdächtigen.«

»Das hängt davon ab, wie er auf unsere Fragen antwortet.«

»Mein Gott! Wie konnte es nur so weit kommen?«

»Vielleicht, weil so manches Schweigen am Ende zu schwer wog«, entgegnete Martial.

»Ich wiederhole es, mein Freund. Wir haben keinerlei Beweise. Lediglich Tratsch …«

»Charles und Lucien hatten recht damit, nicht Ihrer Meinung zu sein«, mischte Mathilde sich ein. »Sie haben ihn getötet. Sie haben ihn in den Schweinestall gesperrt, weil er sich gesträubt hat, ihn allein zu reinigen, er hatte nämlich Angst vor den Schweinen. Sie wollten ihn kleinkriegen, indem sie ihn die Nacht über bei den Schweinen ließen, angeleint wie ein Hund. Alle fünf waren sie da: die Mutter, die beiden Söhne, Yvonne und Bascoul. Niemand hat sich gerührt, als er gefressen wurde. Und dann haben sie die Überreste im Wäldchen Mont-Vert beerdigt.«

»Wärst du bereit, das zu bezeugen?«

»Bezeugen? Sie werden alles leugnen. Die Gebeine liegen ja nicht einmal mehr dort. Warum sollten die Leute mir heute zuhören, wo sie vor zehn Jahren niemandem zuhören wollten?«

»Das war etwas anderes … Außerdem war damals Krieg. Wir hatten alle andere Sorgen.«

»Eine schöne Entschuldigung! Niemand hatte den Mumm, sich gegen die Gresses und ihren Clan zu erheben, das ist alles!«

Mathildes Wangen röteten sich immer mehr vor Wut.

»Seit wann weiß du das?«

»Immer schon. Seit Charles mir davon erzählt hatte. Und nach meiner Heirat ist es mir nach und nach gelungen, Pierre das eine oder andere zu entlocken, tröpfchenweise.«

»Warum bist du nicht zu mir gekommen, um mit mir darüber zu sprechen?«

»Mit Ihnen darüber zu sprechen? Sie hatten mich von einem Tag zum andern aus Ihrem Leben gestrichen!«

»Aber du warst verdammt noch mal verheiratet! Noch dazu mit dem Schlimmsten, den du hattest finden können!«

»Was glauben Sie? Dass ich die Wahl hatte? Dass meine Eltern mich noch lange zu Hause behalten hätten? Was wäre Ihnen lieber gewesen? Dass ich mit Lucien gehe? Daran haben Sie gedacht, geben Sie’s zu …«

»Er war mein Sohn! Verstehst du das?«

»Und er war der Mann, den ich geliebt habe … Den ich immer noch liebe.«

Mathilde hatte einen harten Blick. Kein bisschen ähnelte sie mehr der unterwürfigen, in dieser Familie und auf diesem Hof verlorenen Frau. Vielmehr strahlte sie Stärke aus.

Neben ihr wirkte Antoine Guiraud kleiner als sonst, älter. Er schwieg.

Édouard und Martial brachten ihn in seinem Kabriolett nach Hause, und auch während der gesamten Fahrt schwieg er hartnäckig. Wie die Eiche im Sturm drohte er nicht mehr lange standhalten zu können.