Kurort Bad Lichtenberg
Dezember 1944
N ataljas Gesicht hellte sich auf, als sie nach oben sah und die ersten Schneeflocken auf den Wangen spürte. Während sie stehen blieb und in den grauen Himmel starrte, ob der Schnee wohl in Regen überging, wurde sie von hinten leicht angestoßen, und ihr Klavierauszug, fest unter den Arm geklemmt, rutschte heraus und fiel zu Boden.
»Entschuldigung, tut mir leid … ich habe nach oben geblickt … ob es wirklich schneit …«
Natalja drehte sich um und lächelte, nur eine Schneeflocke reichte zu ihrem Glück, und nichts konnte es stören. Sie sah, wie der Junge den Auszug von der Straße aufhob und ihn ihr gab. Er hatte sich also auch über die wenigen Schneeflocken gefreut, wie konnte sie da ungehalten sein? Das Papier wellte sich ein wenig, der Auszug war nass, doch es machte nichts. Es schneite, und dieser blasse hübsche Junge sah sie so forschend an, dass sie ihn strahlend anlächelte. Wie alt mochte er sein? Vielleicht sechzehn, siebzehn? Seine blonden Haare waren etwas zu lang, doch das gab ihm ein romantisches Aussehen.
»Alexander«, stellte er sich vor und hielt ihr höflich die Hand entgegen. Bevor Natalja sie ergriff, deutete er mit dem Kopf auf den Klavierauszug. »Mondscheinsonate, du spielst Beethoven?«
Staunen hörte sie aus seiner Stimme heraus, sie zeigte sich auch in seinem Gesicht.
Natalja zögerte, er duzte sie einfach, hielt er sie noch für ein Kind? »Natalja«, stellte sie sich vor, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Ein schöner Name, ein russischer.« Sein Erstaunen wuchs. Sicher würde er sie jetzt fragen, wieso sie einen russischen Namen im nationalsozialistisch geprägten Deutschland trug, in das sie ja hineingeboren worden war.
Sie wusste es selbst nicht so genau. »Ich hatte eine russische Kinderfrau«, erzählte sie bereitwillig.
»Ach ja? Und sprichst du auch Russisch?« Sein Interesse wuchs mit seinem Erstaunen.
»Du bist ganz schön neugierig«, erklärte Natalja, erzählte aber doch weiter. »Ja, in meinen ersten Jahren habe ich nur Russisch gesprochen, und als ich dann aus Berlin hierher zu meinen Großeltern und meiner Tante kam, verstanden sie mich erst gar nicht.« Jetzt lachte sie in Erinnerung daran. »Damals war ich fünf«, fügte sie noch hinzu. War das falsch? Wenn er nachfragte, kam heraus, dass sie erst dreizehn war. Aber sie sah aus wie fünfzehn, das sagte auch ihre Großmutter Irene. Und sie hatte bereits eine musikalische Vergangenheit.
Sie war ein Wunderkind gewesen – schon im Alter von neun Jahren gewann sie in München einen Klavierwettbewerb und ein halbes Jahr später sogar einen internationalen Nachwuchswettbewerb. Mit dieser Vergangenheit war sie doch bereits fast erwachsen. Sie wurde verlegen, als Alexander sie weiterhin interessiert ansah. Natalja war nicht groß, und ihr schmaler Körper nahm ganz zarte weibliche Formen an, sie bewegte sich ein wenig linkisch, das hatte Großmutter Irene beanstandet. Sie müsse lernen, sich graziös zu bewegen. Das hatte zu einem heftigen Streit zwischen ihrer Großmutter und ihrer Mutter Victoria geführt.
»So ein Unsinn«, hatte Victoria erklärt, »setz meiner Tochter nicht diese veralteten Vorstellungen in den Kopf, das war schon zu meiner Zeit nicht mehr aktuell. Meine Tochter hat eine große Begabung, nur das zählt, außerdem ist sie hübsch. Basta.«
Das hatte Natalja zum Nachdenken gebracht. War sie nun einfach nur eine große Begabung oder doch auch hübsch? Schließlich war Victoria ihre Mutter und fand ihre Tochter aus diesem Grund hübsch. Sie selbst mochte ihre helle Haut, die Sommersprossen und die rötlichen Haare der Laverne-Frauen nicht. Die Jungen vom Kurfürstengymnasium, die oft vor der Mädchenschule der englischen Fräulein standen, neckten sie wegen der roten Haare. Rotfuchs, Rotfuchs, schrien sie ihr nach. Aber es waren einfach nur dumme Jungs, sie aber war bereits fast erwachsen und würde eine berühmte Pianistin werden. Sie sah jetzt Alexander an, der sie weiterhin stumm beobachtete. Was sollte sie jetzt sagen, da er schwieg? So standen sie voreinander, verlegen und unsicher. Dann aber antwortete sie. »Ja, ich spiele die Mondscheinsonate«, erklärte sie endlich und hob den Auszug hoch.
»Alexander, komm bitte, ich warte schon auf dich.«
Sie standen vor der Wandelhalle mit ihren Brunnen, und im Eingang erschien jetzt ein Arzt im weißen Kittel, der seine Ungeduld nicht verbergen konnte. Alexander wandte den Kopf, rief: »Ich komme ja«, und drehte sich Natalja wieder zu. »Wie du siehst, wartet man schon auf mich, leider.« Bedauernd hob er die Schultern.
Natalja erschrak. Wer hierherkam, um das Heilwasser der Brunnen zu trinken, war oft krank. Früher, oder ganz früher in der Steinzeit, wie es Natalja in Gedanken formulierte, kamen die Kurgäste hierher, um zu flanieren, sich in eleganter Robe zu zeigen und von Kellnern im Frack das Wasser in kostbaren Gläsern reichen zu lassen, um dabei über die neuesten Gesellschaftsereignisse zu klatschen. Das hatte Luise erzählt, doch wer jetzt kam, erhoffte sich Gesundheit aus der Quelle der Natur.
»Bist du … ich meine …« Sicher war es unhöflich, ihn zu fragen, ob er krank sei, aber …
»Ich war krank, aber jetzt geht es mir gut. Mein Vater glaubt an die Heilkraft dieses Brunnens, darum hat er mich hierhergeschickt. Einfach zur Erholung«, erklärte er leichthin.
Welche Krankheit hast du gehabt? Die Frage lag Natalja auf der Zunge, doch sie sprach es nicht aus. Aber sie wollte mehr wissen. »Bist du Patient in einer der Kliniken hier?«
Er schüttelte den Kopf. Er sei erst vor einer Woche hier eingetroffen und wohne bei seiner Großtante, Marlies Schwarz. »Ich kenne hier noch niemanden«, setzte er nach einem kleinen Zögern hinzu, »vielleicht könnten wir uns einmal treffen?« Seine Stimme klang unsicher.
»Ja, natürlich.« Nataljas Antwort kam, ohne nachzudenken. »Vielleicht Schlittschuhfahren?«, schlug sie mit einem Blick nach oben vor, denn die Schneeflocken verdichteten sich. In ihrer Fantasie sah sie sich bereits Hand in Hand mit Alexander über den zugefrorenen Weiher im Stadtpark gleiten.
Jetzt lachte Alexander. Wie hübsch er dabei aussah. Natalja spürte ihr Herz klopfen.
»Ja, das wäre schön«, stimmte er zu. Dann drehte er sich endgültig um, und mit einem »Wir sehen uns sicher, ich bin jeden Nachmittag um vier Uhr hier …« lief er auf den wartenden Arzt zu.
Natalja blieb noch einen Moment stehen, doch dann erschrak sie – auch sie wurde erwartet. Ihr Lehrer, Professor Geiger, wurde sehr schnell ungehalten, wenn sie sich verspätete. Keine Disziplin, sagte er dann regelmäßig. »Keine Disziplin, das Wichtigste für einen Künstler, hast du das noch nicht begriffen?«
»Ich bin erst dreizehn«, wandte sie dann jedes Mal ein, und jedes Mal erwiderte der Professor, das spiele keine Rolle, sie sei hochbegabt, und das bringe nun einmal Verpflichtungen mit sich.
Und so rannte sie jetzt los, vorbei an den Säulen der prunkvollen Wandelhalle, dann hetzte sie am Grand Hotel Deutscher Kaiser vorbei, bis sie in die kurze Privatstraße Am Anger einbog. Hier wohnte der berühmte Professor, der in Berlin vor drei Jahren ausgebombt wurde und seine Frau in den Trümmern sterben sah. »Durch Musik kannst du Schmerz verarbeiten. Und solange es Musik gibt, ist man nicht einsam.«
Seine Worte prägten sich Natalja ein. Denn war nicht auch sie einsam? Sie wuchs ohne Freundinnen, ohne andere Kinder auf, sie hatte nicht wie andere gespielt oder war durch den Park der Villa ihrer Großeltern getobt. Sie war eine schlechte Schülerin, bekam Nachhilfestunden, doch die meiste Zeit verbrachte sie am Flügel oder bei Professor Geiger. Das war ihr Leben, doch sie hatte nicht den Eindruck, ihre Kindheit verpasst zu haben. Nur die Musik zählte. »Eines Tages aber«, hatte Tante Luise ihr gesagt, »wirst du dich verlieben, und alles wird sich verändern, du wirst dich verändern. Denn die Liebe ist das Schönste und Bedeutendste, was man erleben kann.«
Das hatte ausgerechnet Luise, die Karrierefrau, gesagt, die das international renommierte Grand Hotel Deutscher Kaiser leitete. Als Luise ihr das sagte, hatte ihre Stimme traurig geklungen. Das hatte Natalja beschäftigt. Die Liebe sei das Größte? War das nicht ein Satz aus der Bibel? Es musste ja nicht das ganz große, alles verändernde Gefühl sein, von dem Luise gesprochen hatte, aber war man bereits verliebt, wenn man sich mit einem hübschen Jungen unterhielt und dabei Herzklopfen bekam? Der sich dazu auch noch über Schnee freute, so wie sie? Das war doch bereits eine erste Gemeinsamkeit, oder nicht? Das Anzeichen, verliebt zu sein?
Jetzt stand sie atemlos vor dem Gartentor des Hauses von Professor Geiger. Lang und anhaltend drückte sie auf die Klingel. Sie könnte behaupten, er habe ihr mehrfaches Läuten überhört. Doch schon öffnete sich die Haustür, und der Lehrer stand mit verschränkten Armen kopfschüttelnd dort und sah ihr missbilligend entgegen. Keine Chance einer kleinen Flunkerei.
»Es tut mir leid, der Schnee …«, versuchte sie eine Entschuldigung, bevor sie dem vorwurfsvoll schweigenden Professor ins Haus folgte.