Drei

Luise

L uise wartete im Wintergarten des Deutschen Kaisers auf ihre Schwester. Hatte sie die Verabredung vergessen? Victoria vergaß vieles in letzter Zeit, sie war überfordert mit der Führung und Erhaltung des Showtheaters, jede Saison zwei Inszenierungen, immer wieder neue Tänzer, neue Shows, wenig Einnahmen.

»Frau Direktor?«

Luise schreckte aus ihren Gedanken hoch.

Der Page Fritz stand vor ihrem Tisch. »Zwei Herren warten in der Halle auf Sie.«

Luise erhob sich und folgte dem Sechzehnjährigen, dessen Uniform ihm ein wenig um den schmalen Körper schlotterte. Er war freigestellt, musste nicht an die Front, wie inzwischen viele Jugendliche seines Alters, die man von der Schulbank wegholte, ein Gewehr in die Hand drückte und an eine der vielen Fronten schickte. Fronten, die nacheinander zusammenbrachen.

In der Halle standen zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, und als sie ihnen entgegenging, hoben sie den Arm zum Hitlergruß.

Als Luise endlich in ihre Suite zurückkehrte, wurde es bereits dunkel. Sie öffnete die Terrassentür einen Spalt, um die frische Winterluft hereinzulassen. Tief atmete sie durch. Immer noch in Anspannung, das Falsche gesagt zu haben.

Hatte man sie in eine verbale Falle tappen lassen, ihr etwas entlockt, was die Gestapo hören, sie aber nicht hätte preisgeben dürfen? Als das Telefon läutete, erschrak sie zutiefst, löste sich von der Terrassentür und ging zu ihrem Schreibtisch. Hatten die Beamten von der Gestapo eine Frage vergessen, sollte sie noch einmal zum Verhör nach unten kommen? Und das war es gewesen, sie hatten zwar höflich erklärt, sie hätten nur ein paar Fragen, bedankten sich, dass Frau Luise Laverne, die das Grand Hotel so erfolgreich leite, sich Zeit für sie nahm. Sicher wisse sie, dass das Hotel von führenden Parteimitgliedern hochgeschätzt wurde. Doch am anderen Ende der Leitung war die junge Frau der Telefonzentrale. »Ihr Fräulein Schwester will Sie sprechen.« Victoria erklärte hastig, es täte ihr so leid, sie habe einfach vergessen, dass sie verabredet gewesen waren. »Aber weißt du, ich habe den berühmten Opernregisseur Frank Welser …«

Hörte Luise ein leichtes Klicken in der Leitung, wurde sie bereits abgehört, oder versagten ihre Nerven? »Das macht nichts, Victoria, wir sehen uns ja am Sonntag zum Essen.«

»Ja, stimmt. Onkel Carl übrigens versucht schon seit Wochen, Felix dazu zu überreden, Ostpreußen zu verlassen, auch wenn es doch …«

»Wie geht es Mutter?«, unterbrach Luise sie.

»Gut«, sagte Victoria erstaunt. »Du weißt ja, sie kümmert sich um Kriegswitwen und Waisen, wie sie das schon während des vorigen Kriegs gemacht hat. Und sie strickt … das ist ihre Leidenschaft, bunte Pullis. Heute hatte ich einen an, und da …«

»Entschuldige, Vic, ich bin so furchtbar müde, reden wir doch am Sonntag weiter.«

»Ja, wenn du meinst, ich wollte dir etwas erzählen, aber wenn du nicht willst …«

Victorias Stimme klang eingeschnappt, wie Luise genau heraushörte, aber trotzdem wollte sie das Gespräch beenden, nichts sagen, was gefährlich werden konnte. Und so verabschiedete sie sich von ihrer Schwester und hängte schnell ein.

Sie wollte auch nicht über ihren Cousin Felix sprechen. Carls Sohn, der aus Ostpreußen wegwollte, doch die Regierung hatte entschieden, dass die dortige Bevölkerung nicht evakuiert wurde. Das sei nicht notwendig, obwohl die Rote Armee bedrohlich näher rückte.

Sie hängte ein. Sie musste vorsichtig sein, nachdem sie gerade ein Verhör der Gestapo durchgestanden hatte. Auch wenn die Beamten höflich und freundlich gewesen waren und ihr einfach nur ein paar Fragen nach Simon Roth stellen wollten. »Sie haben ihn doch gekannt, Fräulein Laverne?«

Simon Roth.

Der geniale jüdische Architekt, der nach dem großen Brand im Jahr 1918 den Westflügel des Hotels neu konzipiert hatte und später auch noch den Palmengarten nach seinen Entwürfen renovieren ließ. Simon, mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatte, die er so plötzlich beendete. Nur einen Brief hatte sie bekommen, den er einem Freund mitgegeben hatte, nachdem er ohne Abschied übereilt abgereist war.

Und nun jagte ihn die Gestapo. In Paris habe er einen Angehörigen der Wehrmacht niedergeschlagen, sogar tödlich getroffen, er, der Jude, habe sich der Résistance angeschlossen, die nahe Paris Deutsche gefangengenommen und getötet hätte.

Nein, sie wisse nicht, wo er sich aufhalte, und ja, sie habe eine Beziehung mit ihm gehabt, das hatte sie zugegeben, nachdem sie begriff, die Gestapo war darüber informiert. Ja, er sei damals nach Amsterdam gegangen, um ein Museum zu konzipieren, mehr wisse sie nicht. Sie war froh, dass sie damals den Brief zerrissen hatte, so wie er die Beziehung ohne Vorwarnung beendet hatte. Du musst mich vergessen, ich bin Jude …

Die Beamten hatten ihr eine Visitenkarte in die Hand gedrückt. »Wenn sich Simon Roth bei Ihnen meldet, sollten Sie uns umgehend informieren.«

Luise hörte die Drohung sehr wohl heraus und hatte es versprochen.

Nachdem sie das Gespräch mit ihrer Schwester so abrupt abgebrochen hatte, stand sie lange noch am Schreibtisch. Sie sollte sich beruhigen, sie hatte nicht gelogen, und sie hatte Vic unterbrochen, als sie von Felix erzählen wollte, sie hatte nichts preisgegeben, keinen Fehler gemacht.

Als sie ein Geräusch an der offenen Terrassentür hörte, erschrak sie. Ihr Herz jagte, und der Atem ging sofort wieder heftig. Sicher hatte sie sich getäuscht, eine Reaktion ihrer überreizten Nerven. Reglos blieb sie stehen und sah zur Terrassentür hinüber. Konnte es sein, dass die Tür dort leicht aufgestoßen wurde, der Vorhang sich bewegte? Und dann hob sich eine Silhouette im Halbdunkel dort ab, ein Geräusch, ein paar Schritte, eine männliche Stimme … bitte … Luise, hilf mir … und dann noch ein paar Schritte auf Luise zu, ein Schwanken, dann brach der Mann zusammen.

Luise zögerte nicht, sie beugte sich zu ihm hinunter, dem Mann, der offensichtlich Hilfe brauchte, der sie auch kannte, sah in sein Gesicht, das sich ihr entgegenhob. In seinen Augen las sie den verzweifelten Schrei nach Hilfe.

Es war Simon Roth.