Zehn

Bad Lichtenberg
Zur gleichen Zeit, Ende April 1945

Victoria

D a muss irgendwas passiert sein. Da unten wird ein Extrablatt verkauft, ich verstehe immer nur Benito Mussolini.«

Frank Welser drehte sich vom offenen Fenster weg und sah zu Victoria, die auf seinem Bett saß und sich gerade die Schuhe anzog. Dann lehnte er sich wieder weit hinaus. »Der Junge ist weg, offenbar hat er alle Blätter verkauft.«

Victoria nickte nur, trat dann neben ihn und legte den Kopf leicht an seine Schulter.

»Du bist schön, weißt du das?«

Victoria sah hoch und lachte ihn zärtlich an. »Du musst mir keine Komplimente machen, nur weil wir miteinander schlafen.«

Als sie erkannte, dass Frank durch ihre Bemerkung gekränkt war, verbesserte sie sich rasch: »Versteh mich nicht falsch, ich genieße unsere Beziehung. Aber ich bin nicht schön, ich bin zu groß, zu dünn und habe viele Sommersprossen.«

Einen Tag nach ihrem ersten Gespräch hatte sie mit Frank eine Affäre begonnen. Sie mochte ihn, vielleicht hatte sie sich auch einfach nur nach der Umarmung eines Mannes gesehnt, wer wusste das schon? Sie dachte nicht darüber nach, nahm es so, wie es kam.

Jetzt löste sie sich von ihm. »Ich muss gehen, ich habe der kleinen Viola versprochen, sie mit in die Probe zu nehmen. Aber ich habe sie auf den Abend verschoben, also gehe ich mit ihr ins Café Blum. «

»Du kümmerst dich sehr um das kleine Mädchen?«

»Natürlich, sie gehört zur Familie. Ihr Vater und sie leben in einem Albtraum. Nicht zu wissen, was mit der Mutter und den Brüdern passiert ist – leben sie noch, sind sie vergewaltigt, ermordet worden … gerade dies nicht zu wissen, ist eine Tragödie. Mein Vater versucht durch seine Kontakte, Näheres zu erfahren. Haben sie es bis zur Ostsee geschafft, waren sie auf der Wilhelm Gustloff, das aber wäre die große Katastrophe.«

»Das Schiff, das untergegangen ist?«

»Ja, die Briten haben es torpediert, weil sie es für ein Kriegsschiff hielten. Zehntausende sind mit dem Schiff untergegangen, und die Tragödie ist natürlich auch, dass man von den meisten Passagieren die Identität nicht kennt, es heißt ja, die Flüchtlinge haben zu Tausenden das Schiff gestürmt. Ein Schiff, bestimmt für tausendfünfhundert Passagiere, hatte plötzlich zehntausend an Bord. So, Frank, ich muss wirklich gehen. Und«, sie blieb direkt vor ihm stehen, »es gefällt mir, dass du mich schön findest.« Sie lächelte und küsste ihn rasch auf die Wange.

Sofort griff er nach ihr und zog sie an sich. »Geh nicht«, bat er. Für einen Moment gab sie nach und lehnte sich an ihn, während er ihr zärtlich durch die Haare fuhr. »Haben alle Frauen deiner Familie rote Haare?«

Victoria nickte. »Ja, das ist die Farbe der Laverne-Frauen, meine Mutter, meine Schwester Luise und auch meine Tochter Natalja.«

»Und von wem hat sie das Talent?«, fragte er leichthin. »Vom Vater?«

Victoria löste sich von ihm, hob unbestimmt die Schultern. »Kann sein, aber ich muss jetzt gehen.«

»Sie ist vierzehn, nicht wahr?« Er gab nicht auf.

»Wenn du es weißt, warum fragst du mich dann?«

Sie ging auf die Tür zu, öffnete sie bereits, doch Frank war schneller und stellte sich ihr in den Weg. »Ich erinnere mich an eine Spendengala im Hotel Adlon, auf der ein russischer Pianist ein kurzes Konzert gab. Der Skandal des Abends war, als er sein Spiel abrupt abbrach und mit einer sehr extravaganten Kostümbildnerin, bekannt in der Berliner Künstlerszene, den Raum verließ und, wie man sich erzählte, mit ihr in seiner Suite verschwand. Das war vor fünfzehn Jahren. Jeder wusste, dass diese Frau Victoria Laverne war.«

»Alles Spekulationen, nichts anderes. Im Übrigen«, lenkte sie ab, »übernachte ich heute wegen der späten Probe im Theater, also warte nicht auf mich. Tschüss.«

Schon fiel hinter ihr die Tür zu. Sie rannte die Stufen vom ersten Stock hinunter und hinaus auf den Rathausplatz, hier blieb sie kurz stehen. Frank hatte einen wunden Punkt bei ihr berührt. Je länger sie wartete, desto schwieriger wurde es, Natalja zu sagen, wer ihr Vater war.

Sie war unruhig, lief weiter, bis sie in die Hauptstraße einbog und hoch zum Theater im Palmengarten hastete. Atemlos blieb sie stehen, während sich ein Zeitungsjunge an ihr vorbeidrückte und ihr das Extrablatt vors Gesicht hielt.

DAS ENDE DES FASCHISMUS

Benito Mussolini wurde oberhalb des Comer Sees, nahe des Orts Giuliano de Mezzegra, von Partisanen aufgespürt und zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci ermordet.

Später wurden die Leichen an einer Esso-Tankstelle in Mailand aufgehängt.

Während die Gäste vom Restaurant Palmengarten aufsprangen und dem Zeitungsjungen das Extrablatt aus den Händen rissen, sah sich Victoria suchend um, bis sie Viola entdeckte. Sie ging auf sie zu. »Weißt du was? Wir gehen ins Café Blum, dort gibt es immer noch diese kleinen hohen Nusstörtchen – magst du? Weißt du, die heutige Probe habe ich auf den Abend verschoben. So können wir jetzt Törtchen essen gehen.«

Die Nusstörtchen zauberten ein kleines Lächeln auf das Gesicht des Kinds, und so legte Victoria den Arm um ihre Schulter, zog sie ein wenig an sich und ging mit ihr wieder zurück auf den Rathausplatz ins Café Blum.

Ihre Gedanken aber waren in Italien. Was bedeutete der Mord an Mussolini für Deutschland, für die Welt, ging nun der Krieg zu Ende? Fiel alles in sich zusammen?

»Warum schaust du so ernst?« Viola sah an ihr hoch. »Ist es, weil dieser Mussolini ermordet wurde, mochtest du ihn?«

Jetzt lachte Victoria. »Aber nein, nein, ich … ach nichts, komm …«

Sie wollte das Kind nicht mit ihren düsteren Gedanken beschweren, ihr nicht preisgeben, dass eine dunkle Angst in ihr hochstieg. Sicher war sie einfach nur müde.