Elf

Bad Lichtenberg

Luise

I m Deutschen Kaiser wurde getuschelt, nachts schleiche ein Mann durch die Gänge des Hotels, er verstecke sich, wenn der Page die geputzten Schuhe wieder vor den Türen der Zimmer verteilt habe. Ein Gast? Das war unwahrscheinlich, aber dann erinnerte man sich an ein früheres Gerücht vor Weihnachten, die Direktorin verstecke einen Juden.

Die Angestellten sahen sich schweigend an, denn seit gestern war bereits wieder die Gestapo im Haus, und man wusste nicht, was diese drei Männer wollten, wen genau sie suchten.

Als Luise hörte, dass Angehörige der Gestapo im Hotel gesehen wurden, sich jedoch nicht bei ihr vorgestellt hatten, wie das letzte Mal vor Weihnachten, erschrak sie zutiefst.

Damals, als Simon Roth in ihrer Suite zusammenbrach, damals, als sie den alten Mayer um Hilfe gebeten hatte. Versorgt wurde er diese ganzen Monate über durch die Nichte von Mayer über die Dienstbotentreppe. Sie begingen ein Verbrechen, wie die Regierung es nannte, ein Verbrechen, das aufs Schärfste bestraft wurde: das Verstecken eines Juden. Sie hatte immer geahnt, dass sie seit dem Verhör damals unter Beobachtung stand, aus diesem Grund hatte sie das Zimmer, in dem Simon jetzt lebte, gemieden, auch in den Nächten. Sie konnte nichts riskieren, nicht den alten Mayer und seine Nichte in Gefahr bringen, auch nicht sich selbst und Simon. So hatte sie ihn nur ein einziges Mal gesehen, als er in ihrer Suite zusammenbrach. Sie hatte die Nichte angewiesen, ihm zu sagen, es gehe ihr gut, jeder Kontakt auch über sie sei ausgeschlossen.

Und nun lief er also offenbar nachts durch die Gänge des Hotels? Konnte er die Einsamkeit, das Gefühl, eingesperrt zu sein, nach so vielen Monaten nicht mehr ertragen? Es wäre verständlich.

Ihr Wunsch, ihn zu sehen, ihm nahe zu sein, wurde in den vergangenen Wochen fast übermächtig. Doch sie durfte diesem Gefühl nicht nachgeben, sie hatte sich entschieden, ihn, sich selbst und den alten Mayer mit seiner Nichte zu schützen. Doch sie dachte oft an den Moment, als er in ihrer Suite zusammengebrochen war. Sie hatte sich vor ihn gekniet, ihn in ihre Arme genommen, ihn umschlungen, gewartet, bis sich sein Atem normalisierte und er sie ansah, mit diesem Blick der Angst, der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Der Blick des erbarmungslos Gejagten.

Sie würde diesen Ausdruck in seinen Augen, seinem Gesicht nie vergessen. Und in dieser Sekunde hatte sie sich damals entschieden, ihn zu schützen.

Heute saß sie in ihrer Suite am Schreibtisch, sah ein paar Dokumente und Angebote durch, doch sie blieb unkonzentriert. Dann traf sie spontan eine Entscheidung. Heute Nacht würde sie die Gänge ablaufen, suchen, sich genau umsehen. War es wirklich Simon, der die Einsamkeit nicht mehr ertrug, oder war es einfach nur ein exzentrischer Gast, der unter Schlaflosigkeit litt oder sogar schlafwandelte? Angespannt wartete sie, und so gegen zwei Uhr verließ sie die Suite, die Zeit, in der die Pagen die geputzten Schuhe wieder vor die Zimmer verteilt hatten und die Restaurants längst geschlossen hatten, wie auch die Bar.

So huschte sie die Treppe in den ersten Stock hinunter, stand an der Ecke, von der aus sie das versteckte Zimmer ohne Nummer gut im Blick hatte.

Sie wartete, und mit jeder halben Stunde wuchs ihre Anspannung. Sie konnte die Augen kaum mehr offen halten, lehnte sich an die Ecke und atmete durch. Nicht plötzlich im Stehen einschlafen … doch da, sie hatte sich nicht getäuscht: Die Tür des Zimmers öffnete sich vorsichtig einen kleinen Spalt. Jetzt erschrak Luise, plötzlich wieder hellwach. Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu, als sie von hinten angesprochen wurde: »Frau Laverne, können wir Ihnen helfen?«

Erschrocken fuhr sie herum, denn hinter den Sicherheitsleuten des Hotels tauchten zwei Männer auf. Sie mussten ihr nicht vorgestellt werden, sie wusste, wer sie waren: Beamte der Geheimpolizei.

Bevor sie sich aus ihrer Erstarrung löste, nicht wagte, sich zur Tür des Zimmers ohne Nummer umzudrehen, heulte die Sirene, grell, laut, bedrohlich. Und sie hörte nicht auf.

Fliegeralarm. War das ein Fehlalarm, eine Übung? Das war Luises erster Gedanke, denn in den Kriegsjahren hatte es hier keinen einzigen Alarm, keinen Luftangriff gegeben, die Flieger verließen ihre Route nach den Industriestädten nie. Der Alarm ging weiter, und jetzt öffneten sich die Türen der Zimmer und Suiten fast gleichzeitig, die Gäste drängten in Panik heraus, in Nachthemden, schnell einen Mantel übergezogen, in der Hand die Notfalltasche. An jeder Treppe gab es große Schilder mit der Wegbeschreibung in den Luftschutzkeller.

Luise zitterte, während die Sirene heulte und nicht aufhören wollte. Nur langsam kam sie zur Besinnung. Keine Übung, es war Ernst. Immer mehr Leute drängten an ihr vorbei, stießen sie in Panik, stürzten die Treppen hinunter, denn die Aufzüge durfte man in diesem Notfall nicht benutzen.

»Frau Direktorin, schnell!«

Luise wurde mitgerissen im Strom der Hotelgäste, panisch in ihrer Todesangst. Sie alle wollten in den Weinkeller, der bei Beginn des Kriegs zum Luftschutzkeller umgebaut und noch nie benutzt worden war.

Auch Luise hastete die Treppen hinunter, aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss. Die Sirene wollte nicht aufhören, und da kamen sie schon: ein tiefes Brummen, ein Donnern und dann Krachen. Das Krächeln langsam zusammenstürzender Mauern, das Geräusch von knisterndem Feuer. Luise lief weiter nach unten.

»Es hat die Wandelhalle und den Palmengarten getroffen«, schrie jemand vom Empfang.

Luise hastete zum Eingang des Hotels. Sie hatte nur einen Gedanken: Vic. Sie wusste, dass ihre Schwester eine Abendprobe im Theater im Palmengarten angesetzt hatte und dort im ersten Stock übernachten wollte.

Vic … mein Gott … Vic … Sie hetzte los, lief weiter, bis sie stehen blieb, das Tosen des Feuers warf sie zu Boden, überall nur Rauch. Staub, der ihr in die Kehle stieg und den Atem nahm, Flammen, die sich in die Mauern fraßen. Und in ihrem Schein erkannte sie, dass es die Wandelhalle nicht mehr gab, auch nicht den Palmengarten, das Theater, wieder ein Krachen, ein Splittern, das Bersten von Glas. Die Kuppel des Pavillons brach splitternd in sich zusammen. Überall standen schon Wagen der Feuerwehr, die Männer waren abgesprungen, kämpften sich durch Flammen und Rauch, um Menschen aus den brennenden Trümmern zu retten. Notärzte versorgten die am Boden liegenden Verletzten. Luise lief zwischen blutenden, stöhnenden Menschen hindurch, auf der Suche nach Victoria. »Vic«, schluchzte sie. »Vic, bitte sei am Leben, du kannst nicht gehen, nicht du, Vic …«

Dort, wo die Wandelhalle gestanden hatte, waren nur noch Ruinen im Staub zu erkennen. Luise stolperte, rappelte sich mühsam wieder auf, drängte sich weiter durch die Wagen der Feuerwehr, durch Schläuche, Rettungswagen und Ärzte.

Und endlich sah sie Victoria, sie lag zwischen Toten und Verwundeten, reglos, mit Staub überzogen auf einer Trage, die am Boden stand. Wie eine eisige Hand griff das Entsetzen nach Luise. Vic … war sie tot, lebte sie noch? Vic … wach auf, Vic …

Da blieb ein Feuerwehrmann bei ihr stehen.

»Meine Schwester«, schluchzte Luise, »was ist mit ihr?«

»Sie hat Glück gehabt, es gab zwischen Trümmern einen kleinen Hohlraum, das muss wohl der Orchestergraben des Theaters gewesen sein, da lag sie. Wir haben sie rausgezogen«, erklärte er schnell, wandte sich bereits wieder ab. »Sie ist noch bewusstlos, ein Arzt wird sich gleich um sie kümmern.«

Luise setzte sich auf den Boden, legte vorsichtig den Kopf ihrer Schwester in ihren Schoß, strich ihr zart den Staub aus Gesicht und Haaren. Vic aber blieb bewusstlos.

Endlich kam ein Arzt, kniete sich nieder, hob ihren Kopf, zog die Augenlider hoch, tastete sie ab und gab ihr dann hastig eine Spritze. »Sie hat eine Gehirnerschütterung, ich denke, auch mehrere gebrochene Rippen. Ein Bein ist zertrümmert, sie wird gleich ins Krankenhaus eingeliefert, wo man sie versorgen wird. Aber nur kurzfristig, wir brauchen die Betten für die Schwerstverwundeten. Warten Sie hier mit ihr, wenn es ihr schlechter geht, melden Sie sich.« Schon hastete er weiter.

Und Luise blieb, sie streichelte ihrer Schwester das Gesicht, die Haare und sah nur kurz hoch, als Johannes aufgelöst und blass neben ihr stand.

Johannes übernachtete in der Villa, und wie meist schlief er oben in seinem Turmzimmer. Er war der Erste, der durch die Sirene wach wurde, aus dem Bett taumelte und die Treppen hinuntereilte, »Irene« schrie, »Irene, Natalja, Viola, Felix, schnell, raus aus den Zimmern«.

Und da standen sie blass, in Nachthemden, erschrocken über das Krachen, das aus dem Ort zu ihnen hochdrang. Auch Felix erschien, er war noch angezogen, denn er verbrachte die Nächte schlaflos in seinem Zimmer.

»Schnell in den Keller«, rief Johannes ihnen zu. »Wo ist Carl?«

»Ich bin unten, ich arbeite«, schrie sein Bruder hoch, lief ihnen entgegen, half Irene, die durch ihre Schlaftabletten noch benommen war. Da hob er sie einfach hoch und trug sie in den Keller.

Dort erschien auch Wilma, die neue Köchin, verschlafen tapste sie aus ihrer kleinen Wohnung im Souterrain. »Ich mache heißen Kaffee«, schlug sie vor.

Doch Irene, die jetzt endlich ganz wach war, schüttelte den Kopf. »Warten wir noch …« Sie und Johannes wechselten besorgte Blicke, beide dachten an ihre Töchter.

Viola hielt sich die Ohren zu und weinte, als sie das Krachen hörten, die Sirenen der Notarztwagen. In stummer Angst um Vic und Luise saßen sie schweigend, die Hände verkrampft, die Gedanken bei den beiden Frauen.

Dann aber sprang Johannes von der Bank auf. »Ich werde hinunterlaufen.« Schon rannte er die Treppe vom Weinkeller hoch, durch die Halle zum Eingang. Die Familie konnte ihn nicht aufhalten.

Unterwegs hörte er die Entwarnung und lief weiter, kam unten an, jetzt hatte er inmitten von Rauch und Verwüstung seine Töchter entdeckt. Fast brach er aus Erleichterung zusammen, als Anspannung allmählich der Angst wich. Seine ganze Familie hatte den Angriff überlebt.

»Wir hatten solche Angst um euch, Luise. Ich dachte, das Hotel ist getroffen.« »Das ist es auch. Genaues weiß ich noch nicht, nur, dass die Fenster im Westflügel durch die Wucht des Angriffs zerborsten sind, und am Ostflügel ist eine Mauer in sich zusammengebrochen. Aber das ist jetzt alles unwichtig, denn Vic lebt.« Und da brach sie in Tränen aus, während über Vics Gesicht der Anflug eines Lächelns glitt und sie versuchte, nach der Hand der Schwester zu greifen.

Und da erkannte Luise, dass sie bei dem Luftangriff nur an Vic gedacht hatte, nicht aber an Simon Roth. Da stand sie auf, bat ihren Vater, bei Vic zu bleiben, und suchte ihn unter den Toten, suchte ihn unter den Verwundeten. Aber sie fand ihn nicht. Simon Roth war verschwunden.

Im Morgengrauen des nächsten Tages wurde das Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Die Wandelhalle war nur noch eine Ruine, schwarz vom Feuer, ein paar rauchende Säulen standen noch, und das Glasdach des Pavillons der Vögel lag in Tausenden von Splittern. Auch das Theater gab es nicht mehr, und im zerstörten Restaurant Palmengarten reckten sich ein paar Palmen, angesengt vom Feuer, in den Himmel. Und über allem flogen aufgeregt die Vögel des Pavillons, sie saßen auf den Ruinen, den Palmen, den Birken der Allee, zwitscherten und kreischten.

Sie waren überall, setzten sich auf Schultern der Retter, auf Ruinen, auf die Straße, sie flogen hoch, flatterten nervös herum, und einige erkannten ihre Freiheit und flogen hoch empor in den blauen Himmel.