Dreizehn

Bad Lichtenberg

Die Familie

Z wei Wochen nach Kriegsende erreichte Johannes eine Nachricht vom Roten Kreuz, die die ganze Familie zutiefst erschütterte:

Man habe einen kleinen Jungen gefunden, dessen Name Luitpold sei, das habe auf seinem kleinen Rucksack gestanden; den Nachnamen konnte man nicht mehr entziffern. Man habe ihn in der Nähe von Gotenhafen in der Danziger Bucht aufgegriffen, von dem aus die Wilhelm Gustloff in See gestochen sei.

Er spreche nicht, sei scheu, fast verhungert und habe sich herumgetrieben, bis ihn ein Passant aufgegriffen und beim Roten Kreuz abgeliefert habe. Dort sei er bis jetzt in einem Auffanglager gewesen. Das sei vier Wochen nach dem Untergang der Wilhelm Gustloff gewesen. Das Rote Kreuz hatte sich bei dem Anwalt Johannes Laverne gemeldet, da er über verschiedene Instanzen und Institutionen eine Suchmeldung aufgegeben hatte. Sie schickten ein Foto, doch selbst Felix oder Viola erkannten auf einem unscharfen Foto mit einem kleinen mageren Jungen Luitpold nicht eindeutig. »Und was ist mit Mama und Leopold?«, wollte Viola ängstlich wissen, doch diese Frage stieß auf banges Schweigen der Familie, die ihre schlimmsten Befürchtungen vor dem Kind nicht aussprechen wollte.

Eine Woche später, als Johannes am Telefon erklärt hatte, so genau könne man das Kind nicht identifizieren, meldete sich das Rote Kreuz noch einmal. Sie würden den Kleinen in Bad Lichtenberg auf der Fahrt nach Baden-Baden vorbeibringen – handle es sich nicht um Luitpold Laverne, würde er in ein Heim nahe Karlsruhe gebracht werden.

Die bevorstehende Ankunft versetzte die gesamte Familie in Aufregung. In zwei Tagen sollte es so weit sein.

Die Familie beschloss, dass an diesem Nachmittag nur Johannes, Felix und Viola den kleinen Jungen begrüßen sollten. Aber was, wenn es nicht Luitpold, nicht sein Sohn war? Felix konnte die Ungewissheit, jetzt, da Hoffnung bestand, kaum mehr ertragen. Aber er sollte sich noch nicht freuen dürfen, er musste abwarten. Wenn dieser Junge nicht Luitpold war, würden sie dann monatelang, vielleicht sogar Jahre warten, bis sie irgendwann dann erfuhren, seine beiden Söhne und Jette seien längst tot?

Sein Vater Carl versuchte, ihn zu beruhigen. »Wenn dieser kleine Junge nicht Luitpold ist, besteht immer noch jede Hoffnung, ihn doch noch zu finden. Wir werden die Suche nicht aufgeben.«

Viola aber sah sich das Foto immer wieder an. »Ich denke, es ist Luitpold«, erklärte sie, und in diesem Gefühl kaufte sie in dem Spielwarengeschäft der Stadt einen Teddybären. »Sicher hat er seinen verloren und freut sich über diesen neuen«, erklärte sie.

»Sie hat den Optimismus der Jugend«, erklärte Victoria ihrer Schwester. »Schade, dass man ihn im Laufe des Älterwerdens verliert.«

»Aber Vic, was redest du da. Wir beide waren immer optimistisch, haben an eine gute Zukunft geglaubt. Wie heißt der Wahlspruch der Lavernes?«

Victoria lachte. »Jaja, du hast ja recht. Nur nie aufgeben, egal, was passiert.«

Am angegebenen Termin waren wie vereinbart nur Felix, Viola und Johannes in der Villa.

Doch oben im ersten Stock hatten sich Natalja, Victoria und auch Luise am Geländer zusammengefunden, von wo aus sie einen guten Blick nach unten in die Halle hatten, selbst aber unentdeckt blieben. »Das dauert ja entsetzlich lange.« Felix konnte sich in seiner Ungeduld kaum mehr beherrschen.

Endlich, gegen Abend dann, hörten sie, wie ein Wagen durch das große Tor und die Auffahrt hochfuhr bis direkt vor den Eingang. Autotüren schlugen zu, während Johannes bereits an der Haustür stand und sie öffnete. Er sah zu, wie eine Frau und ein älterer Mann aus dem Auto stiegen und auf ihn zukamen.

»Mein Name ist Keller«, stellte sich die Frau vor. »Ich bin Ärztin, und das ist mein Mitarbeiter Fritz Müller.« Johannes begrüßte beide und führte sie in die Halle. In stummer Erwartung sahen Felix und Viola ihnen entgegen. Nach der Begrüßung erzählte Frau Keller, dieser kleine Junge habe wohl sehr viel erlebt und durchgemacht, er sei immer noch sehr traumatisiert. »Ich schlage Ihnen vor, den Jungen in psychologische Behandlung zu geben.«

»Ich denke, er braucht vor allem die Liebe seines Vaters und seiner Schwester«, war die ungeduldige Antwort von Felix. »Und wo ist er? Sie haben ihn doch hoffentlich mitgebracht?« Hatten sie umsonst gewartet und gehofft?

»Der Kleine ist noch im Auto. Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen, Sie also sind der Vater?«

Felix nickte stumm, er war blass, und jeder konnte erkennen, wie verzweifelt er war, wie unerträglich die Situation für ihn. »Bitte holen Sie ihn doch jetzt herein.«

»Ich wollte Ihnen ja nur erklären, dass der Kleine schwer traumatisiert ist. Auch wissen wir nicht, was passiert ist, da er nicht redet. Ich habe gehört, dass es hier eine sehr gute Klinik für traumatisierte Kinder und Jugendliche gibt, die Klinik von Professor Gebhardt.«

»Ja, aber jetzt holen Sie ihn doch bitte, oder soll ich das tun?« Felix lief bereits zur Haustür, doch da war Johannes schneller und hielt ihn zurück.

»Wir dürfen nichts falsch machen«, warnte er seinen Neffen. »Frau Keller weiß sehr genau, wie man vorgehen sollte.«

Frau Keller nickte, warf Johannes einen dankbaren Blick zu und ging hinaus.

»Sie wird gleich zurück sein«, versuchte ihr Mitarbeiter, Felix zu beruhigen.

Erst nach einer Weile kam Frau Keller mit einem kleinen Jungen an der Hand zurück, der sich jedoch hinter ihr versteckte. Sie drehte sich um, sprach leise auf ihn ein, bis er endlich hervorkam, da war Felix schon mit einem Schritt bei ihr. Doch der Kleine war schneller, er versteckte sich auf der anderen Seite.

»Luitpold?« Auf die sanfte Stimme von Viola hin tauchte er zögernd auf.

Und da stand er, ein blasser, abgemagerter Junge mit eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen. Seinen alten ausgefransten Teddybären, dem ein Auge fehlte, hielt er fest an sich gedrückt.

Stille herrschte in der Halle.

»Ich …« Felix wurde schwarz vor Augen, Schweiß brach ihm aus. »Ich …«

Wollte er sagen, er erkenne den Jungen nicht? Alle sahen auf ihn, doch da löste sich Violas Hand aus dem Griff des Vaters, sie ging auf den Kleinen zu und kniete sich vor ihn hin.

»Luitpold?« Ihre Stimme klang leise und sanft und voller Liebe. »Ich bin’s, deine Schwester, ich bin Viola. Erkennst du mich?«

Da glitt ein schwaches Lächeln über das blasse Gesicht des Jungen, er nickte, er sah sie an, und wieder lächelte er. Aber als jetzt Felix auch auf ihn zuging, wich er sofort zurück. »Luitpold, ich bin’s, dein Papa.«

Doch der Junge wich weiterhin zurück, in seinem Gesicht stand kein Erkennen, nur Abwehr.

Aber als Viola die Hand ganz langsam hob und ihm leicht über die Wange strich, da sah er sie an, traurig, verzweifelt, und dann begann er zu weinen. So warf er sich auf den Boden und weinte und schluchzte, bis man ihn endlich verstehen konnte. »Mama … Mama … ist vom Schiff aus ins Wasser gesprungen, ich habe ihr doch gewinkt … aber sie war nicht mehr da … einfach weg …«

Da setzte sich Viola neben ihn und zog ihn sanft an sich, doch Luitpold weinte und wiederholte immer wieder: »Aber sie war nicht mehr da … einfach weg … und Leopold ist auch weg … tot … er ist tot …« Man konnte ihn kaum verstehen, er stotterte, weinte, verhaspelte sich, dann schwieg er, und niemand brachte ihn dazu, weiterzuerzählen.

Von diesem Tag an verfiel er in Schweigen.