Fünfzehn

Bad Lichtenberg
November 1945

Felix

F elix lief ziellos durch den Ort, bis er vor der alten Villa stand, in der sich die Kinderklinik von Professor Gebhardt befand. Dort lebte sein Sohn Luitpold seit vier Monaten. Nach dem Zusammenbruch bei seiner Ankunft hatte Frau Dr. Keller bei Professor Gebhardt angerufen, er möchte bitte sofort kommen, ein Notfall.

Der Arzt war sofort da, und ohne Zögern hatte er Luitpold in seiner Klinik aufgenommen. Hier lebte der Kleine, leider ohne wesentliche Fortschritte. Nur seine Schwester Viola durfte ihn vorerst besuchen. Aber heute sollte Luitpold am Abend bei der kleinen Familienfeier anwesend sein. Wenn man das Gefühl habe, er fühle sich hier wohl, könne er allmählich sein Leben in der Familie aufnehmen. Irene war am heutigen Tag vor zwei Monaten gestorben, und der Abend war ihr gewidmet. Beate, Luitpolds Betreuerin in der Klinik, würde ihn begleiten und auch in der Villa übernachten, jederzeit bereit, ihn zurück in die Klinik zu bringen.

Professor Gebhardt hatte zuvor mit Felix gesprochen, ob er als Vater dieses Experiment gutheiße. Doch Felix hatte nur ratlos die Schultern gezuckt, er könne es nicht beurteilen. Felix glaubte seinem Sohn nicht, doch das verschwieg er. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Jette, die eine fantastische Schwimmerin war und eine Situation gut einschätzen konnte, von der Reling aus den Sprung ins tiefe Meer gewagt hatte. Einen Todessprung. Und dann hatte Luitpold noch gestammelt, sein Bruder sei erfroren und Mama habe ihn einfach neben den Weg gelegt. Niemals hätte sie ihren erfrorenen Sohn irgendwo liegen gelassen. Felix war der Meinung, das alles entspringe der Fantasie, der Angstvorstellung eines Kinds. Doch er schwieg.

Er war erstaunt, wie sehr die Ärzte das Kind ernst nahmen. Das Beängstigende für Felix aber war, dass sein kleiner Junge die Sprache verloren hatte.

Und heute also fand dieses »Experiment« statt: Luitpold kam über Nacht in die Villa. Er solle ein Gefühl für sein Zuhause bekommen. Professor Gebhardt glaubte fest daran, dass die nächsten Stunden richtungsweisend sein könnten. Es sei so wichtig, Luitpold ganz langsam in seine Familie zu integrieren, eine Familie, die ihm Halt und Liebe geben sollte. Aber es sei riskant, dieses Experiment vielleicht noch zu früh, es käme ganz auf das Verhalten der Familie an. Felix erschrak, als der Professor ihm eindringlich nahelegte, jetzt bitte alles zu tun, damit dieses Experiment gelänge und dem Heilungsprozess nicht schade. Felix aber gestand sich ein, dass er Angst hatte. Als das Rote Kreuz seinen Sohn gebracht hatte, lehnte Luitpold ihn so stark ab, dass Felix ihn nicht in der Klinik besuchen durfte. Luitpold war doch sein Sohn, er gehörte zu seiner schönen Vergangenheit, dem Leben in Ostpreußen. Aber es konnte sein, dass Luitpold sich daran erinnerte, wie sehr Felix und Jette gestritten hatten und er als Kind die Partei seiner Mutter ergriff, auch wenn sie tot war, was Felix einfach nicht glauben wollte. Es konnte sein, dass sie vermisst war, vielleicht ihr Gedächtnis verloren hatte, sich irgendwo in Kopenhagen oder sonst wo aufhielt, aber dennoch lebte.

Er starrte immer noch zur Klinik hinüber, die ganz versteckt hinter Kastanienbäumen in einem kleinen Park lag. Felix wurde nervös, er sah auf seine Armbanduhr. Nur noch eine Stunde, dann musste er zu Hause sein. Dann würde ein Wagen der Klinik seinen Sohn bringen.

Er drehte sich um, lief weiter und immer weiter durch den Ort, die Hauptstraße hoch, bis er vor dem Rathaus stand. Er ließ sich treiben, folgte einigen Kurgästen, die in der Halle vor dem Denkmal für Franz Laverne stehen blieben und die Inschrift lasen. Franz Laverne, der große Sohn dieser Stadt, er starb im Großen Krieg als Held. Franz, sein Cousin. Alle in der Familie waren sie berühmt oder anerkannt, doch er? Er fand nicht in sein Leben zurück, fand nichts, das ihn interessierte, um einen Neuanfang zu wagen. Luise, die erfolgreiche Managerin, die den Deutschen Kaiser bereits wieder in die Erfolgsspur gebracht hatte, Victoria, die ein Showtheater aufgebaut hatte. Auch wenn es jetzt zerstört war und sie betonte, sie sei an einer Wiederaufnahme nicht interessiert, sie würde wieder erfolgreich sein, egal, was sie anfing. Auch die vierzehnjährige Natalja, die bereits als Nachwuchstalent Preise gewonnen hatte – auch sie hatte das Erfolgsgen. Ach ja, und da waren ja noch die beiden Alten, wie er seinen Vater und seinen Onkel in Gedanken nannte. Sie schmiedeten Pläne, wie das neue Bad Lichtenberg aussehen sollte. Manchmal beneidete Felix sie um ihre Energie, eine Zukunft zu gestalten, und das, obwohl beide auf die achtzig zugingen. Auch bewunderte er seinen Vater Carl, immer noch geliebter Oberbürgermeister, vital, voller Pläne. Das Lager, das jenseits der Bahngleise entstand und aufgebaut wurde, war das Werk der beiden Alten . Ein Flüchtlingslager für die Witwen und ihre Kinder aus den Fluchtgebieten, für sie wurde gesorgt.

Und er, Felix? Er stand vor dem Denkmal für seinen Cousin, und im ersten Stockwerk herrschte sein Vater als Oberbürgermeister. Er aber war ein Schwächling, ein Erfolgloser. Abrupt drehte er sich um, blieb kurz vor dem Rathaus stehen, sah sich um, doch niemand beachtete ihn. So lief er weiter, er hatte immer noch eine Stunde. Eine Stunde Freiheit ohne den Erwartungsdruck seiner Familie. Vor einem Haus, in dem Angestellte der Stadt wohnten, blieb er stehen. Im ersten Stock lebte Olga Reimann, die Ornithologin. Die Gemeinde hatte noch nicht entschieden, ob man einen neuen Pavillon der Vögel errichten sollte – waren die Kosten dafür nicht zu immens, würde er sich rechnen?

Felix sah hoch zu ihrem Fenster. Er sollte umkehren, aber er brauchte sie an diesem Tag. Er brauchte Olga, ihren zarten Körper mit den kleinen Brüsten, immer noch diese Kindfrau, die sie mit sechzehn gewesen war, kindlich und doch auch erfahren. Und wenn sie sich liebten, sah sie ihn mit ihren großen grauen Augen an, das versetzte ihn in diesen sexuellen Rausch, den er in ihren Armen erlebte. Das erste Mal, als er mit Olga in ihre Wohnung ging, war an dem Tag nach Irenes Tod, als alle nur davon sprachen, dass Maxim zurückkam, Maxim, geliebt von Irene. Auch hier spielte er, Felix, keine Rolle. Und dann kam Maxim. Erst zur Beerdigung – hätte er nicht früher kommen können? Wo seine Großmutter ihn so geliebt hatte? Ein Egoist, der von der Familie gefeiert wurde, seit dem Tag seiner Ankunft.

Für ihn war der Besuch bei Olga eine Offenbarung gewesen. Sie gab ihm das Gefühl, ein besonderer Mann zu sein, sogar bedeutend. Doch jedes Mal, wenn er von ihr wegging, quälten ihn Schuldgefühle und Selbsthass. Langsam, Schritt für Schritt, näherte er sich jetzt der Haustür. Um diese Zeit war sie meist in ihrer Wohnung. Du kannst kommen, wann immer du willst, hatte sie ihm in einem Moment der Liebe ins Ohr geflüstert.

Doch dann blieb er abrupt stehen. Schlagartig fiel ihm ein, was seine Tante Irene wenige Wochen vor ihrem Tod zu ihm gesagt hatte. »Die ganze Stadt spricht davon, dass du dich zu dieser Olga Reimann schleichst, sieh dich vor«, hatte sie ihn gewarnt. »Hast du vergessen, dass sie unsere Familie zerstören wollte? Glaubst du wirklich, sie hat sich geändert?«

Irene, seine Tante, die er immer bewundert und geliebt hatte. Plötzlich empfand er ihren Verlust so stark, so intensiv, dass er nach Atem rang, sich umdrehte, die Hauptstraße entlanghastete und die Birkenallee hoch in die Villa rannte. Der Abend galt ihr, und die Achtung vor Irene hielt ihn zurück, sich zu Olga »zu schleichen«, wie seine Tante es genannt hatte.

Als er die Villa betrat, wurde er von allen herzlich begrüßt. Sein Onkel Johannes und sein Vater standen im Wohnraum, rauchten und diskutierten. Durch die offene Flügeltür des Wohnraums sah er direkt in das Speisezimmer. Hier saßen bereits Luise und Victoria, auch sie begrüßten ihren Cousin herzlich. Sein Blick fiel auf den festlich gedeckten Tisch, die Blumen, das Silberbesteck, die Kristallgläser, die gestärkte Tischdecke und die Servietten mit den eingestickten Initialen. Es war ganz nach Irenes Geschmack gedeckt worden. Jetzt stellte sich Viola neben ihn. »Luitpold ist schon hier«, erklärte sie. »Beate ist mit ihm in seinem neuen Zimmer.«

Da kamen auch Johannes und Carl zu ihnen, und kurz danach die Krankenschwester Beate, die Luitpold auf den Stuhl neben Viola setzte. Er war durchscheinend blass, schmal, und so klein, als wolle er nicht mehr wachsen. Seinen alten Teddy hielt er fest auf dem Schoß. Auch wenn der neue Teddybär, den Viola ihm gekauft hatte, beide Augen hatte und ein weiches Fell, hatte er ihn nicht haben wollen. Er brauchte den alten, seinen Teddy, der ihn in der schrecklichen Zeit seines Lebens begleitet hatte. Und Viola hatte ihren Bruder verstanden und setzte den neuen Teddy auf das Bord oberhalb ihres eigenen Betts. Während Beate ihm noch schnell ein Sitzkissen unterschob, begrüßte sie die Familie, erklärte, sie werde es sich im Wohnzimmer gemütlich machen, aber bereit, sofort zu Hilfe zu eilen oder den Professor zu rufen, falls es nötig sei. Auch als Johannes sie bat, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen und mit ihnen zu essen, lehnte sie mit einem Lächeln ab. »Dieser Abend gehört der Familie, ich bleibe im Wohnzimmer.«

Es wurde ein stilles Abendessen, mit besonderer Sorgfalt von Wilma gekocht. Irgendwann verlor Victoria die Beherrschung, weinte und erklärte, ihre Mutter sei doch immer da gewesen, und plötzlich sei sie weg.

»Sie ist i…m Hi…mmel, so … so … wie Mama und Leopold.«

Victoria hielt den Atem an, niemand redete, alle sahen erstaunt auf Luitpold. Er hatte zugehört, alles verstanden, und er hatte gesprochen. Die ersten Worte seit dem Ausbruch bei seiner Ankunft.

»Ja.« Luise war die Erste, die ihre Fassung wiedererlangte. »Ja, Luitpold, sie ist jetzt im Himmel, wie auch deine Mama und dein Bruder.«

»Unsinn. Wir wissen es nicht – wir wissen doch gar nicht, ob sie vielleicht noch leben.« Felix sprang auf.

Doch da drückte ihn sein Vater Carl auf den Stuhl zurück. Sein Blick warnte den Sohn, hör auf damit, verwirr das Kind nicht.

Und so schwieg Felix und presste die Lippen zusammen. Schon wieder hatte sein Vater ihn zurechtgewiesen. Luise aber erhob sich, ging um den Tisch herum zu dem kleinen Luitpold, der trotz Kissen kaum über den Tischrand sehen konnte, und strich ihm zart über das Haar. Er ließ es geschehen.

»Si…sind sie dort … zu…sammen?« Noch einmal sprach er, mühsam würgte er jeden Buchstaben heraus.

Und Luise und Victoria und auch Maxim nickten und erklärten, ja, sicher, sie seien oben im Himmel zusammen.

Da erhob sich Natalja. »Ich möchte für Großmutter etwas spielen, das hat sie sich gewünscht.« Unsicher sah sie in die Runde.

»Natürlich, komm, wir gehen ins Musikzimmer.«

Viola rutschte von ihrem Stuhl und half dem kleinen Bruder ebenfalls, die Füße auf den Boden zu stellen, den Teddy behielt er weiterhin fest im Arm.

Victoria zog sich an den Krücken hoch, die sie immer noch brauchte, da das Bein noch bandagiert war. Im Musikzimmer gruppierten sie sich um den Flügel, in Erwartung von Nataljas Darbietung.

»Zuerst spiele ich ein Stück von Mozart, das widme ich Großmutter, und dann eine Komposition von Liszt, die sie sich gewünscht hat.«

Natalja zog sich den Klavierschemel heran, setzte sich, machte ein paar Fingerübungen, klappte den Deckel des Flügels auf, nahm den Schoner von den Tasten und fing zu spielen an.

Das erste Stück war das Klavierkonzert Nummer 21 , Eine kleine Nachtmusik.

Dann setzte Natalja ab, drehte sich um und erklärte, jetzt käme das zweite.

Leise begann sie zu spielen, virtuos glitten ihre Hände über die Tasten, zart erklang die Melodie.

»Was ist das, kennst du es?«, flüsterte Luise ihrer Schwester zu.

Doch Victoria hörte sie nicht, sie sah unentwegt auf ihre Tochter. Erst als Natalja die Hände von den Tasten nahm, flüsterte sie zurück. »Es ist der Liebestraum von Liszt.«

»Und weißt du, warum Mutter sich dieses Stück gewünscht hat?« Luise kam aus dem Staunen nicht heraus.

Da wandte sich Natalja an ihre Zuhörer. »Großmutter hat gesagt, diese Komposition erinnere sie an die schöne Vergangenheit vor dem Großen Krieg. Und sie hat sich daran erinnert, dass im Sommer 1914 ein junger Pianist dieses Stück am Flügel des Palmengartens gespielt hat.«

Victoria war zutiefst betroffen. Was hatte ihre Mutter gewusst, ohne jemals zu fragen? Irene hatte vieles intuitiv erfasst, selten aber sprach sie über Gefühle.

Victoria blieb still, und die anderen spürten die Besonderheit dieses Moments. Sie sahen sich stumm an, lächelten sich zu, noch ergriffen von Nataljas Spiel. Maxim sah zu dem kleinen Luitpold hinunter, dessen Hand fest in der seinen lag und der zu ihm hochlächelte. Es war ein schöner, ein würdiger Abend für Irene Laverne.

Und ein Abend der Hoffnung, dass ein Kind wieder ein Kind sein durfte.