Bad Lichtenberg
Liebe Luise,
ich bedanke mich dafür, dass Du mich am 12 . Dezember 1944 aufgenommen hast. Ich bedanke mich auch bei dem Empfangschef Mayer und seiner Nichte.
Ich weiß, was Ihr für mich getan habt, und ich stehe für immer in Eurer Schuld.
Ich wurde erbarmungslos gejagt, weil ich Jude bin, mich in Paris dem Widerstand gegen das Naziregime anschloss. Hier fand ich Freunde, Verbündete. Ich wurde gejagt, als eine Gruppe deutscher Wehrmachtssoldaten uns aufspürten, einige unserer Gruppe töteten, die sich wiederum zur Wehr setzten und auch töteten. Es war ein feindlicher Überfall gewesen, und ja, auch ich habe mit dem Messer einen der Deutschen angegriffen und verletzt, aber getötet habe ich ihn nicht. Trotzdem wurde ich als jüdischer Mörder gejagt. Aber ich konnte flüchten.
Und dann kam ich zu Dir, der Frau, die ich liebte. Du hast mir geholfen, ja. Aber Du hast mich kein einziges Mal in diesem Zimmer ohne Nummer besucht. Du kannst Dir die Qual nicht vorstellen, was es bedeutet, monatelang in einem Zimmer eingesperrt zu leben, nicht weit entfernt von der Frau, die man liebt. Nachts bin ich durch die Gänge geschlichen, immer in der unsinnigen Hoffnung, Dich zu treffen, dass auch Du den Wunsch gehabt hättest, mich zu sehen.
Doch Du bist nicht gekommen.
Ich bin in dieser Nacht, als die Sirene losging, über die Dienstbotentreppe geflohen, ich habe den Moment der Verwirrung und Angst ausgenutzt.
Ich hatte Glück, mir gelang die Flucht nach Amsterdam, der Stadt, die mich vor Jahren aufgenommen hatte und in der ich eine Wohnung besitze.
Und ich fing wieder an zu arbeiten und konnte an die Erfolge der Vorkriegszeit anknüpfen.
So bleibt mir jetzt nur, mich zu bedanken. Für die Menschlichkeit, die Hilfe, die Ihr, Du und Mayer mit seiner Nichte, mir unter Einsatz Eures eigenen Lebens habt zukommen lassen. Aber eines habe endlich begriffen, es ging nur um Mitleid, nicht um Liebe.
Wir werden uns sicher treffen, denn die Global Investment Group gab unserem Büro den großen Auftrag, in Bad Lichtenberg die bedeutendsten Gebäude neu zu planen und aufbauen zu lassen. Aber das weißt Du ja. Ich werde selbst nicht kommen, sondern es meinem Team überlassen, die Planungen zu realisieren.
Lieben Gruß
Simon
Luise ließ den Brief sinken. Wie oft hatte sie ihn schon gelesen? Fast kannte sie ihn auswendig. Im Juli 1945 , zwei Monate nach Kriegsende, hatte sie ihn erhalten, doch nicht darauf geantwortet. Was hätte sie auch schreiben sollen?
Es ging nur um Mitleid, nicht um Liebe . Was hatte Simon sich dabei gedacht, als er diesen Satz schrieb? Wie konnte er nicht begreifen, dass sie alles riskiert hatte, um ihm zu helfen? Aus Mitleid ja, aber vor allem aus Liebe.
Die Erinnerung hatte sich eingebrannt, der Moment, als sie im Mai damals am Schreibtisch gestanden hatte, sich der Vorhang bewegte, die Terrassentür leicht aufging und ein Mann hereintaumelte. Schon hatte sie zum Hörer gegriffen, entsetzt, erschrocken, doch dann erkannte sie in diesem Mann Simon Roth. Da hatte sie sich vor ihn hingekniet und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Ein gehetzter verzweifelter Blick, »Hilf mir, bitte … Luise …«. Seine Stimme brach.
Da erhob sie sich langsam, zog ihn vorsichtig mit sich hoch, legte seinen Arm um ihre Schulter und führte ihn mit ganzer Kraft in das kleine Gästezimmer ihrer Suite. Fieberhaft hatte sie überlegt, dann lief sie hinunter zum Empfang, und sie war erleichtert gewesen, als Mayer noch dort stand. Luise wusste, dass er und seine Nichte Waltraud einer Gruppe angehörten, die Juden versteckten und ihnen, wenn es ging, zur Flucht verhalfen. So hatte sie ihn laut gebeten, noch einmal mit ihr die Termine für die neu angekommenen Gäste durchzugehen, das sei noch nicht geschehen und doch so wichtig, dabei schob sie ihm zusammen mit ein paar Listen einen kleinen Zettel über die Theke. Simon Roth ist in meiner Suite.
Mayer sah hoch, nickte, erklärte laut, ja, man solle das am besten gleich erledigen. Wäre es ihr in einer Viertelstunde recht, er käme hoch in ihre Suite, wenn sie wolle.
Beide wussten in diesem Augenblick, dass sie beobachtet wurden: von einem Mann im Ledermantel, der in der Nähe auf einem der Sofas saß und angeblich Zeitung las. Aber Mayer war gekommen.
Noch in dieser Nacht brachte er zusammen mit seiner Nichte Simon Roth über die Dienstbotentreppe in den ersten Stock hinunter und in das nummernlose Zimmer. Es gab die 12 , die 14 , doch keine 13 . Die Gäste seien abergläubisch, hieß es, und dieses kleine Zimmer, verbunden auf der anderen Seite mit der Dienstbodentreppe, blieb immer frei, vor allem, da es in seiner Einfachheit nicht dem üblichen Standard des Deutschen Kaisers entsprach. Sie hatten alles riskiert, um Simons Leben zu retten, sie, Mayer und seine Nichte. Fünf Monate lang versteckten sie ihn in diesem Zimmer, in Anspannung und Angst, durch Angehörige der Gestapo entdeckt zu werden. Angst um Simon, Angst um sich, Angst um Luise.
Luise legte den Brief in die Schublade ihres Sekretärs zurück und schloss ab. Jetzt also war der Moment gekommen, in dem sie sich nach über zwei Jahren wieder begegnen würden.
Ihr Blick ging zur Uhr auf dem Kaminsims. Die Architekten und Maxim warteten sicher schon auf sie. Und so straffte sie die Schultern, warf einen raschen Blick in den Spiegel, zupfte ihr Kleid zurecht, strich sich über die Haare und verließ ihre Suite.
Zwei Stunden hatte die Besprechung gedauert. Simon und sie hatten sich freundlich begrüßt und sachlich argumentiert, während sie die Pläne durchsahen. Manchmal berührte Simon wie zufällig ihre Hand, die sie sofort zurückzog. Manchmal trafen sich auch ihre Blicke, doch Luises blieb kühl und ließ sich nicht von seinen dunklen Augen einfangen. Simon war schmal geworden, er trug jetzt eine Brille, zwischen Nase und Mund zogen sich Falten, und in den dunklen Haaren zeigten sich silberne Fäden. Bemerkte er auch bei ihr die ersten grauen Haare, die Lachfalten um die Augen? Nach der Besprechung schlug Maxim vor, dass sich das Team im französischen Restaurant im Westflügel zu einem späten Mittagessen treffen sollte. Der Vorschlag wurde gern angenommen, doch Luise entschuldigte sich, sie habe noch etwas zu erledigen. Und so ging sie hoch in ihre Suite. Es war vorbei, die gefürchtete Besprechung war durchgestanden. Wie lange würde Simon wohl noch bleiben?
Sie packte ihren Koffer, da sie am nächsten Tag mit Natalja nach Paris fahren würde. Sie überlegte, stand vor dem Kleiderschrank, wählte aus, verwarf wieder. Würde sie nur ein paar Tage bleiben, oder doch länger? Sich Paris wieder erobern, abwarten, bis Natalja sich in dieser großen Stadt zurechtfand?
Es würde für das Mädchen ein großes Abenteuer bedeuten, Natalja, die nur Bad Lichtenberg, Baden-Baden und die Umgebung kannte. Als das Telefon läutete, ahnte sie, wer der Anrufer war. Sie ging in den Wohnraum und hob ab. Simon bat sie, zu einem kurzen Gespräch in die New York Bar zu kommen. »Lass uns reden.«
Luise zögerte einen Moment, doch dann entschied sie sich, ihn zu treffen. Sie konnte einem Gespräch nicht länger aus dem Weg gehen. Letztendlich wollte sie ihm sagen, was sie ihm damals nicht geschrieben hatte.
Simon erhob sich sofort, als sie die Bar betrat, die um diese Nachmittagsstunde noch fast leer war.
Sie begrüßten sich, Luise setzte sich auf einen der hohen Hocker und bestellte ein Glas Meursault . Ihren Lieblingswein. Simon schien nervös, und Luise beobachtete, wie seine Hand leicht zitterte, als er sein Whiskyglas auf der Theke abstellte. Erst als der Barkeeper den Weißwein gebracht und sich dann am Ende der langen Bartheke zu schaffen machte, fing Luise an. »Du willst reden? Hast du nicht damals in dem Brief deine Empfindungen klar ausgedrückt, alles gesagt? Wie du die Situation beurteilt hast?«
»Ich hatte erwartet, dass du mir antwortest«, wandte er ein.
»Warum, Simon, warum? Was hätte ich dir schreiben sollen? Ich war verletzt, was sollte ich da noch antworten?«
Simon schwieg, trank einen Schluck Whisky.
»Als du damals über die Terrasse bei mir eingestiegen bist, kam ich aus einem Verhör durch die Gestapo zurück, sie haben dich gesucht. Und trotzdem haben wir dir geholfen, Mayer, seine Nichte Waltraud und ich, und zwar ohne Zögern. Dich nachts zu besuchen, war zu riskant, für jeden von uns. Es bestand höchste Gefahr, und zwar die ganzen fünf Monate lang. Wir wussten, dass man dich immer noch suchte und dich hier in der Gegend vermutete. Wir ahnten, was du durchgemacht hast, als du von Paris aus über Straßburg, und über die Grenze hierher geflüchtet bist. Wir sahen es dir an, und wir haben alles getan, was möglich war. Waltraud zum Beispiel ist Tag für Tag ein hohes Risiko eingegangen, als sie dich über die Dienstbotentreppe mit Essen, Zeitungen und allem, was du gebraucht hast, versorgt hat. Sie musste aufpassen, dass niemand vom Personal misstrauisch wurde, wenn sie Essen abzweigte. Sie stand jeden Tag unter ganz besonderer Anspannung. Von dem alten Mayer mal abgesehen. Oder von mir«, fügte sie noch hinzu, da Simon schwieg. »Ich spürte, dass ich beobachtet wurde, fünf Monate lang. Jeden Tag hatte ich Angst, Angst um dich und um uns. Fünf Monate waren nicht nur für dich unerträglich, denn wir waren es, die dir geholfen haben. Du hattest Glück, Simon, du konntest während des Luftangriffs aus unserer Stadt fliehen. Was hast du dir dabei gedacht, dich nicht zu melden, zu schweigen? Ich war außer mir vor Angst, ich wusste nicht, bist du tot oder doch verhaftet worden? Und dann kam nach langer Zeit endlich dein eigenartiger Dankesbrief.« Luise zitterte, endlich hatte sie ausgesprochen, was sie nicht hatte schreiben wollen, es wäre sinnlos gewesen.
Simon schwieg, schwieg lange, und Luise trank ihren Wein und wartete. Endlich fragte er: »Warum hast du mir das nicht alles in einem Brief geschrieben?«
»Warum, Simon, warum? Willst du es nicht begreifen? Was ist mit dir los?« Luise war vom Hocker gesprungen und schrie ihn an, ihn, der so ruhig neben ihr saß. »Ich habe es nicht getan, weil du offensichtlich nichts begriffen hast. Es war Liebe, Simon, aus der ich dir half. Und du hast nur von Mitleid gesprochen. Für Mayer und seine Nichte war es ihre humanitäre Verpflichtung, aber ich, ich habe es aus Liebe getan.« Sie vergaß den Barkeeper, der mehrmals hüstelte, um der Direktorin ein Zeichen zu geben, nicht so laut zu streiten.
»Luise, ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll … zwei Jahre lang bin ich davon ausgegangen, dass du nur Mitleid mit mir empfunden hast, und jetzt behauptest du, es sei Liebe gewesen. Warum hast du mir das nicht geschrieben?«, setzte er eigensinnig hinzu. Auch er hatte sich erhoben, stand direkt vor ihr, auch er war laut geworden.
»Mein Gott, hör endlich auf, mich das zu fragen. Ich habe dich geliebt, Simon Roth, und natürlich empfand ich tiefes Mitleid mit dem Mann, den ich liebte. Aber nach deinem Brief wurde mir klar, dass du es nicht begriffen, nur Selbstmitleid empfunden, mir sogar noch Vorwürfe gemacht hast. Ich war verletzt, Simon. Was sollte ich da noch schreiben?«
Sie sah ihn an, doch Simon hatte das Gesicht abgewandt. Da er jetzt schwieg, wollte sie gehen, sie fühlte sich müde, unendlich müde.
Da aber griff Simon nach ihrem Arm. »Bitte bleib oder lass uns morgen reden, bitte. Ich werde für zwei Monate hier sein, wir hätten Zeit füreinander, es ist noch nicht zu spät, was meinst du?«
»Morgen«, sagte Luise, ruhig geworden, »morgen fahre ich mit meiner Nichte nach Paris.«
»Wie lange wirst du bleiben?« Simon ließ seine Hand sinken.
»Ich weiß es noch nicht, vielleicht«, hier zögerte sie, »bleibe ich einfach einige Zeit in der Stadt, in der ich einmal gelebt habe.«
»Und in der du deine große Liebe erlebt hast, nicht wahr?«
Fast musste sie über seine Eifersucht auf ihre Vergangenheit lachen. »Ja, Simon, in Paris habe ich meine erste Liebe erlebt.«
»Und wirst du ihn treffen?«
Luise hatte jeden Gedanken an François de Leclerc verdrängt. Nein, sie würde ihn natürlich nicht treffen. Letztendlich waren seit damals über dreißig Jahre vergangen, und zwei Weltkriege hatten die Welt verändert.
»Ich bin hier, Luise, egal, wann du zurückkommst. Ich bin hier.«
Luise nickte nur schweigend und verließ die Bar, ohne sich noch einmal umzusehen. Hatte Simon sie wirklich nicht verstanden?