Rom
Dezember 1947
, zur gleichen Zeit
E lisabetta, wie geht es dir?«
Liebevoll küsste Julian seine Mutter auf die Wange. Sie mochte es, wenn er sie mit der italienischen Form ihres Namens anredete. »Schau dich um, dann weißt du es«, lachte sie. »Wir arbeiten auf Hochtouren, um diese Präsentation so spektakulär wie möglich zu gestalten.«
»Die italienische Presse berichtet seit Tagen darüber«, erzählte Julian. »Du bist ein bewunderter Star der römischen Gesellschaft geworden.« Wieder lachte Elisabeth, dieses Mal geschmeichelt. »Ja, da kannst du recht haben, meine ›galleria tedesca‹ wurde von den Medien zur besten von ganz Rom gekürt. Aber dieses Mal ist es keine normale Vernissage, sondern etwas ganz anderes.«
»Ja, ich weiß, Elisabetta, und die Presse ist voll des Lobs für dich, dass du das organisiert hast.«
In einer Woche wurden Kunstwerke aus Privatbesitz gezeigt und zum Verkauf angeboten, der Erlös sollte Elisabeths Stiftung für römische Kriegswaisen zugutekommen. »Warum fängt die Präsentation schon um sechs Uhr an und nicht erst gegen acht oder neun abends?« Julian hatte ein Programmheft hochgenommen und einen Blick darauf geworfen.
»Ich habe zu einem Cocktail gebeten, ein kleines Champagnerbüfett, meiner Erfahrung nach ist das eine gute Zeit. Die Gäste sind in Kauflaune, trinken Champagner und können sich anschließend noch zu einem Abendessen treffen. Felix wollte auch kommen, aber leider schafft er es nicht«, erzählte Elisabeth. »Er schreibt mir, er müsse sich um die Kinder kümmern, und bedauere es sehr, dass es ihm nicht möglich ist.«
»Ja, das ist wohl so«, stimmte ihr Julian zu.
Doch er kannte die Wahrheit, Luise hatte geschrieben, Felix habe jede Lebensenergie verloren. Viola, sein Lieblingskind, habe sich von ihm abgewendet, da er sich ihr gegenüber gleichgültig zeige. Und um den kleinen Luitpold kümmert sich Maxim. Aber ich denke, wir müssen Verständnis haben, was Felix erleben und erfahren musste, das muss erst einmal verarbeitet werden. Er hat so lange daran geglaubt, dass Jette noch lebt, und als der Brief kam, über den ich Dir geschrieben habe, brach er vollkommen zusammen. Es ist sehr schade, dass er sich für eine Reise zu Dir und Eurer Mutter nicht aufraffen konnte, zumindest jetzt noch nicht. Lass ihm Zeit, das ist das Einzige, was ich Dir raten kann.
Julian teilte Luises Meinung, und da er seine Mutter nicht beunruhigen wollte, ließ er sie in dem Glauben, Felix sei ein guter fürsorgender Vater, nach allem, was geschehen war.
»Ariana!« Elisabeth drehte sich um und winkte ihre Assistentin zu sich.
Sie stand sofort neben ihrer Chefin. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte sie Julian.
»Wir müssen bis morgen Abend alles ausgepackt haben, alles muss verteilt werden oder an den Wänden hängen.«
»Bereits ab heute Abend werden Sicherheitskräfte die Galerie bewachen«, fügte Elisabeth hinzu.
»Kommt Ernesto auch zur Präsentation?« Ernesto war seit elf Jahren der Lebensgefährte seiner Mutter. Er war Besitzer eines großen Landguts in der Toskana, und während des Kriegs hatte Elisabeth dort gelebt.
Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Nein, er wird immer wunderlicher, er will gar nicht mehr vom Gut weg.« Sie wandte sich Ariana zu und gab ihr einige Anweisungen. Sie wusste, dass ihre junge Assistentin hoffnungslos in Julian verliebt war, und sie war nicht die Einzige, die den schönen Priester anschwärmte.
»Ein Verlust für die gesamte Weiblichkeit«, war Arianas Meinung. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, bevor sie wieder in den hinteren Teil der Galerie verschwand, doch Julians Gedanken waren noch bei seinem Bruder.
»Elisabetta, warum fährst du nach der Präsentation nicht einfach nach Bad Lichtenberg zur Familie, ich denke, Felix braucht dich«, fügte er vorsichtig hinzu. Als Elisabeth ihn überrascht ansah, sprach er schnell weiter. »Auch sollten Luitpold und Viola ihre Großmutter kennenlernen.«
»Machst du mir Vorwürfe?«
»Aber nein, das steht mir nicht zu.«
»Es ist so …«, fing Elisabeth zögernd an. »Ich habe es mir überlegt, aber Luitpolds Therapeut Dr. Gebhardt ist der Meinung, ich sollte nicht kommen. Noch nicht. Luitpold hat große Verlustängste, und wenn ich auftauche und wieder verschwinde, kann Luitpold das sicher nicht verkraften. Er sollte sich erst mental stabilisieren.«
Julian schwieg. »Ich denke«, sagte er dann vorsichtig, »du solltest auf dein Gefühl hören. Aber andererseits kann es doch sein, dass Felix und auch deine Enkel dich brauchen.«
Schweigend sahen sich Mutter und Sohn an. »Ich bin in deinen Augen egoistisch, nicht wahr?« Julian schüttelte den Kopf, er ahnte, was sie empfand. Sie wollte nicht mehr zurück. Sie konnte immer noch nicht Johannes gegenübertreten, dem Mann, der ihre große Liebe gewesen war. Und vielleicht immer noch ist, fügte er in Gedanken hinzu. Und der in seiner Liebe zu ihr so halsstarrig gewesen war und sie gehen ließ. Er wollte sie nicht an ihn, den alten Kerl, wie er sich selbst bezeichnete, binden, sie würde es eines Tages bereuen, und das hätte er nicht ertragen.
»Du machst schon das Richtige«, sagte Julian dann spontan und griff nach ihrer Hand. Er liebte seine Mutter und wollte nichts, was sie tat, infrage stellen müssen. »Ich gehe dann.«
»Ach bitte, bleib noch, ich warte auf einen Geschichtsprofessor aus Padua, der eine Originalzeichnung von Leonardo da Vinci oder einem seiner Schüler zur Verfügung stellt. Sie wird viel Geld einbringen. Ah, da warten sie bereits am Eingang, komm mit.«
Julian folgte seiner Mutter zum Eingang, um das Ehepaar zu begrüßen. Und Elisabeth stellte ihren Sohn vor.
»Wir kennen uns«, erklärte die Ehefrau des Professors und sah Julian direkt in die Augen. Es war Dottore Alberta Cassini, die Frau, mit der er eine Nacht im Kloster Giuliano del Monte verbracht hatte, die Frau, die er nicht vergessen konnte.
Elisabeth sah, wie blass Julian geworden war. »Monsignore, es freut mich, Sie wiederzusehen.«
Alberta trug die braunen Haare streng nach hinten gekämmt, gekleidet war sie in ein schlichtes dunkelblaues Kostüm. Unauffällig und dezent.
»Ihr kennt euch?« Der Professor wandte sich erstaunt seiner Frau und dann Julian zu. Er war etwas kleiner als Alberta, seine Haare mit Grau durchzogen. Ebenfalls streng nach hinten geglättet, betonten sie sein schmales Gesicht. Der Mund schien selten zu lächeln.
»Natürlich habe ich dir von ihm erzählt, er ist der Priester, der vom Vatikan geschickt worden war.« Sie lachte ein wenig, es klang hastig und um Gelassenheit bemüht.
»Kommen Sie, Professore«, forderte Elisabeth Albertas Ehemann rasch auf, »zeigen Sie mir die Skizze. Wir sind schon so gespannt.« Sie nahm ihn am Arm und drängte ihn sanft in den hinteren Teil der Galerie, wo Ariana neugierig herüberstarrte. Spürte seine Mutter die Spannung zwischen Alberta und Julian, war sie so offensichtlich? Auch für den Ehemann?
»Wie geht es dir?«, fragte Julian jetzt und versuchte, leicht und unverbindlich zu klingen.
»Gut«, antwortete sie. »Gut.« Doch während sie lächelte, zu ihrem Mann hinübersah und ihm zunickte, fragte sie: »Warum bist du damals nicht nach Sorrent gekommen?«
»Ich konnte nicht.«
Er wollte nicht erzählen, dass durch diesen Hilfspfarrer im Kloster die Nacht mit Alberta zu einem Skandal geworden war, der auch dem Papst zu Ohren kam.
Alberta sah auf ihre Hände hinunter und drehte an dem kleinen Rubin, den sie am Ringfinger trug. »Ja«, sagte sie dann und hob den Kopf. »Ja, ich weiß.« Sie standen sich stumm gegenüber, bis sie leise sagte: »Mein Mann muss morgen früh nach Padua zurück, ich aber bleibe bis zur Präsentation hier. Lass uns reden, bitte«, fügte sie hastig hinzu, während sie ihren Mann beobachtete, der die Skizze auspackte und sie Elisabeth und Ariana zeigte.
Julian zögerte – wie oft hatte er an sie gedacht. Und jetzt plötzlich stand sie vor ihm, die Frau, die er nicht vergessen konnte. Die einzige Frau, mit der er jemals geschlafen, die er geliebt hatte. Sie sah ihn an, wartete auf seine Antwort. Endlich nickte er. »Vor dem Pantheon, auf der Piazza della Rotonda. Morgen Nachmittag, vier Uhr?«
Da lächelte sie, dann ging sie auf ihren Mann zu, der noch bei Elisabeth und ihrer Assistentin stand. Sie wirkte glücklich, und auch Julian empfand tiefe Vorfreude auf den morgigen Tag. Er wollte nicht daran denken müssen, was daraus werden könnte, er wollte sie nur treffen, ihr zuhören, sie ansehen, wenn sie sprach. Mehr nicht. Mehr durfte nicht sein.
Es war ein kühler Nachmittag, als Julian zwischen den vielen Touristen vor dem Pantheon auf sie wartete. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, eine Jacke hatte er über die Schulter gehängt. Ihm war nicht kalt. Viele Blicke blieben an dem attraktiven schlanken Mann hängen. Nichts wies darauf hin, dass er Priester war. Julian war es gewohnt, dass man ihn ansah, er spürte die Blicke nicht mehr. Er wusste, er war ein schöner Mann, doch es bedeutete ihm nichts.
Plötzlich hatte er Angst, Alberta würde nicht kommen, vielleicht hatte sie ihrem Mann gebeichtet, was damals passiert war. Doch dann sah er sie. Sie trug einen leichten hellen Trenchcoat, helle Pumps und eine rote Clutch unter dem Arm. Die Haare fielen ihr bis zur Schulter, sie war leicht geschminkt und hatte die Ausstrahlung einer eleganten Italienerin, die in Rom lebte und mit einem reichen Mann verheiratet war. Suchend sah sie sich um, doch er winkte ihr noch nicht, plötzlich zögerte er. Er hatte den heutigen Nachmittag kaum erwarten können, aber jetzt fragte er sich, ob es richtig war. Was wollte er, nur die Erinnerung aufleben lassen? Sich wieder trennen, den Schmerz des Verlusts noch mehr spüren? War es sinnvoll, sich zu unterhalten, denn mehr durfte nicht geschehen. Er konnte nicht noch einmal gegen das Zölibat, dem er sich verpflichtet fühlte, verstoßen. Er hatte damals bei dem Heiligen Vater die Beichte abgelegt, und der hatte ihm die Absolution erteilt. Nicht noch einmal diesen Schmerz durchmachen, den Schmerz einer Liebe, die nicht erfüllt werden konnte.
In diesem Augenblick hatte sie ihn gesehen – sie lief, fast rannte sie auf ihn zu. Er sah die Liebe in ihren Augen, die Sehnsucht, die ihn betroffen machte, denn hatte nicht auch er sie empfunden, sie nur verdrängt? Sie umarmte ihn stumm, und so verharrten sie, bis auch er die Arme um sie legte und sie an sich zog. Sie mussten nicht sprechen, sie wussten, sie liebten sich und konnten nicht anders, als diese Liebe zuzulassen, alles zu riskieren, egal, was dann passieren würde.
»Wir brauchen Sorrent nicht, wir brauchen nur uns«, flüsterte Alberta, während sie ihn küsste und er den Kuss erwiderte und sie die Menschen um sich herum vergaßen.
Fünf Tage und sechs Nächte. Sie verbrachten sie in der Wohnung von Albertas Freundin. Man musste durch eine Toreinfahrt gehen und kam dann in einen Garten mit hohen Töpfen, in denen immer noch Blumen blühten. Dann stand man vor dem Eingang der Gartenwohnung. Es gab dort kein Telefon, und wenn sie etwas essen wollten, lief Alberta schnell auf die andere Straßenseite in ein Delikatessengeschäft und kaufte dort ein. Niemand konnte sie stören. Sie wurden sich nie genug, sie liebten sich, redeten, lachten und taten so, als gäbe es kein Morgen. Doch beide beobachteten die Uhr, die auf dem Kaminsims stand und ihnen zum Feind wurde.
An den kühlen Abenden zündete Julian den Kamin an, und sie holten alle Kissen, die sie in der Wohnung finden konnten, und setzten sich vor das Feuer. Sie tranken Wein, aßen ein wenig Käse, ein paar Feigen und redeten. Am letzten Abend erzählte Alberta über ihre Kindheit, der Vater, selbst Arzt, unterstützte seine Tochter in ihrem Wunsch, Medizin zu studieren. Doch das war ein schwerer Weg gewesen, bis sie als eine der wenigen Frauen die Erlaubnis bekam, ein Studium an der Universität Padua zu beginnen. Die männlichen Studenten machten ihr das Leben schwer, behandelten sie mit Ironie und von oben herab, wie Alberta erzählte, oder versuchten, sie an den Brüsten zu berühren. Sie wollten sich vergewissern, ob sie wirklich eine Frau sei, erklärten sie lachend. Selbst die Professoren verhielten sich überheblich und väterlich, und einer sagte zu ihr, sie sei doch wirklich hübsch, sie würde doch in jedem Fall einen Ehemann finden, wieso wolle sie studieren?
»Aber dann«, fuhr sie fort, »lernte ich Augusto, meinen Mann, kennen, er war der jüngste Geschichtsprofessor seiner Fakultät. Wir sind uns auf der Treppe der Universität begegnet, ich bin ausgerutscht, gestolpert, und er hat mich aufgefangen und mich an sich gezogen.« Jetzt lachte Alberta. »Und das unter dem Gejohle sämtlicher männlicher Studenten.« Da Julian schwieg, erzählte sie weiter. »Augusto war damals vierzig Jahre alt und ich zwanzig. Er war lange Zeit sehr zurückhaltend, er konnte einfach nicht glauben, dass ich mich für ihn interessieren könnte.«
»Aber das hast du.«
»Ja, Julian, das habe ich, und unsere Beziehung war, nein, sie ist auch jetzt noch sehr gut. Wir verstehen uns auf geistiger Ebene, wir können diskutieren, auch streiten, wir fordern uns gegenseitig, das erhält die Ehe frisch.«
»Und du wolltest nie Kinder haben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mein Mann fühlte sich zu alt, und irgendwie haben wir gespürt, dass ein Kind unsere Beziehung nicht enger machen würde, sondern uns entfremden.« Sie trank einen Schluck Rotwein aus ihrem Glas und stellte es auf dem Boden ab. »Jetzt, da ich zweiundvierzig bin, denke ich manchmal, ich habe etwas versäumt. Es gibt Zeiten, in denen ich es sehr bedauere, kein Kind zu haben. Aber es ist, wie es ist«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. »Außerdem hätte ich niemals meinen Beruf für ein Kind aufgeben wollen. Ich bin Oberärztin geworden, und das habe ich mir hart erkämpft, ich liebe meinen Beruf. Und mit einem Kind …« Der Satz blieb in der Luft hängen, dann aber wandte sie ihr Gesicht Julian zu. »Und du? Gibt es nicht Momente, in denen du bedauerst, auf eine Ehe und ein Kind verzichtet zu haben, bist du nicht oft einsam?«
»Nein, ich bin einen anderen Weg gegangen, und ich bereue es nicht.«
»Hast du diesen Weg, wie du sagst, eingeschlagen, weil du an Gott glaubst, oder geht es um Macht, Karriere, Ehrgeiz?«
»Das eine schließt das andere nicht aus«, sagte Julian ruhig.
Plötzlich schien alles gesagt, sie verstummten und sahen den Funken im Feuer zu, sahen, wie die Flammen niedriger wurden und nur noch zu Glut und Asche zerfielen.
»Ach«, es war, als suche sie noch ein Thema, sie wollte reden, nicht loslassen, nicht in verzweifeltem Schweigen verharren. »Gibt es deinen Bauernhof noch?«
Jetzt lächelte Julian. »Ja, ich war neulich bei Pietro. Es ist ein so schönes Anwesen, Pietro ist hoffnungslos überfordert, und auch die Witwe seines Sohns kann nicht alles übernehmen, vor allem nicht das Geschäftliche.«
»Willst du den Hof nicht einfach doch verkaufen?«
Julian schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin es meinem toten Freund schuldig, mich um seinen Vater und den Hof zu kümmern. Aber ich habe da so eine Idee, die muss noch reifen.«
Wieder schwiegen sie.
Als die Kaminuhr elf schlug, sahen sie sich an. Eine Nacht noch, einen halben Tag.
Da zog Julian sie an sich, und sie liebten sich und wussten, es würde das letzte Mal sein.
Erst am frühen Nachmittag des nächsten Tages zogen sie sich schweigend an. Sie berührten sich nicht mehr, sie verabschiedeten sich mit einem kurzen Wir sehen uns später. Bevor Julian ging, blieb er vor der Konsole an der Garderobe stehen, hier hatte Alberta bereits ihr Cocktailkleid aus gelber Seide hingehängt, und auf der Konsole lag ein Anhänger, ein einzelner großer Smaragd. »Dieser Anhänger gehört dir?« Erstaunt drehte er sich zu Alberta um. »Der muss ja ein Vermögen wert sein.«
Da schüttelte sie lächelnd den Kopf, nahm ihn und legte ihn sich um den Hals. »Er steht mir, findest du nicht?«
Der Anflug von Koketterie überraschte ihn. »Ja, schon, aber …«
Jetzt nahm sie ihn wieder ab und legte ihn zurück. »Er ist nicht echt«, erklärte sie. »Augusto hat ihn mir geschenkt, weil er mir so gut gefiel. Selbst wenn er nicht echt ist, war er teuer. Denn gearbeitet wurde er von einem sehr berühmten Juwelier, der oft genaue Imitate von Colliers herstellt. Weißt du, manchmal lassen die reichen Frauen die Originale im Safe und tragen dann die Imitate, aber man soll das natürlich nicht erkennen. Darum sieht man auch diesem Smaragd nicht an, dass er nicht echt ist.« Alberta zuckte mit den Achseln und lächelte wieder.
»Ich weiß nicht, das passt so gar nicht zu dir, dass du unechten Schmuck trägst. Warum nicht eine einfache Perlenkette, sie würde besser zu dir passen.«
»Ich habe einfach Lust, ihn heute Abend zu tragen. Es ist perfekt. Außerdem kommt zu diesem Event deiner Mutter die gesamte High Society Roms. Und ich bin mir sicher, alle Damen wollen heute ihren kostbaren Schmuck zeigen, und zwar die Originale. Die Presse berichtet schon seit Tagen über die Gästeliste der Schönen und Reichen. Da zeigt man, was man von Harry Winston und den anderen großen Juwelieren besitzt.« Wieder lachte sie.
Julian sah sie prüfend an, sie hatte ihm gerade eine ganz neue, kokette Seite von sich offenbart. Das brachte ihn dazu, sie anzulächeln, es zeigte eine weibliche Schwäche, die ihm gefiel. »Nun, wenn es dir Spaß macht.« Er nickte ihr zu, und schon schloss sich die Tür hinter ihm. Er wollte den Moment des Abschieds nicht hinauszögern. Er lief durch den Garten bis zur Toreinfahrt, ein letzter Blick zurück. Alberta stand an einem der Fenster, sah ihm nach und hob die Hand, um ihm zu winken. Es war der letzte Eindruck, der letzte Blick von Alberta.
Julian nahm sich ein Taxi und fuhr in seine Wohnung, die sein Vater ihm während seiner Studienzeit gekauft hatte. Er ging durch die stickigen Räume, öffnete die Fenster weit. Auf der Terrasse lehnte er sich gegen das Geländer und sah hinüber zum Petersdom und zum Vatikan. Dann ging sein Blick hinunter auf die Straße. Er erinnerte sich an den Moment, als er mit seinem Freund Klaus hier gestanden hatte und unten eine schwarze Limousine anfuhr. Die Leute waren neugierig stehen geblieben, denn es war ein Wagen des Vatikans, mit dem Kennzeichen CV . Der Chauffeur überbrachte ihm eine Einladung zu einer persönlichen Audienz des Papstes. Das war der Beginn seiner Karriere gewesen, um die er gekämpft hatte. Und wieder hatte er gesündigt, gegen das Zölibat verstoßen.
Er verließ die Terrasse und ging zum Telefon. Er rief seinen Sekretär im Vatikan an, er habe die vergangenen Tage für innere Einkehr gebraucht. »Ich werde jetzt zur Präsentation meiner Mutter in ihre Galerie fahren und komme am späten Abend in den Vatikan zurück.«
»Exzellenz, ich schicke Ihnen Ihren Wagen, in zwanzig Minuten wird er bei Ihnen sein. Sie sollten nicht mit einem Taxi fahren, Rom ist gefährlich geworden.«
Als Julian einhängte, lächelte er über die Fürsorglichkeit seines langjährigen Sekretärs.
So schloss er die Fenster, und während er wartete, ließ er sich auf sein Sofa fallen. Er verbarg das Gesicht in den Händen. Wenn Alberta in den Nächten geschlafen hatte, war er in den Garten hinausgegangen, hatte sich auf einen Stein gesetzt und versucht, zu beten. Es war ihm nicht gelungen. Alberta kannte die Qualen nicht, die er durchlitt. Die Qual, sie zu lieben, die Qual, sich schuldig zu fühlen, da er sie liebte. Sollte er überhaupt in die Galleria fahren, sie noch einmal sehen müssen? Fast war er versucht, zurück in den Vatikan zu fahren, doch dann dachte er an seine Mutter, die sich freute, wenn er kam.
Als es endlich klingelte, erhob er sich. Er würde zu spät kommen, es war bereits halb sieben. So verließ er hastig die Wohnung und das Haus.
Der Chauffeur öffnete ihm die hintere Tür, entschuldigte sich, er sei in einen Stau geraten. Das mache nichts, die Präsentation ginge ja bis circa acht oder neun Uhr, wichtig sei nur, dass er dabei sei. Während der Fahrt war Julian tief in Gedanken versunken, bis er hochschreckte, als der Wagen scharf bremste. »Ich kann nicht weiterfahren, Exzellenz, eine Polizeisperre.« Der Chauffeur drehte sich nach ihm um. »Da vorne muss etwas passiert sein.«
Julian erschrak zutiefst, überall Krankenwagen, Polizei und Leichenwagen.
»Ich versuch’s«, erklärte sein Chauffeur knapp und fuhr weiter, und als die Polizisten, die eine enge Sperre gezogen hatten, das Kennzeichen CV erkannten, winkten sie ihn durch. Kurz vor dem Eingang der Galleria bremste der Chauffeur scharf und blieb abrupt stehen. »Jetzt geht es wirklich nicht mehr weiter.«
Julian sprang aus der Limousine. »Was ist passiert?« Er packte einen Polizisten am Ärmel seiner Uniform.
»Eure Exzellenz, es hat einen brutalen Überfall auf die Galleria tedesca gegeben, ein Massaker. Noch ist unklar, wie viele Tote und Verletzte es sind. Aber mindestens zwanzig Tote …«
Julian spürte, wie sein Herz sich verkrampfte, wie Schwindel ihn packte. Mutter, schoss es ihm durch den Kopf … Mutter …
Vor dem Eingang nahmen Polizisten gerade ihre Mützen ab, neigten die Köpfe und schlugen das Kreuz, als mehrere Tote auf Bahren an ihnen vorbeigetragen und zu den wartenden Leichenwagen gebracht wurden. Julian drängte sich an ihnen vorbei, und da verrutschte auf einer der Bahren die Plane, schnell über die Tote geworfen, und Julian sah ein blasses Gesicht mit aufgerissenen Augen – sah sie ihn nicht direkt an? Um den Hals hing ihr eine Kette mit einem Smaragd, halb abgerissen, mit Blut verschmiert.
Es dauerte nur Sekunden, bis die Bahre an ihm vorbeigetragen wurde, Sekunden des Entsetzens, Ewigkeit des Grauens. Alberta. Julian taumelte, doch dann boxte er sich durch die Sicherheitskräfte bis zum Eingang der Galleria durch. Mutter, mein Gott, Mutter …
Auch hier verwehrte ihm die Polizei den Zutritt.
»Ich muss zu meiner Mutter, machen Sie mir sofort den Weg frei. Meiner Mutter gehört die Galleria, lassen Sie mich hinein … wissen Sie, wo … ist sie …« Die Sicherheitsbeamten ließen ihn nicht durch, doch da packte Julian einen von ihnen an der Schulter und stieß ihn mit aller Kraft zur Seite. Als ein anderer sich ihm in den Weg stellte, schlug er zu. Und da ließen sie ihn durch.
»Mutter«, schrie Julian. Er stand im Raum zwischen Verwundeten, Notärzten, Krankenschwestern, die Wunden verbanden, Blutungen stillten, und überall lagen Tote in ihrem Blut. Mutter …
Da endlich sah er Ariana am Boden knien und einer Frau helfen, den Kopf zu heben. Sie drehte sich nach ihm um, ohne ihn wirklich zu erkennen.
»Es war so grauenhaft«, schluchzte sie. »Fünf vermummte Männer sind hereingestürmt, sie wollten den Schmuck, nur den Schmuck … doch als die Gäste sich gewehrt haben, schossen sie, sie schossen, überall war Blut … ich …«
Ein Sanitäter nahm sie leicht am Arm. »Kommen Sie, Signorina, Sie bekommen eine Spritze.«
»Alles voller Blut … sie haben den Damen die Colliers vom Hals gerissen, die Ringe von den Fingern, den Männern die Uhren vom Arm … alles voller Blut …«
Da aber packte Julian sie heftig am Arm, ohne den Sanitäter zu beachten.
»Meine Mutter, was ist mit ihr?« Während der Sanitäter Ariana zu einem Krankenwagen führte, drehte sie sich nach Julian um. Endlich nahm sie ihn wahr.
»Ihre Mutter ist in die Klinik von Professore Lombardi gebracht worden, sie wird operiert. Es sieht nicht gut aus«, schluchzte sie.