Bad Lichtenberg
K annst du jetzt mal bitte deine schlechte Laune aufgeben?«
Marlies Groß, Victorias Rechte Hand im Opernhaus, reagierte gereizt, da Victoria sich nicht konzentrierte, erklärte, sie habe die Entwürfe für Cosi fan tutte noch nicht fertig, habe eigentlich auch keine Lust auf diese Mozart-Oper, da kein Etat zur Verfügung stehe. »Für nichts haben wir Geld, weder für Ausstattung noch für junge Sänger – einfach für nichts. Ich arbeite umsonst, und dein Gehalt ist ja nur …«
»Das ist jetzt nicht wichtig«, unterbrach Marlies sie hastig. »Das viel größere Problem ist die Baubehörde. Das Gutachten wird in den nächsten Tagen kommen, und ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Der Sachverständige hat die Bausubstanz im Zuschauerraum bemängelt, da kommt was auf uns zu.«
»Zur Not müssen wir das Haus schließen«, seufzte Victoria. »Ich habe mir so viel erwartet, gedacht, viel zu bewirken, aber …«
»Na ja, das Opernhaus ist Kulturerbe, da müsste doch die Stadt für die Renovierung aufkommen, wende dich doch mal an deinen Onkel, den Bürgermeister.«
»Der ist nur noch ein paar Tage im Amt, am Freitag ist seine große Abschlussfeier.«
»Und wer wird sein Nachfolger, weiß man das schon?« Victoria schüttelte den Kopf. »Na ja«, meinte Marlies, »wahrscheinlich will niemand das Amt übernehmen, es gibt zu viele Probleme. Die Stadt steht vor einer großen Herausforderung, kein Geld für den Aufbau des Bahnhofs, des Wohngebiets, dann kommen immer noch Flüchtlinge. Also dein Onkel ist klug, jetzt zu gehen.«
»Nein, er verlässt das Amt vorzeitig, weil es ihm gesundheitlich nicht gut geht«, erwiderte Victoria kurz angebunden. »Also bis in den nächsten Tagen, ich melde mich.«
Victoria nickte Marlies zu und verließ das Theater. Draußen blieb sie einen Moment stehen und atmete die frische Luft ein. Dann wühlte sie in ihrer Tasche, holte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und machte einen tiefen Zug, bei dem sie sich mit geschlossenen Augen für einen Moment an die Hausmauer lehnte.
»Guten Tag, Vic.«
Victoria öffnete die Augen, sie erschrak so sehr, dass sie sich die Finger an der Zigarette verbrannte und sie mit einem kleinen Aufschrei zu Boden fallen ließ. Dann sah sie wieder hoch. Vor ihr stand ein Mann, den sie nur durch die Stimme erkannte, es war Juri. Juri Petkov. Er trug Schirmmütze und Brille. »Juri«, ihre Stimme war nur ein fassungsloses Flüstern, »wo kommst du denn her?«
Er lachte sie an, sein Blick glitt an ihr hinunter, und sie sah sich mit seinen Augen: eine Frau in den Vierzigern, unfrisiert, einen dicken Schal um den Hals und Hosen, die sich ausbeulten, aber sehr bequem waren. Dass er sie erkannt hatte, erschien ihr wie ein Wunder. Und er? Groß, schlank, gut gekleidet. Mehr konnte sie nicht sagen.
»Du hast mich Vic genannt, du hast es nicht vergessen …«
»Nein, natürlich nicht, Vic.« Er sah sie an, und jetzt erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Ich bin seit ein paar Tagen hier und will mich auf meine Tournee vorbereiten, hier bin ich ungestört.«
Victoria dachte daran, mit welcher Energie und Zeitaufwand sie sich Karten für sein Konzert in Wien besorgt hatte, um ihn zu treffen. Und wie sie sich ausgemalt hatte, am Bühneneingang des Konzertsaals zu stehen, elegant, überlegen, lächelnd. Wahrscheinlich kindisch, wie ein Teenager. Und nun stand er hier vor ihr und erklärte, er bleibe für die Vorbereitung seiner Konzerte in Bad Lichtenberg. Es war fast zum Lachen. »Wieso ausgerechnet hier?«
»Es hat mir damals sehr gut gefallen, erinnerst du dich?«
Sie wandte das Gesicht ab. Schwieg.
»Wie geht es dir?«, wollte er wissen.
»Gut, wunderbar«, erklärte sie. »Sieht man das nicht?«, fügte sie ironisch hinzu. Juri überging die Ironie. »Ich habe in einer deutschen Zeitung gelesen, dass Bad Lichtenberg durch einen späten Luftangriff teilweise zerstört wurde. Darunter auch dein Showtheater, das du berühmt gemacht hast.«
»Jaja, das ist Vergangenheit, aber jetzt, nun ja. Ich versuche, das Opernhaus erfolgreich zu machen.«
»Es wird dir gelingen, wie alles, was du beginnst.«
Jetzt lachte sie. »Juri, bitte, du musst mir nicht schmeicheln.« Sie sah ihn an, er hatte sich verändert, schien ein anderer Mann zu sein. Anders, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber das war wohl normal. »Trägst du die Kappe und die Brille, um nicht erkannt zu werden?«
Er nickte. »Ja, aber ich denke, hier kann ich mich frei bewegen, wer kennt mich hier schon? Ich bin in den vergangenen zwei Tagen ohne Verkleidung herumgelaufen, niemand hat mich auch nur angesehen.« Jetzt lächelte er. »Nun ja, aber im Deutschen Kaiser sind viele internationale Gäste.« Er schwieg einen Moment, dann sah er sie direkt an. »Ich habe mich auch für diesen Ort entschieden, weil mein Sohn hier ist.«
»Dein Sohn?«
»Ja, das erzähle ich dir, wenn du mich besuchst. Heute Abend? Ich wohne direkt neben Professor Geiger.«
Das ging Victoria zu schnell. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht.«
»Morgen?«
Sie zögerte, dann sah sie ihn an. Er hatte die Brille abgenommen, und sie sah in seine tiefblauen Augen, ein Blick, der sie an den Juri der Vergangenheit erinnerte. Da nickte sie. »Gut, morgen Abend, acht Uhr?«
»Dann bis morgen, ich freue mich.«
»Warum hast du mir nicht geschrieben oder mich angerufen, dass du kommst?«, fragte sie noch schnell, als er sich bereits zum Gehen wandte.
»Ich wollte dich ansehen, wenn ich dir gegenübertrete. Sehen, wie du reagierst. Aber dass du so ablehnend bist, damit habe ich eigentlich nicht gerechnet«, gab er zu. »Also, wir sehen uns.«
Juris Bemerkung ging ihr nicht aus dem Kopf, als sie am nächsten Abend vor dem Spiegel stand und sich die Haare frisierte. Er wolle sehen, wie sie auf ihn reagiere.
Sie hatte erst nichts empfunden, als er ihr gegenüberstand, nur Erstaunen, Befremden. Doch dann auch Herzklopfen. Sie wühlte ihren Kleiderschrank durch, zog ein grünes Kleid an. Grün war immer schön zu roten Haaren, aber dann schlüpfte sie in eine schwarze weite Hose und einen leichten hellen Pullover. Es war ein erstes Treffen nach achtzehn Jahren. Sie würden sich unterhalten, vielleicht ergab sich auch die Gelegenheit, ihm von seiner Tochter zu erzählen. Sie musste sehr vorsichtig sein, denn nach so vielen Jahren plötzlich zu erfahren, man habe eine siebzehnjährige Tochter, das war sicher nicht so leicht zu verkraften. Dass Juri ihr vor Freude um den Hals fallen würde, schien unwahrscheinlich. Man musste abwarten, sehen, wie sich der Abend entwickelte. Sie legte etwas Rouge auf und zog die Lippen nach. Perfekt, stellte sie fest. Perfekt für ein erstes Gespräch, um zu erfahren, wie es dem anderen in den vielen Jahren ergangen war. War er noch verheiratet, wie ging es seinem Sohn, der vor dreizehn Jahren in der Charité an Krebs operiert worden war? War dieses Kind gestorben? Nein, überlegte Victoria dann, er hatte doch erzählt, sein Sohn sei auch hier.
Nachdem sie Juri wiedergesehen hatte, war sie neugierig auf alles, was ihn und sein Leben betraf. Sie wusste nur, während des Kriegs gab er in Amerika und Kanada Konzerte, vor allem in New York. Dort nahm er auch seine vielen Schallplatten auf. Das alles wusste sie von dem Besitzer der Musikalienhandlung der Stadt, bei dem auch Natalja ihre Klavierauszüge kaufte. Oder durch Besprechungen im Kulturteil der Zeitungen, private Interviews aber gab er nicht. Verspürte auch er diese Neugier auf sie, auf ihr Leben, auf ihre Zeit während des Kriegs?
Endlich war es so weit, sie hatte gesagt, sie käme um acht. Sie lief die Treppe hinunter, am Speisezimmer vorbei, rief hinein, sie sei zum Essen nicht da, und bevor neugierige Fragen sie verfolgten, war sie bereits aus dem Haus. Sie fuhr mit offenem Verdeck, denn es war ein warmer Frühlingsabend, und sie fand es schön, den Wind in den Haaren und auf dem Gesicht zu spüren. Und da erfasste sie endlich große Freude. Es war so weit! Nach so vielen Jahren traf sie Juri Petkov wieder.
Sie hielt vor dem Haus, wartete, dann öffnete sie das niedrige Gartentor und ging die paar Schritte zur Haustür. Als sie klingeln wollte, sah sie, dass die Tür nur angelehnt war. Vorsichtig trat sie ein. »Juri?« Doch es kam keine Antwort, nur aus dem hintersten Raum rauschte Klaviermusik auf. War das die Antwort auf ihr Rufen?
Zögernd ging sie nach hinten und stieß vorsichtig die Tür auf, die ebenfalls nur angelehnt war. Geblendet blieb sie stehen, überall standen in hohen Leuchtern Kerzen, deren unruhiger Schein sich in der glatten schwarzen Fläche des Flügels widerspiegelte. Dort saß Juri, und während er spielte, beobachtete er sie. Sie wandte den Blick ab, bis er an einem silbernen Kübel mit einer Champagnerflasche hängen blieb. Sie sah sich weiterhin um, bis sie im Schein der vielen Kerzen die offene Tür erblickte, darin ein breites Bett mit einer schimmernden Seidendecke, auch hier ein Leuchter mit flackernden Kerzen.
Ihr Blick ging zurück zu Juri. Aber sie sah nicht Juri, den Mann, den sie geliebt hatte, sie sah nur einen älteren Pianisten am Flügel sitzen, eine Melodie spielen und seine Wirkung auf die Frau ausloten, die reglos an der Tür verharrte. Die Musik setzte aus, Juri erhob sich und kam auf sie zu. »Schön, dass du gekommen bist«, sagte er lächelnd. »Magst du ein Glas Champagner?« Er trat ganz nahe zu ihr, sein Gesicht direkt über Victorias Gesicht.
Doch da löste sie sich aus ihrer Enttäuschung. »Juri.« Ihre Stimme klang belegt. »Bitte, so geht das nicht, ich bin gekommen, um zu reden, aber nicht, um dieses Spiel … diese Komödie mitzumachen. Ich möchte das nicht.« Sie hatte die richtigen Worte nicht getroffen, nicht finden können.
»Komödie, sagst du? Willst du mich beleidigen?«, fragte Juri heftig.
Victoria biss sich auf die Lippen. »Es ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber Juri, ich hatte andere Erwartungen, als ich hierherkam, und offenbar grundverschieden zu dem, was du dir vorgenommen hast. Aber was hast du dir dabei gedacht? Es tut mir leid, ich kann das nicht.« Sie wartete, doch als Juri schwieg, nur das Gesicht abwandte, da drehte sie sich um und verließ den Raum, dann das Haus. Sie ging zum Gartentürchen, drehte sich noch einmal um, aber er kam ihr nicht nach. Er stand auch nicht an der Haustür, als sie ins Auto stieg. So ließ sie den Motor aufheulen, machte eine scharfe Bremsung, drehte den Wagen und brauste davon.
Sie fuhr auf die Hauptstraße, dann weiter auf die Landstraße in Richtung Baden-Baden, immer weiter, sie steigerte das Tempo bis zum Limit und fuhr weiter und weiter. Irgendwann bremste sie, kehrte um. Erst vor der Villa spürte sie, wie kalt ihr war, sie hatte nicht gemerkt, dass sie immer noch mit offenem Verdeck gefahren war. Sie legte den Kopf auf das Lenkrad und biss die Zähne zusammen, um nicht loszuheulen. Während der Fahrt hatte sie jeden Gedanken ausgeschaltet, sich nur aufs Fahren konzentriert. Jetzt aber spürte sie die maßlose Enttäuschung. War das heute das endgültige Aus ihrer Beziehung – eine Beziehung ohne Kontinuität, aber mit einer so großen Intensität? Endlich stieg sie aus, öffnete die Haustür und blieb überrascht stehen, als sie sah, dass in der Bibliothek noch Licht brannte. Erstaunt ging sie darauf zu, doch da stand ihr Vater bereits in der Tür.
»Komm«, sagte er, »ich habe auf dich gewartet.«
Da ließ sie sich von ihm am Arm nehmen, sanft aufs Sofa drücken, spürte, wie er die Decke um ihre fröstelnden Schultern legte und ein Glas Kognak in die zitternde Hand drückte. »Trink«, forderte er sie auf, »du bist ja ganz ausgefroren, es wird dir guttun.«
Er setzte sich neben sie, und sie legte den Kopf an seine Schulter. »Wie schön, dass du da bist«, flüsterte sie, und jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Tränen der Enttäuschung, aber auch der Wut. Und dann erzählte sie von Juri Petkov, dem Mann, den sie geliebt hatte, als sie sechzehn Jahre alt gewesen war, als er vor dem Palmengarten den Liebestraum v on Liszt gespielt hatte, nur für sie. Und sie erzählte von Berlin, als sie ihn wiedergetroffen hatte – auch da saß er am Flügel und spielte den Liebestraum. Dann hatten sie sechsunddreißig Stunden miteinander verbracht. »Damals wusste ich noch nicht, dass er verheiratet war.« Sie erzählte, dass sein Sohn im Alter von acht Jahren an Krebs erkrankt war, da habe sie ihn und seine Frau zum letzten Mal gesehen. »Es war im Adlon, sie waren auf dem Weg in die Charité, und sie waren beide so verzweifelt.«
Und sie erzählte Johannes, dass Juri Petkov der Vater von Natalja war. Johannes hatte schweigend zugehört, ihr dazwischen noch einen weiteren Kognak eingeschenkt. »Jetzt weißt du es.«
Da lachte Johannes und fuhr ihr zärtlich durch die Haare. »Ach, Kind, das haben wir doch alle gewusst.«
Victorias Kopf fuhr hoch. »Wieso?«
»Zumindest geahnt«, relativierte Johannes. »Warum, glaubst du wohl, hat sich Irene gewünscht, dass Natalja den Liebestraum spielen sollte? Sie hatte es sich für die Feier nach der Beerdigung vorgestellt, aber du weißt ja, was da für ein Trubel geherrscht hat. Es war ein Hinweis, du hast ihn nicht verstanden. Aber das macht ja nichts«, fügte er rasch hinzu, als sich Victorias Augen wieder mit Tränen füllten.
So schwiegen sie, auch Johannes hatte sich einen Kognak eingeschenkt.
»Es war heute Abend so billig … so …« Sie konnte nicht ausdrücken, was sie empfand, Enttäuschung, auch Scham darüber, wie er sie einschätzte.
»Männer begreifen manchmal nichts«, hörte sie ihren Vater sagen, als sie schwieg. »Vielleicht wollte er heute alles richtig machen, ging vielleicht auch von eurer Vergangenheit aus, einem Moment, als er Klavier spielte und du darauf eingegangen bist, es schön gefunden hast.«
Da fiel Victoria der Abend der Wohltätigkeitsgala ein, als er am Flügel saß, sie vollkommen fasziniert zu ihm ging und er den Liebestraum gespielt hatte. Das war der Beginn ihrer aufregendsten gemeinsamen Zeit gewesen. Hatte er heute geglaubt, das funktioniere wieder? Nach so vielen Jahren gelebten Lebens? Offenbar.
Schweigend nickte sie.
»Gib ihm noch eine Chance«, riet ihr Vater, »er wird seinen heutigen Fehler sicher einsehen. Aber das Wichtigste ist, dass du mit Natalja sprechen musst. Du musst ihr sagen, dass Juri Petkov ihr Vater ist. Diese Gelegenheit wird sich nicht mehr so leicht ergeben. Und sie soll entscheiden, ob sie ihn sehen will, jetzt, da er hier in Bad Lichtenberg ist. Und du wirst sie nicht beeinflussen, hörst du, Vic? Es ist allein ihre Entscheidung, es hat mit dir nichts zu tun. Natalja ist erwachsen, sie ist jetzt siebzehn und in den vergangenen Monaten, seit sie aus Paris zurück ist, eine reife Persönlichkeit geworden.« Als Victoria nicht reagierte, die Augen geschlossen hielt, löste er sie sanft aus seiner Umarmung. »Es wird bereits hell«, flüsterte er ihr ins Ohr, stand auf und streckte sich.
»Danke, Papa«, murmelte Victoria und sah ihm nach, wie er zur Tür ging.
»Warum habt ihr nie gesagt, dass ihr gewusst habt, wer Nataljas Vater ist, wieso habt ihr geschwiegen?«, rief sie ihm nach.
»Ja, weißt du, Vic, wir sind eine eigenartige Familie, wir stehen uns sehr nahe, wollen, dass es dem anderen gut geht, aber wir sprechen nicht darüber, auch nicht über das, was uns bewegt.«
Am nächsten Morgen kam Victoria zum Frühstück herunter, als Viola und Luitpold bereits in der Schule waren, nur Natalja saß noch am Tisch und bröselte mit Weißbrot herum, während sie durch die Fenster in einen grauen Tag starrte.
»Natalja, ich muss mit dir reden. Es tut mir so leid, aber das hätte ich schon vor Jahren tun sollen.«