Bad Lichtenberg
E s regnete in Strömen, als Natalja in einiger Entfernung von Geigers Nachbarhaus stand. Dort also wohnte gerade Juri Petkov, der international renommierte Pianist, hemmungslos bewundert von Nataljas Lehrerin Eva Maximanovna. Petkovs Interpretation von Tschaikowskys dritter Symphonie sei genial. Das hatte Natalja noch im Ohr. Natalja aber hatte erklärt, nur Artur Rubinstein könne diese Sinfonie so spielen, dass man überwältigt sei. Und in Gedanken daran musste Natalja jetzt fast lachen. Was würde Eva Maximanovna wohl sagen, dass die Schülerin, die ihr oft widersprochen hatte, Juri Petkovs Tochter war?
Und ihre Mutter? Sie hatte es ihr vor einer Stunde gesagt. Gebeichtet, könnte man es fast nennen. Sie erschrak, als ihre Mutter plötzlich geweint hatte, sie habe einen großen Fehler gemacht. Und da war es Natalja, die ihre Mutter tröstete. »Ich habe einen Vater nie vermisst«, hatte sie schüchtern erklärt, während ihr ein Kloß im Hals saß. Sie wollte ihre Mutter nicht weinen sehen.
»Und ich habe dich auch nie nach ihm gefragt.«
»Es ist deine Entscheidung, was du jetzt machen willst.«
Dann erfuhr sie auch noch, dass ihr Vater für die nächsten Monate hier leben wollte. »Aber weiß er denn, dass ich seine Tochter bin?«, hatte sie gefragt.
Da hatte ihre Mutter gesagt, nein, noch nicht, sie hätten sich zweimal gesehen, kaum miteinander gesprochen. »Aber jetzt weißt du es wenigstens schon einmal. Und wie gesagt, es ist deine Entscheidung, was du tun willst.«
Natalja erinnerte sich an Mitschülerinnen, die eines Tages verweint und in Schwarz gekleidet in den Unterricht kamen, die Väter waren an der Front gefallen. Es gab auch Mädchen an der Schule, die ebenfalls von der Mutter allein aufgezogen wurden, da wusste man, dass die Eltern nicht mehr heiraten konnten, weil die Männer im Krieg gefallen waren. So wie bei Maxim. Auch er war unehelich geboren – was hieß das schon? Und jetzt plötzlich hatte sie einen Vater? Juri Petkov.
War sie von nun an nur noch die Tochter von ihm, würde man sie in der Musikszene mit offenen Armen aufnehmen, weil sie sein Kind war, und nicht mehr einfach nur Natalja Laverne, das Ausnahmetalent?
Nein, sie brauchte keinen Vater, auch wenn es Juri Petkov war.
Sie stand immer noch da. Wieso? Wollte sie dem Mann nahe sein, dessen Tochter sie war? Inzwischen war sie vollkommen durchnässt, aus den Haaren lief das Wasser, doch sie blieb stehen, sah zum Haus hinüber. Und da plötzlich öffnete sich die Tür, ein großer Mann lief durch den Vorgarten und hastete auf ein wartendes Auto zu. Als er die Tür öffnete, sah er zu ihr herüber. Hatte er gespürt, dass sie ihn anstarrte? Er verharrte einen Moment, dann winkte er, wartete. Er stieg in den Wagen, und erst da hob Natalja die Hand und winkte zurück, doch das sah Juri nicht mehr.