Bad Lichtenberg
H eute wollte Natalja ihren Plan ausführen. Durch den Herzinfarkt ihres Großonkels hatte sie ihn verschoben, doch Onkel Carl ging es gut, er war bereits in den Anbau der Villa gezogen und verstand sich prächtig mit seiner neuen Haushälterin, die sich auch auf Krankenpflege verstand.
Natalja lief die Birkenallee hinunter, vorbei an der Wandelhalle, dort zögerte sie, doch dann bog sie in die Straße Am Anger ein und blieb vor dem Haus stehen, in dem Juri Petkov jetzt wohnte. Ihr Herzklopfen spürte sie im ganzen Körper. Sollte sie klingeln, rufen oder einfach warten, bis Juri herauskam und sie fragte, warum sie hier stand? Nein, das war eine dumme Idee.
Sie entschied sich fürs Klingeln, doch niemand öffnete. Auch die Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen, und das gesamte Haus wirkte unbewohnt. Es war sechs Uhr abends, vielleicht war er bei seinem Freund, dem Professor. Noch einmal ein langes Klingeln, Warten, es blieb still. Damit hatte sie nicht gerechnet, sie hatte sich jedes Wort überlegt, das sie Juri sagen wollte. Sie sei Natalja Laverne, Tochter von Victoria Laverne und siebzehn Jahre alt. Sie gelte als großes Nachwuchstalent als Pianistin. Sie war sich sicher, dass er dann reagieren würde, verstehen, wer sie war, nämlich seine Tochter. Er würde sie in die Arme nehmen, erklären, er sei stolz auf sie, und es sei doch sehr schade, dass sie sich erst jetzt kennenlernten. Aber es war ja nie zu spät. Und er würde sie einladen, ihn auf seiner Tournee zu begleiten. Hoppla, schoss es ihr da durch den Kopf. Das wollte sie ja gar nicht. Sie wollte nicht die Tochter von Juri Petkov sein, sie wollte als Natalja Laverne ihre Karriere starten. Ihre Gedanken gingen mit ihr durch. Das waren dumme Gedanken, schalt sie sich, wartete noch einen Moment, dann drehte sie sich enttäuscht um. Ihre Anspannung, die Erwartung, alles fiel in sich zusammen, da es sich anders entwickelte, als sie gedacht hatte.
Zögernd drehte sie sich ab, ging den Weg zurück. Es hatte sie so viel Energie gekostet, hierherzukommen, und jetzt war alles umsonst.
Sie ging weiter, bog auf die Hauptstraße ein und wurde langsamer. Das Herzklopfen kam zurück, denn dort stand Alexander. Er unterhielt sich mit einem Arzt. Natalja wartete, bis der Arzt sich verabschiedete, Alexander kurz auf die Schulter klopfte und ging. Da lief Natalja auf ihn zu und stand atemlos vor ihm. »Alexander, seit wann bist du zurück?«
Er strahlte sie an, doch er schien noch schmaler, noch blasser geworden zu sein. »Ich war weg, tut mir leid. Ich bin erst vor einigen Tagen angekommen.«
»Du hättest mich doch anrufen können, oder mir schreiben, oder deiner Großtante etwas für mich ausrichten oder … ich weiß nicht, was …«
»Es tut mir leid, wirklich. Es ging einfach nicht, und meine Großtante ist inzwischen gestorben. Weißt du was?«, fuhr er schnell fort. »Ich lade dich in den Deutschen Kaiser zum Abendessen ein, ich habe gehört, ab sechs Uhr sind die Restaurants dort geöffnet. Es ist jetzt sechs Uhr, hast du Lust?«
»Ja, natürlich.« Nataljas Freude war groß, die Enttäuschung, Juri nicht angetroffen zu haben, verflogen. Im Deutschen Kaiser entschieden sie sich für das französische Restaurant. Es war der richtige Rahmen, entschied Natalja in Gedanken, denn sie wollte ihm von Paris erzählen.
Nachdem der Kellner sie an einen Tisch geführt hatte, und der Chef des Restaurants das Fräulein Laverne persönlich begrüßt hatte, bestellten sie. Es machte Spaß, alle Gerichte, die in französischer Sprache auf der Karte standen, zu kennen und auszusuchen. Als sie auf die Vorspeise warteten, entschuldigte sich Alexander, erhob sich und kam nach kurzer Zeit mit einem kleinen Strauß Maiglöckchen zurück, den er ihr überreichte. Er lächelte sie erwartungsvoll an. Es war das erste Mal, dass Natalja von einem Mann Blumen geschenkt bekam, und sie nahm sich vor, sie zwischen die Seiten ihres Tagebuchs zu pressen, als Erinnerung an diesen heutigen wunderbaren Abend. Und weil er so schön begann, wollte sie ihn nicht mit Fragen löchern, die ihm sicher unangenehm waren. Warum hast du dich nicht gemeldet, warum … Doch sie fragte nur eins: »Vor über zwei Jahren bist du in die Schweiz zu deiner Mutter gefahren, um mit ihr Weihnachten zu feiern, aber warst du so lange bei ihr? Was hast du dort gemacht? Warum hast du dich nie gemeldet?« Sie biss sich auf die Lippen. Sie wollte ihn doch nicht ausfragen, wenn er ihr etwas erzählen wollte, würde er es tun.
»Ich war nur einige Wochen bei meiner Mutter, anschließend in einem Sanatorium oberhalb des Vierwaldstätter Sees.«
»So lange? Zwei Jahre?«, platzte sie heraus.
Er überging ihre Frage. »Dann war ich noch in Berlin, aber bitte, Natalja, ich möchte nicht darüber sprechen. Nicht heute, nicht jetzt.«
Wann dann?, wollte sie schon fragen, doch als sich Alexanders Gesicht verschloss, schwieg sie. In ein Sanatorium ging man, wenn man sich nach einer Krankheit oder Operation erholen musste. Aber welche Krankheit?
»Du hast mir einmal gesagt, du bist sehr krank gewesen – und jetzt?« Wieder biss sie sich auf die Lippen.
Ein Schulterzucken von ihm, ein Schweigen, bis der Kellner kam und die Vorspeise servierte. Während des Essens erzählte sie ihm von Paris, von der Mona Lisa, vom Konservatorium und den jungen Frauen, doch von Mario Kröger sprach sie nicht. »Und warum bist du nicht dort geblieben?«
»Ich weiß nicht, einfach so, vielleicht Heimweh?« Sie versuchte, locker zu klingen, erzählte dann rasch, dass Professor Geiger ihr geraten hatte, im September dorthin zurückzukehren.
»Das musst du machen, Natalja, und zwar unbedingt. Nur mit Professor Geiger arbeiten, das reicht nicht. Du brauchst Mitschüler, den Wettbewerb, den Austausch, auch Stunden bei anderen Pädagogen.«
War sie enttäuscht, dass er nicht sagte, er würde sie vermissen, und sie solle doch hierbleiben, bei ihm? Als sie ihn ansah, erkannte sie, er wollte das Beste für sie, nur für sie. Nicht für sie beide. Keine Pläne, keine Aussage, wie lange er bleiben würde. Wäre er sowieso im September wieder weg? »Nun ja, ich kann es mir noch überlegen«, erklärte sie. Sie wurde unter seinen Blicken nervös, also erzählte sie von ihrem Großonkel, dem Abschied aus seinem Amt, von Felix, der oberhalb des Comer Sees einen Hof gekauft hatte. »Nein, gemietet«, verbesserte sie sich, »gekauft hat ihn sein Bruder.«
Alexander hörte zu, doch sie hatte gehofft, er würde von sich erzählen, endlich aus sich herausgehen. Als sie ihn beschwörend ansah, erkannte sie den unnatürlichen Glanz seiner blauen Augen.
»Ich weiß, dass du alles von mir wissen willst, aber bitte, ich kann nicht darüber sprechen. Wenn wir zusammen sind, möchte ich einfach nur die Zeit mit dir genießen. Bitte versteh mich.«
Und da beugte er sich über den Tisch und küsste sie. Es war ein zarter, wunderbarer Kuss.
»Ich habe mich in dich verliebt«, flüsterte sie, als er sich zurückzog, doch da legte er seinen Finger auf ihren Mund und verschloss ihn.
»Bitte sprich es nicht aus, bitte.« Seine Stimme klang fast flehend, sodass sie schwieg.
Als sie den Deutschen Kaiser verließen, sah sich Natalja um. Hatte jemand aus der Familie sie gesehen, würde man sie zu Hause ausfragen, alles wissen wollen, wie sie es eigentlich auch bei Alexander tat. Auf dem kurzen Weg bis zur Wandelhalle legte er den Arm um sie und zog sie an sich.
»Hast du heute auf mich gewartet, hast du gewusst, dass ich kommen würde?«
»Ich habe es mir gewünscht«, war seine Antwort. »Aber eigentlich hätte ich nicht so lange weggehen dürfen, ich hatte nur eine Stunde Ausgang.«
»Ausgang?«
»Ja, ich … wohne im Moment in der Klinik von Professor Lenhardt, vielleicht erinnerst du dich, ich war schon vor zwei Jahren dort. Jetzt muss ich mich beeilen, ich muss eine Infusion bekommen.«
»Bis morgen?« Sie sah ihn beschwörend an, und er nickte und sagte, ja, bis morgen. Er umarmte sie leicht, und als sie die Augen schloss und ihm das Gesicht entgegenhob, damit er sie noch einmal küssen sollte, berührte er kurz ihre Wangen mit seinen Lippen.
»Du sollst dich nicht in mich verlieben«, flüsterte er leise. »Bitte.« Dann wandte er sich ab und lief auf die Klinik von Professor Lenhardt zu.
Sie blieb stehen und sah ihm lange nach. Auch wenn ein Gefühl der Angst sie beschlich, waren es trotzdem sicher mit die schönsten Momente in ihrem Leben: die Stunden mit Alexander und der wunderbare Kuss.