Bad Lichtenberg
J ohannes kam zum Abendessen in die Villa. Frau Wöhler kam ihm entgegen, und während sie ihm aus dem Mantel half, erzählte sie, dass das gnädige Fräulein heute nicht zu Hause essen würde, sie träfe sich mit einer Freundin vom Theater. Johannes verbiss sich ein Lächeln, für Frau Wöhler war Victoria, die auf die fünfzig zuging, immer noch das »Fräulein«, da sie unverheiratet war. Bei Luise vermied sie die Anrede, denn letztendlich hatte es den Anschein, als sei sie bald Bürgermeisterin, also eine Respektsperson. »Und das Fräulein Natalja hat bereits gegessen und ist auf ihr Zimmer gegangen.«
»Ist gut, Frau Wöhler, danke, dann kann ja Wilma servieren.«
»Es gibt kalt«, erzählte Frau Wöhler noch bereitwillig. »Aber leider ist Herr Maxim Laverne auch nicht da, obwohl er doch Wilmas eingelegte Gurken so gern isst.«
Johannes nickte der Haushälterin freundlich zu und öffnete die Tür zum Speisezimmer. Überrascht blieb er stehen, dort am Tisch saß Elisabeth. Darauf war er nicht vorbereitet. »Guten Abend, Elisabeth«, sagte er steif und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
»Oma ist da«, erklärte Luitpold.
»Das sieht Onkel Johannes doch.« Viola schüttelte den Kopf.
»Ich bin vier Zentimeter gewachsen«, erzählte Luitpold stolz und sah erwartungsvoll Johannes an.
»Das ist ja wunderbar, gratuliere, pass auf, du wirst noch ein Riese werden.«
»Das will ich gar nicht«, erklärte er ernsthaft.
»Papa wird staunen, wenn wir ihn in den Sommerferien besuchen«, fügte Viola hinzu, die ihrem Bruder stolz über die Haare fuhr. Geschickt wich Luitpold ihr aus, er war schließlich jetzt ein großer Junge.
»Aber hoffentlich will Papa uns nicht behalten.« Luitpolds Sorge schien groß.
»Das kann euer Vater nicht mehr bestimmen, denn er hat mich zu eurem Vormund eingesetzt. Es bedeutet, die Entscheidungen treffe ich, nicht mehr euer Vater.«
»Das hat er getan?«, rief Elisabeth aus. »Mein Sohn hat dir die Vormundschaft übertragen, warum denn dir?«
»Ja, mir«, antwortete Johannes, verärgert über ihre Fassungslosigkeit. »Ich bin Anwalt, ich denke, das hat den Ausschlag gegeben.« Er hatte von Felix noch eine andere Vollmacht übertragen bekommen, nämlich Jette und Leopold für tot erklären zu lassen. Ich möchte ein neues Leben beginnen, und das genau hier, in meinem neuen Zuhause. Ich bin endlich wieder glücklich geworden.
»Ich denke, euer Vater freut sich sehr über euren Besuch, aber ihr kommt natürlich zum Schulbeginn wieder nach Hause.«
»Meinst du, Papa heiratet wieder?« Viola sah besorgt zu ihrer Oma hin.
Elisabeth dachte an das Foto, das Felix zeigte. Er lachte in die Kamera, und neben ihm stand eine junge dunkelhaarige Frau. »Das kann durchaus sein«, meinte sie vorsichtig.
»Bekommen wir dann eine neue Mutter?« Viola erschrak.
»Wir haben eine Mama«, erklärte Luitpold.
»Unsinn, sie ist tot«, fuhr Viola den kleinen Bruder an.
»Sie ist nur im Himmel, aber sie ist unsere Mama.« Zustimmung heischend wandte er sich an Johannes.
»Selbst wenn euer Vater wieder heiraten sollte, ist sie die zweite Frau eures Vaters, aber nicht eure Mutter.« Es war Elisabeth, die ruhig und bestimmt ihrem Enkel antwortete, der erleichtert aufatmete und sich eine der Gurken aus dem Glas fischte.
»Aber du erlaubst mir schon, dass ich einmal Schauspielerin werde?« Das beschäftigte Viola. Ihr Großonkel konnte also bestimmen, was sie machen durften.
»Erst machst du die Schule fertig und dann, ja, natürlich, wenn du begabt bist, kannst du auf eine Schauspielschule gehen.«
So ganz war das nicht in Violas Sinn. Sie hatte sich vorgestellt, nach Berlin zu fahren und dort, hübsch hergerichtet, einem Produzenten über den Weg zu laufen, der sie für den Film entdecken würde. Das hatte man jetzt doch schon öfter gehört, Produzenten entdeckten auf der Straße oder sonst irgendwo ein junges Mädchen, das dann Filmstar wurde. Aber Johannes’ Aussage klang ja schon mal ganz gut.
»Aber erst, wenn du das Abitur gemacht hast«, fügte Johannes jetzt hinzu.
»Das dauert doch noch ewig.« Violas Mundwinkel verzogen sich weinerlich.
»Johannes hat recht, erst Schule, dann kannst du dein Ziel angehen. Du bist sehr hübsch, aber als ernsthafte Schauspielerin brauchst du eine gute Ausbildung.«
Das sah Viola etwas anders, aber wenn sie auf die Schauspielschule ging, dann konnte es ja sein, dass sie dort für den Film entdeckt wurde.
Beim Essen stand Johannes auf und schenkte Elisabeth ein Glas Riesling ein. Sie bedankte sich, und er nahm ihr gegenüber wieder Platz.
»Wenn ich weiterhin wachse, kann ich einmal Torhüter werden«, erzählte Luitpold.
»Aber ich habe gehört, du bist ein so guter Stürmer und schießt viele Tore«, meinte Elisabeth. »Das wäre doch dann die richtige Position für dich.«
Da strahlte Luitpold. »Kommst du einmal zum Zuschauen?«, fragte er sie.
»Natürlich, gern.«
Da strahlte Luitpold noch mehr. »Keine Oma ist so hübsch und jung wie du«, erklärte er dann großmütig.
»Wie lange bleibst du?«, fragte Viola unsicher. Auch sie bewunderte ihre Großmutter, die eine so elegante Großstädterin war, und wirklich immer noch so schön. Wie Viola wusste, war sie nur zwei Jahre älter als Luise.
Da blickte Elisabeth zu Johannes, der nach seinem Glas griff und schwieg.
Die Kinder sahen jetzt auf ihn, da Elisabeth ihn beobachtete. Da er weiterhin schwieg, sprang Elisabeth plötzlich von ihrem Stuhl hoch. »Wie lange willst du noch warten?«, rief sie erregt aus.
Johannes sah sie verblüfft an. »Was meinst du denn?«
»Wann endlich sagst du mir, dass du mich liebst.«
Luitpold blieb der Mund offen stehen, und Viola machte große Augen und sah zwischen den beiden hin und her. Johannes presste die Lippen aufeinander.
Da lief Elisabeth um den Tisch herum und zog Johannes hoch.
»Ich bin alt, und du bist noch so jung, willst du mich wirklich einmal im Rollstuhl fahren müssen?«
»Gern«, rief Elisabeth aus. »Gern, wenn das wirklich sein sollte. Johannes«, rief sie aus. »Ich liebe dich. Wie oft muss ich es dir noch zeigen, dir sagen?«
Die Tür zum Speisezimmer stand einen Spalt offen, und auf der Treppe zur Küche im Souterrain blieb Wilma stehen, das Dienstmädchen kam dazu, dann der Gärtner, der in der Küche gegessen hatte, und Frau Wöhler. Sie standen dort und lauschten der Liebeserklärung von Elisabeth Laverne.
Wilma schüttelte den Kopf. »Mein Gott, so ein Dickkopf. Wann antwortet er denn endlich?«
»Ich liebe dich auch.« Endlich sprach er es aus, nach Jahren, in denen sie sich immer geliebt hatten und nicht zueinander stehen konnten.
Und da sahen Viola und Luitpold, wie ihre Großmutter den Großvater von Natalja umarmte und er sie küsste, als wollte er sie nie mehr loslassen.