Bad Lichtenberg
September 1948
J etzt war es »amtlich«. Luise war Bürgermeisterin, sie hatte die Wahl gewonnen. Nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 14 . September stand sie auf dem Platz vor dem Rathaus, umringt von Wählern, und nahm Glückwünsche entgegen.
Sie hatte sich auf ein neues Abenteuer eingelassen, und nun war es Realität geworden. Ab morgen bereits würde sie oben im ersten Stock des ehrwürdigen alten Rathauses hinter einem riesigen Schreibtisch sitzen und sich den Herausforderungen stellen müssen.
Große Aufgaben warteten auf sie. Während sie noch Hände schüttelte, hörte sie mit halbem Ohr, wie die Leute auch immer noch leidenschaftlich über die Währungsreform diskutierten. Die inflationäre Reichsmark gab es nicht mehr, eine neue DM war geboren. Manche waren dagegen, die meisten dafür, viele fragten sich, wie es mit dem neuen Geld weiterging.
Würde diese neue Währung Entscheidungen beeinflussen? Aber sie freute sich auf das Neue in ihrem Leben, neue Herausforderungen, war das nicht immer der Reiz ihres Lebens gewesen? Sie sah zu Johannes hinüber, der ihr lächelnd zunickte. Du hast es geschafft, so wie du alles im Leben geschafft hast. Hatte sie das? In der Liebe jedenfalls war sie gescheitert. Aber vielleicht wollte sie es nicht anders, wollte letztendlich immer frei sein, ungebunden. Sie lächelte ihrem Vater zu, der in seinem Alter auch einen Neuanfang gewagt hatte. Neben ihm stand Elisabeth, schön wie eh und je, sie lachten sich an, sie küssten sich vor allen Leuten, und jeder konnte ihr großes Glück erkennen. Nach so vielen Jahren lebten sie endlich ihre Liebe. Sie wollten auch heiraten, denn die Scheidung von Carl war ausgesprochen. Sie warfen sich also ganz in ein neues Leben.
Jetzt wurde Luise ein Glas Sekt in die Hand gedrückt, neben ihr stand ihr persönlicher Referent, Hendrik Piper, zwanzig Jahre jünger als sie und, wie sie wusste, hoffnungslos in sie verliebt. Er war hübsch und jung, und sie lächelte und prostete ihm zu. Auf gute Zusammenarbeit.
Dann suchte ihr Blick Victoria. Ihre Schwester stand ein wenig abseits, winkte Viola zu, die mit ihren Freundinnen zusammenstand und von ihren Ferien in Italien erzählte. Es hatte Luitpold und ihr sehr gut auf dem Hof gefallen, doch leben wollten sie hier, hier sei ihr Zuhause. Das hatten sie bereits, noch Kinder, ganz klar definiert. Sie hatten auch Julian in Rom besucht, hatten mit ihm im Petersdom einer Messe beigewohnt, das war das Erlebnis, das Luitpold am meisten beeindruckt hatte. Er wollte nun Priester werden, denn sein Onkel Julian, mit dem er auch in der Limousine des Vatikans fahren durfte, wurde zu seinem großen Vorbild.
Das Leben lag vor den beiden. Wie beneidenswert. Manchmal hatte Victoria das Gefühl, sie habe »ausgelebt«. Sie konnte sich doch freuen, Pläne für das Opernhaus machen. Und sie hatte ein entspanntes Jahr vor sich, denn die Bauarbeiten verzögerten sich, sodass die Wiedereröffnung erst für nächsten September geplant war. Sie hatte also Zeit, mit Marlies einen Spielplan zu entwickeln, junge Sänger zu engagieren, all das zu machen, was ihr doch Spaß machte. Es war ihr Neuanfang. Aber wo blieb die große Freude über ein neues Leben? Doch wenn sie ehrlich zu sich war, da gab es diese fatale Sehnsucht, die sie nicht zur Ruhe kommen ließ, die ihr die Freude am Neuen nahm. Der eine Moment, als Juri sie umarmt hatte, bevor er seinen Sohn nach Russland heimbrachte, ihn auf seiner letzten Reise begleitete, der hatte genügt, um die Gefühle der Vergangenheit aufleben, vielleicht sogar neu erstehen zu lassen. Aber das war bereits vier Monate her, und sie hatte nichts von ihm gehört. Er war gegangen – kam er jemals wieder zurück? Und es erschien ihr dumm, ihm nachzureisen, nach einem Konzert am Bühnenausgang unter vielen Verehrerinnen zu stehen und auf ihn zu warten. Was hatte sie sich nur bei diesem Plan gedacht? Sie würde die Konzertkarten verfallen lassen. Sie kramte nach einer Zigarette, doch dann steckte sie sie wieder ein. Sie sollte nicht so viel rauchen, sie war nicht mehr jung und sollte endlich anfangen, auf sich zu achten.
Sie sah zu Natalja hinüber. Sie trug die Haare streng nach hinten frisiert und meist hochgeschlossene Blusen oder leichte Pullis. Sie war erst siebzehn Jahre alt, und sie hatte einen ganz eigenen Stil entwickelt. Sie war erwachsen und selbstständig geworden. Das hatte Victoria doch immer gefördert. Übermorgen fuhr Natalja nach Paris, um ihr Studium am Konservatorium fortzusetzen. Sie würde bei dem Ehepaar Malraux leben, Freunde von Professor Geiger. Alles war gut. Oder doch nicht?
Auch für Natalja begann ein neuer Lebensabschnitt. Es war gut, wie es war, das sagte sich Victoria immer wieder vor. Es war gut für Natalja zu gehen, nicht hierzubleiben, an dem Ort, der sie an Alexander erinnerte, an dem sie sein Sterben miterlebte. Alexander, der junge Mann, in den sie sich so heftig verliebt hatte. Alexander, der ihr Halbbruder gewesen war.
Es war spät geworden, die Feier ging zu Ende, das Büfett wurde abgeräumt, die Schilder mit Luises Foto eingesammelt.
Johannes kam zu Victoria herüber. »Wir wollen noch oben in der Villa ein wenig weiterfeiern, kommst du?«