Leseprobe zu:
Katja Maybach
1930: Der 1. Weltkrieg ist überstanden, die Schwestern Luise und Victoria Laverne wagen einen Neuanfang, nachdem der Tod ihres geliebten Bruders Franz in der Schlacht an der Somme die Familie in eine tiefe Depression gestürzt hatte. Victoria geht gegen den Willen der Familie nach Berlin und feiert in der lebenshungrigen Hauptstadt erste Erfolge als Kostümbildnerin für Shows und Filme. Luise hingegen gelingt es, das Kurhotel Deutscher Kaiser nach dem schlimmen Brand allmählich aufzubauen, und ist endlich wieder verliebt – in einen jüdischen Architekten. Da immer mehr Angehörige der NSDAP in den Kurort kommen, um sich zu erholen, ist die Situation nicht einfach. Und plötzlich erscheint die sechzehnjährige Olga, Enkelin des Brandstifters, auf der Bildfläche. Sie will die Rachetat ihres Großvaters vollenden und die Familie Laverne zerstören...
Kurort Bad Lichtenberg
F lirrend fielen die Sonnenstrahlen eines Frühsommertags durch die Blätter der Birken, die die Allee säumten und an deren Ende man die alte Villa der Familie Laverne erkennen konnte. Julian sah hinauf, ging ein paar Schritte den Weg hoch, blieb stehen, kehrte dann um. Er hatte am Telefon eine spätere Ankunftszeit angegeben, also erwartete ihn noch niemand, und genau das war es, was er gewollt hatte. Keine Freudentränen seiner Mutter Elisabeth, wenn sie ihn am Bahnhof vor allen Leuten in die Arme schloss, und auch keinen Schulterschlag seines Vaters Carl, der ihm versicherte, es sei ohne Bedeutung, dass er zweimal durchs Abitur gerasselt war, bevor er es mit größter Mühe beim dritten Anlauf geschafft hatte, während sein Zwillingsbruder Felix bereits seit drei Jahren in München studierte. Diese emotionalen Szenen konnten noch warten.
Sein Gepäck hatte er schon vorausgeschickt, und so lief er schnell zurück auf die Hauptstraße, sah hoch zum Grand Hotel Deutscher Kaiser , dessen alleinige Besitzerin seine Cousine Luise war. Sein Blick blieb an dem legendären Westflügel hängen, der in seiner früheren Schönheit neu erstrahlte. Nach zwölf Jahren Wiederaufbau waren am Tag zuvor das Gerüst und die Planen endlich entfernt worden. Nun gehe es mit einem berühmten Architekten an die Innenausstattung, hatte sein Vater ihm am Telefon erzählt. »Du weißt ja, vier Jahre nach dem Krieg haben wir den Ostflügel mit der Halle und einigen Räumen wieder eröffnen können, aber der Westflügel ist der große Teil des Hotels, der vor dem Krieg den internationalen Ruf eines Luxushotels begründet hat. Hoffen wir, dass wir bald wieder zu den berühmten Hotels in Europa gehören werden.«
Julian musste lächeln. Sein Vater Carl identifizierte sich immer noch mit dem Hotel, an dem er Anteile besessen, die er aber vor einigen Jahren an Luise abgegeben hatte.
Julian überquerte die Straße und ging direkt ins Kurhaus mit seinem gewölbten Glasdach. Nur wenige Gäste standen in der Wandelhalle um die Brunnen herum und tranken gelangweilt das Heilwasser aus Bechern. Nichts schien geblieben von der Eleganz der Vergangenheit, als ein Pianist nebenan im Restaurant Palmengarten am Flügel leichte Melodien gespielt und die Kurgäste in der Wandelhalle aus geschliffenen Gläsern das Wasser getrunken hatten, gereicht von Kellnern im Frack. Die Damen waren damals in ihren Kreationen der Pariser Couturiers durch die Halle flaniert und hatten angeregt den neuesten Gesellschaftsklatsch ausgetauscht. Doch das war Vergangenheit, damals, als das Hotel noch Grand Hotel hieß, bevor es während des Großen Kriegs in Deutscher Kaiser umbenannt worden war. Julian blieb unentschlossen stehen und sah hinüber ins Restaurant mit den vielen Palmen und dem plätschernden Springbrunnen.
Auch hier schien es wie früher und doch anders – war es die Stimmung, das Fehlen der eleganten Gäste, die das Flair dieses Kurorts bestimmt hatten?
Das Leben ist Veränderung – dies war der Lieblingssatz seines Vaters Carl, der bei Julian Unbehagen auslöste. Wie würde sich sein Leben nach den Jahren im Internat verändern, was erwartete sein Vater von ihm, was erwartete er selbst? Er hatte keine Ahnung. Zögernd wandte er sich ab und ging in den »Exotenraum«. In der Mitte erhob sich der gläserne Pavillon, und um ihn herum war ein kleiner Garten angelegt, in dem zwei Pfaue auf und ab stolzierten. Auch hier schien alles wie früher zu sein, die exotischen Vögel tummelten sich im Pavillon, zwitscherten, krächzten, stritten sich.
»Wenn du den blauen Papagei suchst – er ist gestorben.«
Überrascht drehte sich Julian um. Hinter ihm stand eine sehr junge Frau, deren graue Augen ihn forschend betrachteten.
»Kennen wir uns?« Julian war verlegen, weil sie ihn einfach duzte.
»Ich bin Olga«, betonte sie, während der Blick ihrer grauen Augen ihn nicht losließ.
»Tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht an dich.«
»Du und dein Bruder, ihr wart die frechen Jungs, die mich immer geärgert haben. Am Bahnhof. Ihr wart beide Pfadfinder«, half sie ihm auf die Sprünge.
Langsam dämmerte es Julian. »Ja, jetzt erinnere ich mich!« Seine Verlegenheit löste sich in einem Lachen auf. »Aber ich erinnere mich auch, dass du angefangen hast, uns zu ärgern. Du hast uns provoziert, wir haben nur reagiert. Wir waren noch Kinder«, setzte er hinzu.
Sie hob die Schultern, ließ sie langsam wieder sinken, auf Julian wirkte es ein wenig überheblich. Mit der einen Hand zeigte sie hoch zu den Vögeln. »Dort, siehst du den roten Papagei? Der ist neu.«
»Aber soweit ich mich erinnere, war der blaue besonders schön.«
»Ja, das stimmt. Er war ein Hyazinth-Ara , eigentlich hätte er fünfzig Jahre alt werden können.« Tiefes Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. »Und siehst du den gelben auf dem Baum dort hinten? Das ist ein Anodorhynchus. «
»Woher weißt du das alles?« Julian kam aus dem Staunen nicht heraus.
»Halt so, jeder weiß das«, erklärte sie, während sie die Augenbraue hochzog und ihn weiterhin ansah. Ihr Blick ließ ihn nicht los.
»Kommst du oft hierher?« Er biss sich auf die Lippen. Fiel ihm nichts Besseres ein?
War es leichter Spott, der in ihren grauen Augen aufblitzte? Er fühlte sich unbehaglich. Trotzdem blieb er stehen und beobachtete sie, wie sie in einer anmutigen Bewegung den Kopf nach oben wandte und offenbar fasziniert die Papageien beobachtete. Wie würde es sein, diesen zarten Hals zu küssen? Julian wurde bei dem Gedanken heiß, es machte ihn noch verlegener, und doch sah er sie weiterhin verstohlen an. Letztendlich hatte sie auf seine Frage noch nicht geantwortet.
Sie hatte ein schmales Gesicht mit auffallend hohen Wangenknochen, die blonden Haare waren streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Sie war nicht wirklich schön oder hübsch, doch diese großen grauen Augen, die sich ihm wieder kühl und abschätzend zuwandten, zogen Julian in ihren Bann. Er konnte nicht anders, er starrte sie weiterhin an.
Plötzlich lächelte sie. »Nun?«, fragte sie herausfordernd, »gefällt dir, was du siehst?«
Sie provozierte ihn, da sie seine Unsicherheit spürte, und das machte ihn wütend, aber auch wehrlos. »Ich habe mir überlegt, wie alt du bist.«
»Und? Was glaubst du?«
Ich weiß nicht.« Julian zog die Schultern hoch. Er kannte sich mit Mädchen nicht aus. »Vierzehn?«
»Du bist ja ziemlich ungeschickt«, meinte sie. »Nein, ich bin sechzehn.«
»Es tut mir leid«, murmelte Julian und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht flutete.
»Na ja, in zehn Jahren werde ich mich freuen, wenn man mich jünger einschätzt«, erklärte sie mit sehr erwachsener Arroganz, wie Julian fand.
Dann wandte sie sich zum Gehen. »Ach übrigens, um deine Frage zu beantworten: Ja, ich komme öfter hierher. Man sieht sich«, erklärte sie mit einer unbestimmten Handbewegung, und schon war sie weg.
Er wollte ihr nachlaufen, doch dann blieb er stehen.
Olga. Natürlich, wieso war ihm das nicht gleich eingefallen. Das war nicht nur das vierjährige Mädchen gewesen, das an den Bahnhof kam, ihn und seinen Zwillingsbruder Felix so lange provozierte, bis sie das Mädchen wiederum ärgerten, sondern sie war die Enkelin des Mannes, der das Hotel Deutscher Kaiser im November 1918 in Brand gesteckt hatte. Damals war Olgas Großvater noch am Morgen in das Gefängnis nach Karlsruhe gebracht worden. Es hieß, er beschimpfe die Wärter, stieße Flüche gegen die Familie Laverne aus, diese Verbrecher, denen man ihr Hab und Gut wegnehmen oder vernichten sollte. Seine kleine Enkelin war am Vormittag abgeholt und in ein Waisenhaus gebracht worden. Das war offenbar der Auslöser seiner furchtbaren Tat gewesen. Niemand wusste, was damals aus der Kleinen geworden war, es wurde nicht bekannt und interessierte auch niemanden. Jetzt aber schien sie zurück zu sein, vielleicht sogar überzeugt, ihr Großvater habe richtig gehandelt? War er Kommunist gewesen, oder hatte sich der Hass gezielt auf die Familie Laverne gerichtet? Nach einigem Zögern lief Julian ihr nach, sah sich um, doch das junge Mädchen war verschwunden.
Olga hatte seine Gedanken durcheinandergebracht, die Gelassenheit, die ruhige Freude, die er bei der Ankunft verspürt hatte, waren wie weggeblasen.
Aber dann wurde er abgelenkt. Voller Erstaunen beobachtete er, wie immer mehr Menschen in Richtung Deutscher Kaiser liefen, und plötzlich war er mittendrin. Er ließ sich treiben, sah sich um, bis er merkte, dass er in eine Demonstration geraten war. Vor dem Hotel hielten Menschen Schilder mit der Aufschrift hoch:
Wer Geld von unseren Feinden annimmt, ist ein Verräter
Amerikaner kaufen unser Land auf
Nieder mit denen, die ihr Geld annehmen
So skandierten sie gemeinsam im Chor.
Julian erschrak. Die Demonstration richtete sich gegen seine Cousine Luise, der es gelungen war, amerikanische Investoren für den Aufbau des Westflügels zu gewinnen.
Nieder mit den amerikanischen Investoren, nieder mit …
Aggression und Wut steigerten sich, die Leute drängten nach vorne, einige fielen hin, andere ballten die Fäuste, hoben sie in Richtung des Deutschen Kaisers. Jetzt rückte die Polizei an, einige Beamten sogar hoch zu Ross, sie verteilten sich und mahnten die Leute mit einem Sprachrohr, sich ruhig zu verhalten. In diesem Moment erschien Julians Cousine Luise mit Julians Vater Carl vor dem Hotel. Sie stieg auf ein Podest, das man hastig herbeigeholt hatte, hob die Hände, und als die lauten Rufe endlich in ein Gemurmel verebbten, bedankte sie sich für die eingekehrte Ruhe und schlug den Demonstranten vor, Fragen zu stellen, die sie und ihr Onkel Carl Laverne beantworten würden. Julian sah zu ihr hoch. Schon als Kind hatte er seine schöne Cousine bewundert, die bereits mit fünfundzwanzig Jahren die Leitung des Familienhotels übernommen hatte und bald darauf Direktorin wurde. Jetzt hatte sie die große Chance erkannt, mit amerikanischen Investoren aus dem Deutschen Kaiser ein europäisches Luxushotel entstehen zu lassen. Und diese Chance hatte sie ergriffen. Julian wartete noch einen kurzen Moment, drängelte sich dann aber durch die Menschen zurück bis zum Palmengarten.
»Wissen Sie, warum gegen Investoren demonstriert wird?«, wandte er sich an einen Kellner, der als Zuschauer neben ihm stand.
»Das sieht und hört man doch«, war die erstaunte Antwort des Kellners. »Gestern wurde das Gerüst um den Westflügel abgebaut, und erst jetzt erkennt man, was das für ein luxuriöser Palast geworden ist, alles finanziert von Ausländern. Plötzlich gehört dann der ganze Ort den Amerikanern oder den Russen. Wie man sagt, ist der Ostflügel vor acht Jahren mit russischem Geld renoviert worden.«
»So ein Unsinn, was erzählen die Leute da«, entrüstete sich Julian. »Mein Onkel Johannes Laverne hat die Wohnung seiner verstorbenen Schwester in Berlin verkauft, um diese große Renovierung am Hotel finanzieren zu können. Der Käufer war nur zufällig ein Russe.«
»Na ja, sag ich doch«, erklärte der Kellner ungerührt, wandte sich ab und ging zurück in den Palmengarten.
Julian schüttelte nur den Kopf, beobachtete dann wieder Luise, die laut in die Menge rief, sie freue sich auf die Fragen, könne aber vorab schon sagen, dass dieser Ort ohne Investitionen weiterhin nur ein verschlafener kleiner Kurflecken blieb, in den allmählich überhaupt keine Gäste mehr kommen würden, da sie lieber nach Baden-Baden führen. »Wollt ihr das?«, rief sie in die Menge.
Die Leute zögerten jetzt, zuckten mit den Schultern und sahen sich gegenseitig unsicher an.
»Alle Hotels hier im Ort werden schließen müssen. Wir brauchen Geld, auch für den Aufbau unseres Barocktheaters. Und wo bekommen wir es her? Doch nur durch ausländische Investoren.«
Julian war stolz auf seine schöne Cousine und freute sich schon auf den Abend. Sie hatte versprochen, bei seinem Willkommensessen in der Villa dabei zu sein, denn Luise wohnte im Hotel in einer eigenen Suite. Nur schade, dass seine Cousine Victoria in Berlin lebte. Nach dem Krieg, kurz nachdem das Hotel in Flammen aufgegangen war, gab es diesen Bruch zwischen ihr und der Familie. Ihre Mutter Irene hatte geklagt, dass Victoria einfach nach Berlin gegangen sei, um sich zu amüsieren und nicht mit der Familie um den gefallenen Bruder Franz zu trauern, sie habe sie im Stich gelassen. Auch Luise war verletzt gewesen, dass die Schwester nach der Brandkatastrophe gegangen war.
Nach diesem Bruch gab es kein Zurück mehr, die Familie blieb zerstritten. Julian wartete noch, doch offenbar löste sich die Demonstration jetzt in friedlichen Diskussionen auf. So wandte er sich erleichtert ab. Dann aber sah er, dass sich eine kleine Gruppe herauslöste, die die Faust hob und skandierte: Rechte der Armen, Pflichten der Reichen! Johlend versuchten sie, weiterhin Unruhe zu stiften. Nehmt den Lavernes ihr Vermögen weg … Umverteilung des Eigentums! schrien sie jetzt.
Doch da trieben Polizisten die Leute energisch auseinander. Während er sich bereits abwandte, entdeckte Julian in dieser kleinen Gruppe Olga.
Er zögerte – sollte er auf sie zugehen, sie fragen, ob sie wirklich Kommunistin sei? Was hatte sie dazu gebracht? Doch dann riss er sich los und hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen. Mit großen Schritten lief er die Birkenallee hoch.
Berlin
I n der ersten Dämmerung des Tags erloschen die grellen Leuchtreklamen der Cafés, Varietés, Tanzpaläste und Theater. Auf den Straßen tummelten sich die Nachtschwärmer, die in einem der vielen Cafés am Kurfürstendamm die durchfeierte Nacht mit einem letzten Glas ausklingen lassen wollten.
Victoria Laverne beeilte sich. Sie wollte nach Hause, nachdem sie sich wieder einmal hatte überreden lassen, die Nacht mit dem ganzen Ensemble durchzufeiern. Aber es gab einen Grund: Die Premiere in Teklas kleinem Tanzpalast war ein großer Erfolg gewesen, auch für sie, deren Kostümentwürfe ebenfalls sehr beklatscht wurden.
Sie ärgerte sich über sich selbst, da sie kein Ende hatte finden können und sich übermüdet von zu vielen Zigaretten und Alkohol erst in den Morgenstunden verabschiedet hatte. Aber es war nett gewesen, das musste sie zugeben.
Alle waren betrunken gewesen, fielen sich um den Hals, weinten oder lachten und erklärten Victoria, wie schade es sei, dass sie nicht mehr oben im Theater mit ihnen wohne, sie habe doch gewissermaßen zur Familie gehört. »Aber das ist doch Jahre her«, hatte sie protestiert. »Ja, schon«, seufzte der Choreograf, »aber es war so nett mit dir, du warst so naiv, als du vom Land zu uns gekommen bist.«
Naiv. Jetzt lachte Victoria, als sie unterwegs daran dachte.
Sie war nicht vom Land, sondern in einem eleganten Kurort aufgewachsen. Sie hatte zwei Männer geliebt, einer verließ sie, der andere beging während des Kriegs Selbstmord. Und ihr Bruder Franz war in den letzten Kriegstagen an der Westfront gefallen. Sie hatte also mehr erlebt als die meisten der Ensemble-Mitglieder. Alle hatten heute Nacht in Erinnerungen geschwelgt und auch gelacht, als sie immer wieder erzählten, wie Victoria damals mit zwei Koffern plötzlich im Theater gestanden und Tekla das junge Mädchen vergessen hatte, dem sie einen Vertrag als Kostümbildnerin angeboten hatte. Damals hatte Victoria noch keine Ahnung davon, dass Tekla viel versprach und noch weniger hielt. Aber Tekla, eine Frau der schnellen Entschlüsse, bot Victoria an, im Theater zu wohnen und ab sofort die Kostüme zu entwerfen. Victoria war außer sich vor Freude gewesen, denn da hatte sie noch nicht gewusst, dass sie ihre Entwürfe an einer kleinen alten Nähmaschine selbst herstellen musste. Doch Victoria blieb. Es gefiel ihr; sie hatte die Koffer ausgepackt und war in eine kleine Kammer im zweiten Stock des Theaters gezogen. Vier Jahre wohnte sie dort, zusammen mit Tekla und ihrem Mann, einigen Tänzerinnen, dem Choreografen, dem Bühnenbildner und auch mit Mario, dem Pianisten. Sie alle lebten in den oberen Räumen von Teklas kleinem Tanzpalast , aßen zusammen, probten zusammen, feierten zusammen, machten die Nächte in Berlin unsicher, und manche schliefen miteinander. Das tat Victoria mit Mario, dem Pianisten, er gefiel ihr, vielleicht auch nur, weil er gut Klavier spielen konnte? Es waren aufregende vier Jahre gewesen, die sie dort gelebt hatte, vielleicht bis jetzt ihre beste Zeit in Berlin. Man konnte nie wissen.
Aber dann hatte sie sich von Mario getrennt und war ausgezogen. Für sie kamen die Jahre, in denen sie als Kostümbildnerin bekannt und in den Kritiken gefeiert wurde. Sie gab immer ihr Bestes, und längst gab es im Theater ein Atelier, in dem zwei Schneiderinnen Victorias Entwürfe nähten.
Bevor sie jetzt vom Kurfürstendamm abbog, stellte sich ihr ein Mann in den Weg, murmelte ein paar Worte und griff in seine Tasche. Victoria war ihm schon oft begegnet, er war Schriftsteller, ließ sich von seinem Arzt Rezepte für Drogen gegen Schmerzen verschreiben, die er dann nachts auf dem Kurfürstendamm verkaufte.
»Ein bisschen Kokain gefällig?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Carl, du weißt doch, dass ich nichts nehme.« Sie lächelte ihn kurz an und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
In der Pariser Straße stieg sie in den Aufzug und fuhr nach oben in ihre Wohnung. Rechts war der Eingang zu Sergej, dem Russen, links die Tür zu ihrer kleinen Wohnung. Sergej, dem in Berlin Bars und Restaurants gehörten, hatte vor acht Jahren diese Wohnung der Lavernes gekauft, die sich über die ganze dritte Etage zog. Doch Victorias Vater hatte durchgesetzt, dass ein kleiner Teil abgegrenzt und zu einer eigenen Wohnung umgebaut wurde. Anschließend durfte Victoria dann hier einziehen. Das hatte ihr Vater Johannes möglich gemacht. Und doch fand sie den Weg nicht mehr zurück zur Familie.
In der Wohnung schleuderte sie ihre hohen Schuhe von den schmerzenden Füßen, ging zum Fenster und öffnete es weit. Ein schöner Sommermorgen, noch ein wenig kühl, drang herein, verbunden mit dem Duft der blühenden Linden. Tief sog sie die Luft ein. Jetzt aber, nach dieser lauten und schrillen Nacht, dem frenetischen Beifall und den hektischen Proben der letzten Wochen, überfiel sie Stille. Kaum zu ertragen, obwohl Ruhe doch genau das gewesen war, wonach sich Victoria gesehnt hatte. Wollte sie keine Ruhe, brauchte sie die hektische Großstadt? War sie eine Berlinerin geworden?
Die Stadt hatte ihr vor elf Jahren die Arme weit geöffnet, und sie hatte sich hineingestürzt. Inzwischen kannte sie tout Berlin. Jede neue Show, jedes Theater, jeden kleinen Dealer, jeden Transvestiten. Doch sie kannte auch die andere Seite der Stadt: die Demonstrationen der Arbeitslosen, Aufmärsche der neuen Partei NSDAP , sie sah die Kriegsversehrten, die am Straßenrand kauerten und bettelten. Jedes Mal ergriff sie das schlechte Gewissen, wenn sie aus der glitzernden Welt des Theaters kam, wo Hysterien, Eifersucht und Intrigen herrschten, in der ein verstauchter Fuß der Solotänzerin eine Tragödie darstellte. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, beim Anblick »der anderen Seite« der Stadt fast zu ersticken. Und doch blieb sie.
Sie sollte jetzt einfach schlafen, und so zog sie sich aus und warf sich einfach aufs Bett. Aber trotz ihrer bleiernen Müdigkeit fand sie keinen Schlaf.
Victoria spürte das Ziehen im Nacken, den pochenden Kopfschmerz, verursacht durch kalten Rauch und Erschöpfung. Sie befand sich in einem Zustand der Müdigkeit und gleichzeitig flirrender Wachheit. Sie schloss die Augen und atmete den Duft der blühenden Linden ein, deren Äste bis herauf in den dritten Stock reichten. Und schon war sie da, die Erinnerung an das Jahr 1914 , an die Leichtigkeit dieses Sommers, in dem noch niemand wirklich an einen Krieg glauben wollte. Mit geschlossenen Augen sah sie sich wieder in der Wiese liegen, im hohen Gras zwischen blühenden Mohnblumen, Margeriten und Zittergras. Hier hatte sie mit Juri gelegen, hier hatte er sie zum ersten Mal geküsst und Zärtlichkeiten mit ihr ausgetauscht. Es waren Momente gewesen, in denen sie dachte, dieser Sommer würde nie zu Ende gehen. Sie war sechzehn Jahre jung, und das Leben hatte doch gerade erst angefangen, als der Krieg ausbrach und Juri ohne Abschied ging. Er, der am Flügel im Palmengarten für sie den Liebestraum von Liszt gespielt hatte. Er war zwanzig Jahre alt gewesen und auf dem Weg, ein großer Pianist zu werden. Nie mehr hatte ein Mann so wunderbar Klavier gespielt, nie mehr ihre Gefühle so sehr berührt wie Juri, der ohne Vorwarnung und ohne Abschied gegangen war.
Viele Jahre später hatte sie endlich begriffen: Er war einberufen worden, um für sein Vaterland zu kämpfen. Hatte er gegen Deutschland im Feld gestanden, war er sogar gefallen? Als im Oktober des Jahres 1917 die Nachricht um die Welt ging, in Russland gäbe es eine Revolution, die blutig niedergeschlagen wurde, kreisten ihre Gedanken nur um Juri. Lebte er noch? Sie hatte ihn geliebt, mit der ganzen Kraft ihrer unverbrauchten, gerade erwachten Gefühle, mit ihrer Sehnsucht, mit der Erkenntnis, das musste das Glück sein, über das Dichter und Schriftsteller schrieben, ein Glück, immer verbunden mit Sommer, den duftenden Wiesen, den hügeligen Weinbergen.
Und da spürte sie, dass sie weinte und von schmerzhaftem Heimweh erfasst wurde. Auch jetzt war Sommer, jetzt standen sicher die Birken entlang der Allee in frischem Grün. Und wenn man hochsah, erkannte man zwischen den Bäumen die alte Villa mit ihrem Türmchen und dem Park und … ja, den Erinnerungen an ihren Bruder Franz und an Luise. An die verlorene Kindheit, als sie zu dritt hinunterliefen zur Kurhalle, um sich die Vögel im gläsernen Pavillon anzusehen. Sie hatten gelacht, und Franz, der Älteste von ihnen, hatte sie die drei Musketiere genannt, da er diesen Roman gerade gelesen hatte. Das Leben damals war sorglos gewesen, jeder Tag barg eine neue Aufregung in sich, und sie alle freuten sich auf die Zukunft.
Das Gefühl des Heimwehs wuchs und wurde zur brennenden Sehnsucht.
Doch als sie nach zwölf Stunden bleiernem Schlaf langsam die Augen öffnete, war diese Stimmung schwächer geworden, verlor sich mit jedem Atemzug mehr. Sie hatte hier in Berlin einen Vertrag zu erfüllen.
Aber dann traf sie die Entscheidung: Am 7 . September würde sie den Weg nach Hause finden, um sich zu versöhnen. Das Leben ging so schnell vorbei, und die Zeit, die sie bereits mit der Familie im Streit lag, war einfach zu lang.
Am 7 . September stellte sich ihr Onkel Carl zur Wahl zum Oberbürgermeister des Kurorts. War das nicht ein Grund, endlich die Spannungen beizulegen? Ihre Familie kam ihr nicht entgegen, also sollte sie jeden falschen Stolz vergessen, selbst die Initiative ergreifen und am 7 . September nach Hause fahren. Sie kam der Familie entgegen, signalisierte, es sei Zeit für eine endgültige Versöhnung. Manchmal schrieben Luise und sie sich kurze Briefe, aber niemand aus der Familie hatte Victoria jemals besucht. Und sie war ebenso wenig nach Hause gefahren. Letztendlich hatten sie ihr nicht wirklich verziehen, dass sie damals nach Berlin gegangen war, ohne Rücksicht auf die Katastrophe, in der sich die Familie befand. Sie sei egoistisch, denke nur an sich – waren das nicht die Worte ihrer Mutter gewesen? Aber das Heimweh wuchs und wurde zum festen Bestandteil ihrer Gefühle.
Drei Tage später fand die Vorbesprechung für die nächste Show statt. Sie saßen bei Tekla in der Küche, dem größten Raum in ihrer Wohnung. Teklas Ehemann saß am Tisch, Unterlagen vor sich ausgebreitet und wie immer mit sorgenvollem Stirnrunzeln, wenn seine Frau von wichtigen finanziellen Investitionen sprach. Um den Tisch herum saßen der Choreograf, der Bühnenbildner und auch ein neuer Bühnenautor. Er sei berühmt und koste viel, also müsse Victoria an der Ausstattung sparen.
»Die Tänzerinnen sind ja sowieso fast nackt«, erklärte der Autor, »ich verstehe nicht, warum die Ausstattung so teuer sein soll. Die Geschichte, die dahintersteckt, ist das Wichtige.«
[...]